Varus seufzte und ließ kraftlos den Kopf hängen. Vor jedem anderen hätte er sich diese Blöße niemals gegeben - nur vor Livia, seiner Schwester, der er so manche Tat erzählt hatte, auf die er nicht stolz gewesen war. Sicher, das hatte er auch mit anderen so gehandhabt, zumindest anfangs. Aber dass er von seinen Brüdern meist nur aufmunternde Worte und Gelächter geerntet hatte, wenn er mit seinen Problemen, Wünschen und Flausen im Kopf zu ihnen gegangen war, hatte nicht unbedingt dazu beigetragen, dass er ihnen mehr anvertraute als Livia. Nein, eher im Gegenteil: Livia war für ihn die einzige Person, der er bedingungslos alles erzählen konnte und würde, was ihn bedrückte und beschäftigte. Und zwar deshalb, weil sie ihn noch niemals ausgelacht oder verspottet hatte, wenn sie gemerkt hatte, dass ihm etwas wichtig gewesen war. Und das war bis heute so geblieben und Varus liebte sie dafür, dass sie ihm nicht nur Schwester, sondern auch Freundin und Vertraute zugleich war.
Abermald ließ er ein schicksalschweres Seufzen erklingen, dann hob er den leicht glasigen Blick und sah Livia an.
"Ich bitte dich, Livia, wir wissen doch beide dass es gesellschaftliche Floskeln und frauliche Manieren und Dinge sind, die Arria nicht beherrscht und die sie beherrscht hätte, wenn ich eher wieder geheiratet oder aber ihr zumindest eine Anstandsdame zur Seite hätte stehen lassen. Wir sind uns doch nicht uneinig, verstehst du, es geht mir einzig und allein darum, dass sie lernt, sich in Gesellschaft so zu verhalten, wie es angemessen ist für eine Frau in ihrem Alter. Sie ist und bleibt mein kleines Mädchen, ob sie nun heiratet und nach Rom zieht, oder ob sie zu den Vestalinnen geht oder von mir aus auch in die Politik. In dreißig Jahren, wenn ich alt und grau bin und keine Zähne mehr habe, wird sie immer noch mein kleines Mädchen sein - selbst, wenn ihre Kinder schon selbst wieder Kinder haben. Darum geht es wirklich nicht."
Varus hielt inne und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er fühlte sich alt, abgestumpft, schlaff und müde; und in diesem Moment sah er vielleicht auch so aus.
"Arria sagt, ich hätte mich verändert, seit wir nicht mehr in Rom leben. Das mag sein. Ich bin nun Praefectus Vehiculorum und habe Angestellte unter mir. Ich habe eine Vorbildfunktion inne; und ich plane, in der nächsten Wahlperiode für das Amt des Quaestor zu kandidieren. Und vielleicht ist es gerade das, weshalb ich möchte, dass sich Arria angemessen verhält."
Nun hing er einen Moment grübelnd seinen Gedanken nach und fühlte sich gleich noch einmal fünf Jahre älter. Hätte er in diesem Moment in den Spiegel geschaut, so wäre er nicht verwundert gewesen, hätte er weißes Haar statt leicht angegrautem Braun auf seinem Kopf entdeckt.
"Nein, es sind nicht deine Worte, die mich amüsieren, Livia. Es ist vielmehr ein freudig strahlendes Gesicht, dass mir schon seit dem gestrigen Abend nicht mehr aus dem Kopf geht", gestand er Livia, nun erneut zaghaft lächelnd.