Vestalis

Aus Theoria Romana
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Die Vestalinnen waren kein Priesterkollegium, sondern galten als eine Summe von Einzelpriesterinnen der Vesta von zunächst vier, dann sechs (pro urspr. Tribus zwei) Mitgliedern. Sie bildeten zusammen mit den Pontifices, den Flamines und dem Rex Sacrorum das collegium pontificum *1). Ihre ursprüngliche Bezeichnung lautete sacerdos Vestalis, doch wurde eine Vestalin gemeinhin virgo Vestalis (Vestalische Jungfrau) genannt. Dem Gremium stand die virgo Vestalis maxima (Obervestalin) vor.

Die Wahl einer Vestalin

Voraussetzungen zur Wahl

Die auserwählten Mädchen mussten ursprünglich zwischen sechs und zehn Jahre alt sein (Gell. 1, 12, 1.). Weitere Voraussetzung war körperliche Gesundheit (Gell. 1, 12, 3.), lebende (Gell. 1, 12, 2.), freigeborene Eltern, die einem ehrbaren Beruf nachgingen (Gell. 1, 12, 4.), sowie eine Geburt innerhalb Italias. Weder sie noch ihr Vater durften emanzipiert sein (Gell. 1, 12, 4.). Unter Augustus wurden diese Regelungen aufgeweicht, indem auch Freigelassene zugelassen wurden.

Befreiung von der Wahl

Prinzipiell hatte jedes Mädchen, das die oben genannten Voraussetzungen erfüllte, eine eventuelle Wahl anzunehmen. Ausnahmen (Gell. 1,12, 6-7.): Die Schwestern der Vestalin, die Tochter eines Flamen, eines Auguren, eines Quindecimvir, eines Septemvir, eines Salier oder eines Tubicen sacrorum, sowie die Braut eines Pontifex und ebenso die Tochter eines Paares, welches das ius trium liberorum erlangt hatte (Gell. 1, 12, 8.).

Der Wahlmodus

Wurde eine Stelle frei, erwählte der Pontifex Maximus 20 Mädchen, die die Voraussetzungen erfüllten, von denen schließlich eine per Losverfahren *2) (in contione) ermittelt wurde (vermutlich, weil viele Väter ihre Töchter nicht aus der patria potestas geben wollten). Erklärte sich jedoch ein ehrenhafter Vater freiwillig bereit, seine Tochter den Vestalinnen zu überlassen, scheint auf ein derartiges Verfahren verzichtet worden zu sein. Kaiser Augustus bedauerte, dass sich immer weniger Mädchen freiwillig für den Dienst an der Göttin fanden.

Das Ritual

Die Einführung wurde als captio (Ergreifung) bezeichnet und stellte dem Recht gemäss eigentlich einen Raub des Pontifex Maximus dar: Dieser ergriff die Hand des Mädchens mit den Worten: "Sacerdotem Vestalem quae Sacra faciat quae Ious siet Sacerdotem Vestalem facere pro populo Romano Quiritium utei quae optima lege fovit ita te Amata capio" (Es wird nirgends aufgeführt, wo die Ergreifung stattfand). Anschließend wurde der Anwärterin das Haar geschnitten und an der arbor capillata, einem Lotusbaum, aufgehängt (Plin.nat. 16, 235; Paul. Fest. p. 50 L.). Weiter wurde sie feierlich in ihre Vestalinnentracht eingekleidet und zu ihren Ehren eine Antrittsspeisung (cena aditialis) abgehalten (vgl. Martini, Carattere 477 ff). Sodann wurde die Vestalin ins Atrium Vestae geführt, wo sie für die nächsten 30 Jahre zusammen mit den anderen Vestalinnen wohnte.

Privatrechtliche Folgen der Wahl

Mit der captio wird die Vestalin der väterlichen Gewalt (patria potestas) enthoben - und zwar ohne den offiziellen Akt der Entlassung (emancipatio) oder einer Änderung des Familienstandes (capitis deminutio minima) - und wird zu unabhängigen Person (sui iuris) (Gell. 1, 12, 9; vgl. auch Gai. inst. 1, 120; Ulp. 10, 5.). Das Ausbleiben der capitis deminutio minima bedeutet, dass die Vestalin aus ihrer Familie austritt, ohne in eine andere überzuwechseln oder eine neue zu gründen. Sie ist nicht mehr Mitglied ihrer agnatischen Familie, gelangt aber auch nicht in einen neuen Familienverband wie bei einer Heirat (cum manu), noch wird sie zum Oberhaupt einer eigenen Familie, wie dies bei den Flamen Dialis der Fall ist. *3)

Mit dem Ausscheiden der Vestalin aus ihrer Herkunftsfamilie verliert sie die Möglichkeit, ohne Testament ein Erbe anzutreten oder weiterzugeben. Sie gelangt aber das lus testamenti faciundi, das den Erbgang mit Testament ermöglichte; stirbt eine Vestalin ohne letzten Willen, erbt der Staat. Im Gegensatz zu anderen Frauen kann die Vestalin Güter unbegrenzten Wertes vererben und selbst Legate unbegrenzten Wertes erhalten. *4)

Sie untersteht auch nicht der tutela mulieris, hat also keinen Vormund und kann nach eigenem Gutdünken über ihr persönliches Vermögen verfügen (Gai. inst 1, 145.). Alle diese Bestimmungen sind bereits in den Zwölftafelgesetzen enthalten.

Leben und Aufgaben der Vestalinnen

Die Neuhinzugekommenen wurden als Amata bezeichnet und wohnten forthin im Atrium Vestae. Der Kult verlangte von ihnen dreißig Jahre lang strengste Disziplin und Askese, so auch die Bewahrung der Jungfräulichkeit. Verstösse gegen das Keuschheitsgelübde wurden als prodigium (Untat) angezeigt und nach altem Gesetz durch das Begraben bei lebendigem Leibe (bzw. einmauern) oder den Sturz vom Tarpeischen Felsen geahndet. Zehn Jahre verbrachten sie in Ausbildung, zehn in ihrer Kulttätigkeit und zehn im Unterricht.

Ihre Aufgabe war der Vollzug des Vestakultes in Rom. Ihre Hauptpflicht war das Schüren des heiligen Feuers, das im Tempel der Vesta auf dem Forum Romanum glomm und als Symbol für die Lebendigkeit der Stadt verehrt wurde. Erlosch das Feuer, wurde dies als schlimmstes prodigium gewertet, das die Auslöschung des Staates anzeigte: Die verantwortliche Vestalin wurde vom Pontifex Maximus gegeißelt und das Feuer musste in einer aufwändigen Zeremonie wieder entzündet werden. Außerdem hatten sie das Heiligtum jeden Morgen mit Wasser zu besprengen, das sie selbst aus einer Quelle holen mussten, sowie regelmäßig der Vesta zu opfern.

Besondere Tätigkeiten gab es an bestimmten Festen und für bestimmte Götten mit bestimmten Priestern. Sie vollzogen den im Vestatempel eingerichteten Kult der staatlichen Penaten und beaufsichtigten geheimnisvolle Kultgegenstände, die niemand betrachten durfte und angeblich das Fortbestehen des Menschengeschlechts gewährleisten sollten. Auch das Wasser für den Tempel holten sie selbst.

Ihre Tracht (sie war üblich, aber nicht vorgeschrieben) bestand aus einer stola, darüber einem Leinengewand, Infulae (rot-weiße Wollbänder) und Vittae, sowie ein suffibulum (ein weißer Schleier). Ansonsten wurden sie angehalten, auf jeglichen Schmuck und jegliche Schminke zu verzichten. Außerdem scheint es, dass ihre Haare regelmäßig geschnitten wurden (sie werden nie mit langem Haar gezeigt).

Die Vestalinnen wohnten im atrium Vestae gleich neben dem Vestatempel. Das Gebäude war rechteckig und seine Räume gruppierten sich um einen geräumigen Innenhof. Dort befanden sich drei grosse Teiche und Ehrenstatuen ehemaliger Kollegiumsmitglieder. Augustus stellte es ihnen als Pontifex Maximus zur Verfügung. 64 n.Chr. fiel das Gebäude dem großen Brand von Rom zum Opfer, wurde jedoch noch unter Nero wieder aufgebaut. Die archäologisch erschlossene Fassung stammt aus der Zeit der Severer. Das Gebäude durfte sonst von niemandem betreten werden und wurde nur während des Festes der Vestalia im Juni für Frauen, die an den Kulthandlungen teilnahmen, geöffnet.

Vorrechte

Da sie für das Wohl des gesamten römischen Volkes wirkten nahmen die Vestalinnen eine besondere rechtliche Stellung ein. Sie waren schon alleine deshalb etwas Besonderes, da sie weiblich waren. Selbst die Kulte der Carmenta, Ceres, Flora oder Pomona wurden durch Männer vollzogen. Jeder Verurteilte konnte durch eine Vestalin, wenn sie ihm begegnete, begnadigt werden. Die Liktoren der Stadtmagistrate senkten vor ihnen die Rutenbündel. Bei Ausgängen in die Stadt konnten sie auf einen eigenen Liktor zurückgreifen. Außerdem war es ihnen erlaubt, bei Tag mit einem offenen, vierrädrigen Wagen (pilentum) durch Rom zu fahren, sowie im Theater Ehrenplätze einzunehmen. Neben diesen Ehrenrechten kam der Staat für ihren Unterhalt auf und man übergab ihnen Testamente und wichtige Verträge. Sie bildeten durch Kraft und Reinheit das Spiegelbild ihrer Göttin. Wurde eine Vestalin krank, so pflegte man sie außerhalb des Heiligtums gesund.

Außerdem unterstanden sie nicht mehr der Patria potestas ihres Vaters, sondern konnten selbst Eigentum haben, problemlos vor Gericht klagen und sogar Testamente aufsetzen (was Frauen nach dem römischen Recht sonst verboten war).

Obwohl der Dienst sehr streng war, gab es dennoch Platz für Geselligkeit und Vergnügen im kleinen Rahmen. Beweis hierfür ist ein Relief aus claudischer Zeit, das die Priesterinnen bei einem Gelage mit gemeinsamen Mahl zeigt.

Nach dem Ende ihres langjährigen Dienstes konnten sie zwischen dem Verbleib in der Kultgemeinschaft oder der Entlassung in das Zivilleben (das damit auch das Heiratsrecht mit einschloss) wählen. Die meisten verblieben nach den dreissig Jahren aber im Dienst der Göttin.


Literatur:
William Ramsay: Art. Vestales, in: Smith: A Dictionary of Greek and Roman Antiquities, London, 1875
Nina Mekacher: Die vestalischen Jungfrauen in der römischen Kaiserzeit, 2006

  • *1) <<Sacerdotum quattuor amplissima collegia>>: R. Gest. div. Aug. 2, 16; <<sacerdotes summorum collegiorum>> bei Suet. Aug. 100. Zu den Sacerdotes publici Wissowa, Religion 479 ff.; vgl. RE I A2 (1920) 1636 s.v. sacerdotes (Riewald); Dumézil, religion 550 ff.
  • *2) Vgl. Paul.Fest.p.34 L.; C. Nicolet, Le métier de citoyen dans la Rome Républicaine (1988) 386 ff.
  • *3) Vgl. Düll, virgo 380 ff.; Gradner, Woman 23; Der Neue Pauly III (1997) s.v. Deminutio capitis 444f. (Apaty); Guizzi, sacerdozia 159 ff.