Eine versteckte Bucht am Strand bei Nacht

  • "Ich werde mal bei Gelegenheit versuchen, dir ein paar Schriften zu übersetzen." Dann fiel ihm wieder ein, dass sie ja nicht lesen und schreiben konnte. "Und das Lesen und schreiben bringe ich dir auch bei, wenn du es möchtest."

  • Ich wackelte bedenklich mit dem Kopf. "Ich weiss nicht, um ehrlich zu sein, ob ich es möchte. Vielleicht! Aber ich weiss, dass mir immer der Kopf schwirrt, wenn ich all diese Zeichen sehe und irgendwann nur noch nichts mehr verstehe," lächelte ich verlegen.

  • "Wenn es nur Latein ist, sind es gar nicht so viele Zeichen. Meine Sprache hat viel mehr Zeichen. Etwa tausendmal so viele." Er lachte kurz. "Deshalb dauert unsere Beamtenausbildung auch so lange."

  • Ich starrte ihn mit offenem Mund an. "So viele? Wer soll denn all die jemals lernen? Warum habt Ihr so viele Zeichen? Ich finde ja die Lateinischen schon oft verwirrend."

  • "Jedes unserer Zeichen steht für eine Silbe. Dein Name würde in meiner Sprache zum Beispiel aus fünf Zeichen bestehen. Im Lateinischen hingegen wären es... ähm... zehn Zeichen."

  • Ich dachte nach und meinte dann: "Er hört sich in einigen gleich an, also wären es aber nicht zehn verschiedene Zeichen, oder? Und gibt es wirklich so viele Silben?" Meine Stirn legte sich in Falten, als ich grübelte. "Auf die Gefahr hin, dass das jetzt eine dumme Frage ist, aber was genau sind Silben."
    Ich war nun doch recht verlegen. "Verzeih, aber ich bin nun einmal nur eine ehemalige Sklavin und wenn man noch weiter zurück geht eben nur eine Nomadin, die in der Kräuterkunde gelehrig war und in anderen Dingen, sich aber nie mit den Feinheiten der Schrift oder der Grammatik auseinandersetzen musste."

  • "Eine Silbe... nun, das ist..." Wie sollte er denn das jetzt erklären? "Also quasi, wenn du..." Er lächelte verlegen, versuchte aber dennoch, eine Erklärung zu finden. "Eine Silbe ist eine Gruppe von Lauten, die man in einem Zug aussprechen kann. Zum Beispiel Pen oder Si. Bei dir wäre das Pen-te-si-le-a. Übrigens heißt Te in meiner Sprache 'Was die Wesen erhalten, um zu entstehen'."

  • Es war leicht zu verstehen, wie er es erklärte, aber als er meinte, dass das eine Wort so viel bedeutete, musste ich leise Lachen. "Jetzt nimmst Du mich auf den Arm. Wie kann ein Wort aus so wenigen Buchstaben übersetzt so viel heissen und bedeuten?"

  • "Aber wie ist das möchlich?" Fragte ich erstaunt. "Ich meine, wie kann man in zwei?" fragte ich vorsichtshalber nach, "Zeichen so viel Bedeutung stecken? Und übersetzte so viele Worte daraus machen. Das erscheint mir unmöglich."

  • "Es ist nur ein Zeichen in meiner Sprache." sagte er lachend. "Der Grund dafür, dass man im Latein so viele Wörter dafür braucht, ist, dass es kein entsprechendes Wort in Latein gibt. Leben würde noch am besten passen, aber es hat nicht exakt diese Bedeutung."

  • Ich rieb mir die Stirn und schüttelte den Kopf. "Verzeih, aber dies scheint mir irgendwie zu hoch." ICh schwieg eine Weile und dachte darüber nach, ehe oich langsamnickte. "Andererseits ist es fast verständlich. Wenn ich ein Wort in Latein nicht weiss, umschreibe ich es. Und dann kommen mehr Wörter raus, als das eigentliche Wort bedeutet. Das habe ich so richtig verstanden, oder?"

  • Cheng lächelte. "Genau so ist es. Du hast es verstanden. Du solltest mehr Vertrauen in deine Fähigkeiten haben. Übrigens hattest du erwähnt, dass du früher eine Kräuterkundige warst und davor eine Nomadin. Kann es sein, dass deine erinnerung langsam wieder zurück kommt?"

  • Ich schüttelte bedauernd den Kopf. "Nicht mehr als vorher. Ich weiss schon länger, dass ich das war oder bin. Die Kräuterkunde habe ich erstaunlicherweise nie verlernt. Ich sehe eine Pflanze und weiss fast sofort wofür ich sie benutzen kann. ICh untersuche jemanden und kann sagen, welche Pflanzen ich brauche um ihn oder ihr vielelicht zu helfen. Das habe ich scheinbar nie verloren, auch wenn es mir nie bewusst ist, denn ich kann das Wissen nicht heraufzwingen, zumindest nicht beim ersten Mal. Das mit der Nomadin, ja, das ist etwas, was sich mir heute Abend erschlossen hat: Wüste, Sand, Kamele und Bilder, die nur kurz und schemenhaft waren und doch deutlich genug um mich an einzelne Worte zu erinnern. Es ist fast so wie mit dem Wort Nabataei, welches ich in dem Moment im Kopf hatte, als Helena mir das erzählte, was sie über mich wusste."

  • "Ich denke trotzdem, dass du deine Fähigkeiten unterschätzt. Du musst dir selbst absolut vertrauen, dann wird sich dir alles erschließen. Vor allem in deine Fähigkeiten musst du mehr vertrauen."

  • "Wenn ich mir manch verliebten Menschen anschaue, wäre ich mir da nicht so sicher," lächelte ich sanft und schaute auf das Meer hinaus. "Es ist schwer sich selber zu vertrauen, wenn man nichts über sich weiss und sich selber nicht einzuschätzen weiss. ICh kann auch nicht einfach jemanden anderen trauen. Gut, hin und wieder geschieht es. So mit Helena, vielleicht gar mit Dir. Aber in der Regel ist es eher Naivität, die mich dazu verleitet etwas zu erzählen oder nicht. ICh frage mich, ob ich früher auch so war oder eher zurückhaltender, vorsichtiger, vielleicht gar kämpferischer. Die Narben scheinen ihre eigene Sprache zu sprechen und davon habe ich vieler."

  • "Lass mich dir ein Zitat nennen. Es ist aus dem Tao Te King.


    Ohne aus der Tür zu gehen,
    kennt man die Welt.
    Ohne aus dem Fenster zu schauen,
    sieht man das Tao des Himmels.
    Je weiter einer hinausgeht,
    desto geringer wird sein Wissen.


    Darum braucht der Berufene nicht zu gehen
    und weiß doch alles.
    Er braucht nichts zu sehen
    und ist doch klar.
    Er braucht nichts zu machen
    und vollendet doch."


    Dann fügte er leise hinzu "Du brauchst das nicht zu verstehen, denke einfach nur drüber nach."

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