• Kaum hatte die kleine Prozession vor der Villa gehalten, sprang ich förmlich aus er Sänfte und setzte die Treppenstufen empor. Ungeduldig hämmerte ich gegen die Eingangstür, bis endlich schlurfende Schritte laut wurden und jemand vorsichtig die Tür öffnete. Ich konnte meine Ungeduld nicht zügeln, drückte die Tür weiter auf und schob den ianitor damit fort, der ächzend protestierte.


    "Herr..." - "Aus dem Weg!" - "Herr! Immer langsam mit den jungen Pfer-" - "Geh mir aus dem Weg, sagte ich!" - "Herr, aber...?!"


    Ich hatte weder Lust noch Zeit auf eine Diskussion mit einem Sklaven, der mich gut genug kannte um zu wissen, dass selbst mir ab und an die Hand ausrutschte, also murmelte ich eine Verwünschung und drängelte den schmächtigen Kerl einfach zur Seite. Bei Gelegenheit, so nahm ich mir vor, würde ich diesen Hänfterling durch einen breitschultrigen Muskelprotz ersetzen lassen, damit nicht jeder einfach so wie ich hier hereinspazieren konnte.


    Im atrium angekommen, war niemand da. Das war wieder typisch für die Sklaven: Sie waren ständig im Weg, aber wenn man sie brauchte, dann war weit und breit niemand auszumachen. Ich seufzte und blieb einen Moment stehen, um meinen Herzschlag zu beruihigen und die Aufregung etwas zu ersticken, dann ging ich gemäßigten, aber schnellen Schrittes zur Treppe, die sich ins Obersgeschoss wand. Mein Weg führte geradewegs zu dem Zimmer in dem ich meine Schwester vermutete. Einen Moment lang zog ich ernsthaft in Erwägung, die Tür schlichtweg aufzureißen und einzutreten, dann aber besann ich mich und erinnerte mich meiner Erziehung, hob die Hand und klopfte zweimal forsch gegen das dunkle Holz, das auch schon bessere Tage gesehen hatte.


    "Deandra. Deandra bist du da?"


    Natürlich war sie da, das hatte der Stallbursche mir nänlich schon verraten, als wir auf der Straße in quälend langsamer Geschwindigkeit an den mantuanischen Stallungen der Familie entlanggezogen waren. Nur: War sie auf ihrem Zimmer oder las sie gar ein Buch im tablinum oder nahm sie ein Bad? Ich hoffte nicht. Ich wollte mich schließlich endlich davon überzeugen, dass sie ihre Krankheit wirklich überwundern und nicht nur im Brief heruntergespielt hatte, wie es die Eigenart meiner Schwester war.

  • Tage lagen hinter dem Gespräch, das ich mit Cicero geführt hatte. Inzwischen wusste ich, zu welcher Familie ich seit kurzem gehörte und ich hatte Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Mein Vater hatte eine edle Familie für mich ausgesucht, einziger Wehrmutstropfen: Ich kannte dort keinen – gar keinen, oder zumindest nicht wirklich. Meinen neuen Vater hatte ich vor 18 Monaten einmal gesehen und ein paar Worte gewechselt, aber mehr auch nicht. Trotzdem war ich inzwischen gefasst. Sklaven hatte viele meiner Sachen bereits in die Villa Claudia gebracht, aber das Anwesen stand fast immer leer und so weilte ich ab und an auch in meinem alten Zuhause. Es wurde Zeit, dass wenigstens meine Sklaven in Mantua eintrafen, damit ich wenigstens gewohnte Unfreie um mich hatte, während neue Räume, neue Gepflogenheiten und neue Familienmitglieder mich umgaben.


    Eine aurelische Sklavin nahm gerade die letzten Kleidungsstücke aus dem Schrank, als es an der Tür klopfte. An der Stimme erkannte ich meinen Bruder. Oje. In dem Bewusstsein, eine weitere schwere Aufgabe – nämlich die Erklärung der neuen Verhältnisse – vor mir zu haben, atmete ich tief ein und hielt für Augenblicke die Luft an. Mit dem Ausatmen stellten sich Bauchschmerzen vor Aufregung ein. Mit einigen ungeduldigen und auch unwilligen Handbewegungen gab ich der Sklavin zu verstehen, dass sie nach dem Öffnen der Tür verschwinden sollte.


    „Mars, Juppitter und Iuno, bitte steht mir bei!“, murmelte ich und wie durch Göttereinfluss fiel mir ein riesig tolles Ablenkungsmanöver ein. Ich lächelte und trat nun gelassener der Tür und meinem Bruder entgegen.


    „Sei gegrüßt, Corvi! Wir haben uns lange nicht gesehen“, begrüßte ich ihn mit einem Lächeln.

  • Ich hatte das Gefühl, niemals so erleichtert gewesen zu sein wie in diesem Moment. Ein schwerer Wackerstein fiel von meinem Herzen polternd auf den schönen Mosaikboden des Flures, in dem ich stand. Beinahe sofort nach der Aufforderung, das Zimmer zu betreten, öffnete ich die Tür zeitgleich mit der verwirrt schauenden Sklavin und trat hindurch. Die Sklavin verließ den Raum und ich hatte zuerst nur Augen für meine Schwester, die mir dünner und blasser erschien, aber sonst die auf den ersten Blick die alte war. Mit vier großen Schritten kam ich ihr entgegen, ging auf keines ihrer Worte ein, sondern umarmte sie schlicht. Ich drückte sie an mich, dass ihr wohl beinahe die Luft wegbleiben musste, daher lockerte ich die Umarmung, ließ sie aber nicht los, sondern sog den vertrauten Duft ihres Parfums und ihrer Kleider ein und genoss einfach das Gefühl, als die tobenden Geister der Sorge und Rastlosigkeit endlich zur Ruhe kamen und verschwanden.


    Eine ganze Weile stand ich da und umarmte Deandra einfach nur, weil ich so froh war, sie zu sehen. Dann schob ich sie auf Armeslänge von mir fort und sah sie kritisch an.


    "Den Göttern sei Dank, du bist wieder da. Geht es dir auch wirklich wieder gut? Wir haben uns alle solche Sorgen um dich gemacht!"


    Erst jetzt fiel mein Blick auf die offene Schranktür und ich ließ Deandra endgültig los und trat skeptisch einen Schritt zurück. Es sah mehr nach Aus- denn Einräumen aus. Mit gerunzelter Stirn registrierte ich, dass weniger Kleidung als zuvor in den geöffneten Schränken und Truhen hing und lag. Und das, was fehlte, passte sicherlich nicht alle in die halbgefüllte Reisetruhe. Ich deutete darauf.

    "Was soll das? Was machst du denn?"
    fragte ich verwirrt.

  • Weil Corvi so schnell heran war, blieb nicht viel Zeit zum überlegen, und als er mich derart stürmisch umarmte, dachte ich bei mir: Ja, das ist eben die wahre Familie, wird sie auch immer bleiben … ob ich nun ‚Claudia’ oder ‚Aurelia’ hieß. Alle nahmen mich in die Arme und ich genoss die Geborgenheit.


    „Hoppala, du hast mich ja wirklich vermisst“, sagte ich schmunzelnd, als ich wieder zum atmen kam. „Aber Vorsicht, ich bin noch etwas angeschlagen. Meridius wollte mich eigentlich auch noch nicht gehen lassen, ich musste mich praktisch davonschleichen“, erklärte ich in verschwörerischem Ton. Einfach nur dastehen und nichts erklären müssen … ach, das wäre schön, aber viel zu schnell stellte mein Bruder skeptische Fragen.
    Was hatte ich erwartet? Sie Situation war eindeutig und er noch nie auf den Kopf gefallen, sein Verstand arbeitete reibungslos. Offensichtlich hatte er noch nicht mit unserem Vater gesprochen. Dabei war es ja gar nicht mehr UNSER Vater. Bloß nicht drüber nachdenken … Also hieß es jetzt, die Brisanz aus der Geschichte nehmen oder sie wenigstens mildern, wobei mir als Offizierstochter eine gute Strategie einfiel: Angriff ist noch immer die beste Verteidigung.


    „Ja, ich, ähm … ich habe dir auch etwas zu beichten“, begann ich zunächst vorsichtig, legte aber schnell mehr Kraft in die Stimme, damit er nicht auf die Idee kam, mein Manöver zu ignorieren. „Aber zunächst bist ja wohl du erst einmal dran. Du bist mir noch eine Erklärung schuldig. Ich meine die Andeutungen, die du in Germanien gemacht hast.“


    Entschlossen, zunächst zuzuhören und erst dann selber auszupacken, setzte ich mich auf den Rand meines Bettes, straffte die Schultern und ließ die Arme mit Nachdruck in den Schoß fallen. Widerspruch war aussichtslos.

  • Aha, war sie also doch noch nicht vollkommen wieder kuriert. Ich nickte, teils missbilligend, dass sie doch schon angereist war, teils verstehend. Ich hätte auch nicht weiter warten wollen. Mir blieb auch gar keine Zeit, groß etwas zu erwidern, denn Deandra fragte beinahe augenblicklich nach der Sache in Germanien. Insgeheim hatte ich mich davor doch irgendwie etwas gefürchtet, aber sie war und blieb meine Schwester und ich hatte in Germanien schon die Entscheidung getroffen, es ihr zu erzählen.


    Mein skeptischer Blick folgte ihr und beobachtete Deandra, wie sie sich setzte und scheinbar darauf wartete, dass ich zu erzählen begann. Ich fühlte mich überrumpelt. Immerhin hatte ich wissen wollen, warum ihre Kleider zum Großteil fortgeschafft worden waren, und da überfiel sie mich nun mit einer Gegenfrage. Das war nur wieder typisch für Deandra. So setzte ich mich schließlich in Bewegung, nachdem ich eine Weile unentschlossen im Raum gestanden hatte. Plötzlich war ich froh darüber, dass die Sklavin getürmt war. Ich ging zu einem Korbsessel und setzte mich, wobei das hohle Material hölzern knarzte.


    "Tja..." begann ich und sah alles mögliche an, um nicht Deandra ansehen zu müssen.
    "Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich dir schon erzählt habe und was nicht..."


    Nun sah ich doch kurz zu Deandra. Ihr Blick ließ mich nicht länger um den heißen Brei herumreden, sondern veranlasste mich dazu, es endlich zu gestehen.


    "Das muss unter Verschluss bleiben, Deandra. Es geht um... naja, einen Mann. Er war hier, wir waren zusammen auf einer Landpartie Rixhtung Ostia unterwegs. Ich, ähm.. Naja."


    Ich drukste herum und kratzte mich überflüssigerweise am Kopf, fing dann Deandras Blick auf und wartete darauf, dass sie mich einen kompletten Idioten nannte. So saß ich wie ein unschuldiger Junge im Korbstuhl und wartete auf das niederschmetternde Urteil.

  • Im Stillen beglückwünschte ich mich zu diesem geschickten Schachzug, denn der Wind aus Corvis’ Segeln war weg. Stattdessen druckste er herum. Ich kniff etwas die Augen zusammen, sein Verhalten machte mich misstrauisch. Da war wohl ein viel dickeres Ei zu erwarten als gedacht, wenn er mir noch nicht einmal in die Augen sehen konnte. Dann - bei den Göttern - musste es heftig sein. Ich machte mich schon mal auf alles gefasst und rutschte – von Spannung getragen – an den äußersten Rand des Bettes vor.


    „Wie? Du und ein Mann?“ Ich blickte meinen Corvi unter gerunzelten Brauen an. „Ich verstehe nicht.“ Wollte ich nicht oder stellte ich mich absichtlich dumm? Ich glaubte, ich wusste das selber nicht so genau, weil der Gedanke derart abwegig war. Bloß wegschieben, ich glaubte sonst, mir würde schlecht.

  • War denn das die Möglichkeit! Ich seufzte niedergeschlagen und gab etwas genervter als vielleicht angebracht und etwas widerwilliger als nötig Antwort auf Deandras schwerfällige Frage.


    "Jaaa, Deandra. Ich weiß auch nicht, es...hat schon in Griechenland angefangen. Und dann traf ich Fl...ihn hier, ganz zufällig. Wir teilten ein zwangloses Mahl miteinander und...wir verstanden uns einfach, verstehst du...?


    Bitte, versteh es. ich sah Deandra an und dachte nichts weiter als diesen einen Gedanken. Er mochte abstoßend sein für sie, seltsam, widersinnig, aber wenn ich an Flavius Aquilius dachte, dann zog sich mein Magen beinahe vorfreudig zusammen.

  • Mein Gesichtsausdruck verfinsterte sich immer mehr, während ich meinem Bruder, oder eigentlich nicht mehr Bruder, zuhörte.


    „N..“, antwortete ich auf seine Frage und verschluckte doch den Rest. Meine Güte! Betroffen sah ich ihn an, unfähig etwas zu sagen oder gar etwas Vernünftiges zu denken, allein große Enttäuschung wechselte mit erheblicher Wut.
    Warum tat das jetzt so weh? Diese Ahnung hatte ich doch bereits in Germania in mir getragen. Damals, ich weiß es noch, wäre ich ihm ein Freund gewesen, hätte versucht, ihm zu helfen, aber heute? Ich war so verletzt, wusste nicht einmal wieso, und versteckte diese Gefühle hinter Zorn.


    „Nein!“ Ich schmetterte ihm die Antwort entgegen und erhob mich ruckartig vom Bett. „Wie kannst du nur? Du hast mit einem Mann … geschlafen? Weißt du eigentlich, wie widerlich das ist?“ Meine Stimme wurde dünn und Tränen der Enttäuschung und des Schmerzes traten in meine Augen. Hastig drehte ich den Rücken zu Corvinus hin, er musste ja nicht unbedingt alles sehen.

  • Sie verstand es nicht. Natürlich verstand sie das nicht. Das verstand wohl kaum jemand, der es nicht selbst erlebt hatte. Ich schloss einen flüchtigen Moment lang die Augen und gab mich der Illusion hin, allein mit mir und meinen Gedanken in diesem Korbsessel zu sitzen, in diesem Raum zu weilen, doch das leise Rascheln von Deandras Kleidung zerstörte dieses Trugbild. Vielleicht war es nicht gerade die beste Variante gewesen, ihr dieses kleine Geheimnis zu beichten. Und sie hatte auch unwillkürlich das Schlimmste angenommen.


    Ich fuhr mir in einer müden Geste mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, seufzte leise und erhob mich. Vor dem Sessel bleib ich unschlüssig stehen. Ich hatte nun eigentlich zwei Möglichkeiten: ich konnte gehen oder bleiben. Wenn ich ging, kam das einer Flucht gleich, ausgelöst durch die Wunde, die Deandra mit ihrem Entsetzen vor mir geschlagen hatte und die schmerzte, denn sie war die einzige, der ich mich voll und ganz anvertraute. Wenn ich blieb, würde ich mich dem Schmerz stellen müssen. Ich würde in die Augen meiner Schwester blicken und vielleicht erkennen müssen, dass sie sich von mir abwandte oder es bereits getan hatte, alles nur wegen der gesellschaftlichen Normen, wegen dem, was für einen Römer sittsam und standesgemäß war und was eine tugendhafte römische Frau nicht verstand und vermutlich niemals verstehen würde.


    Einige Sekunden später ertappte ich mich dabei, wie ich bereits instinktiv zur Tür getreten war, nun dort stand und die Klinke misstrauisch ansah. Langsam wandte ich den Kopf und musterte Deandras Rücken. Dann ließ ich die Hand sinken und begab mich zu ihr. Einen halben Meter hinter ihr blieb ich stehen und hob die Hand, berührte meine Schwester jedoch aus irgendeinem Grund nicht, der sich meinem Verständnis entzog. Hatte ich Angst vor Zurückweisung? Vor dem, was ich in ihren Augen lesen mochte, wenn ich sie ansah?


    Schließlich berührte ich sie doch, am rechten Oberarm. Zaghaft und unsicher, denn das waren die Gefühle, die im Moment am stärksten waren. Ich griff nun nach ihrem Oberarm und drehte sie herum, um sie auch mit meiner anderen Hand festzuhalten und in ihr enttäuscht blickendes Gesicht zu sehen. Der Ausdruck darauf verwirrte mich und tat weh, aber wichtiger als das war jetzt, dass Deandra verstand, was ich ihr gesagt hatte.


    "Deandra."
    Meine Stimme klang auf eine seltsame Art beschwichtigend und sanft.
    "Ich bin immer noch ich. Der Corvinus, den du kennst, der als Knabe nach Griechenland gegangen ist und als Mann zurückkam. Niemand sonst weiß es. Ich vertraue dir wie keinem anderen. Du bist doch meine Schwester. Wenn du es nicht verstenhen kannst, dann... dann bewahre es als dein Geheimnis im Herzen auf, ich bitte dich."


    Seltsam matt sah ich sie an. Ich wollte nicht sagen, dass ich es bereute, denn das tat ich nicht. Mit Flavius Aquilius hatte ich schöne Dinge erlebt, aber geschlafen hatten wir nicht zusammen bisher, obwohl das wohl der Weg war, auf den wir allmählig zusteuerten. Solange ich noch keine Heiratsabsichten hegte, konnte ich diese Verbindung auch ohne Reue aufrecht erhalten. Ich blinzelte und suchte Deandras Blick.

  • Während ich die eine Hälfte meiner Kraft darauf verwandte, die Tränen versiegen zu lassen, versuchte ich das soeben Gehörte zu verarbeiten. Ich suchte mir einen Punkt an der Wand und starrte darauf. Wieder und wieder fragte ich mich: Warum? Warum macht er sowas? Warum er?
    Bilder, die ich gar nicht haben wollte, drängten sich auf, marterten mich, ließen mich innerlich schütteln. Und sie erschütterten nicht mein Moralgefühl; nein, sie drangen viel tiefer - dorthin, wo keine Schutzwand gegenüber äußeren Angriffen stand, sondern das Urvertrauen, das ich meiner Familie und insbesondere meinem Bruder entgegenbrachte, gleich einer zerbrechlichen Gabe ausgebreitet lag.


    Schließlich spürte ich seine Berührung am Arm. Ja, es war immer schön, wenn sich jemand um eine Klärung bemühte, gleichzeitig löste solche Zuwendung - zumindest bei mir - neben der Dankbarkeit auch immer die Sorge vor dem erneuten Verlust der Fassung aus. Und wie befürchtet, glitzerte es alsbald verdächtig in meinen Augen, als er mich zu sich herumdrehte und zu sprechen begann.

    „Warum ausgerechnet du?“, flüsterte ich. „Wäre es Corus gewesen oder ein anderer, es hätte mir nicht so wehgetan. Du bist für mich der anständigste, vorbildlichste und liebste meiner Brüder gewesen. Warum zerstörst du dieses Bild? Warum nur verschenkst du dich?“


    Das Unverständnis war riesengroß. Ich hätte es nie im Leben geduldet, dass mich eine Frau berührte. Doch da war noch mehr, was ich sagen wollte. Mit leiser Stimme fuhr ich fort:


    „Nein, du bist eben nicht mehr derselbe, du bist ja nicht einmal mehr mein Bruder.“ Nach einem tiefen Seufzer öffneten sich nun doch die Schleusen und es war mir egal. „Du bist zwar noch in meinem Herzen mein Bruder, aber gleichzeitig bist du eben auch ein Mann – ein Mann wie jeder andere und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, was ich fühle. Es ist eben …“ Ich schaute flüchtig zu Boden, wischte mir notdürftig mit den Fingerspitzen ein paar Tränen weg und sah wieder auf. „Ein Mann, der so etwas tut, ist in meinen Augen mit einem Makel befleckt, weil ihn die falschen Hände berührt haben und du weißt, dass ich mehr als nur die Hände meine. Und gerade bei dir schmerzt mich das. Aber“, ich atmete einmal tief durch, „ich werde natürlich dieses Geheimnis in mir tragen, sodass es niemand erfährt und ich kann nur hoffen, dass es mich nicht erdrücken wird.“

  • Sie weinte. Und das löste in mir den Großer-Bruder-Reflex aus, denn wenn kleine Schwestern weinten, musste man sie trösten. Deandra war zwar älter als ich, aber sie war trotzdem meine kleine Schwester, wenn auch nur körperlich gesehen. Einen kurzen Moment nur ertrug ich den Anblick, dann schloss ich meine Augen und Deandra in die Arme. Beruhigend über ihren Rücken streichend sprach ich.


    "Das ist wohl ein Teil von mir, Deandra. Sei nicht traurig, bitte."
    Ich mochte solche Situationen nicht, einfach aus dem Grund, dass ich nicht gut trösten konnte. Schon gar nicht, wenn ich selbst ständig über den Sachverhalt nachdachte, den andere zum Weinen brachte. Ein leiser Seufzer kam über meine Lippen. Ich führte Deandra zum Bett und setzte mich gemeinsam mit ihr darauf, sie nicht aus den Augen lassend. Dann sagte sie, dass ich nicht mehr ihr Bruder sei. Es tat unglaublich weh. Aber da vermutlich jeder einmal etwas im Affekt sagte, was er nicht so meinte, verzichtete ich darauf, diese Aussage für bahre Münze zu nehmen und schob die Enttäuschung weit von mir.


    "Ich bin doch immer noch der, der ich war als ich wiederkam aus Griechenland. Was uns verändert, sind Erfahrungen, die wir machen, und die Meinungen der Menschen, die uns nahe stehen. Bis vor wenigen Minuten hast du noch anders über mich gedacht. Ich habe mich in dieser Zeit nicht verändert, es sei denn, mein Bart ist rapide gewachsen..." versuchte ich einen vermutlich schlechten Scherz. Dass sie das so sah wie sie es sah, versetzte mir einen Stich, aber ich bereute nichts und wollte es auch nicht einfach sagen, ohne es ehrlich zu meinen.

  • Während ich mich folgsam auf das Bett setzte und Corvi zuhörte, fragte ich mich, wie es nur sein konnte, dass er weder über seine Neigungen besorgt war noch sich an der Tatsache störte, dass er nicht mehr mein Bruder war. Davon mal abgesehen war er liebevoll wie immer. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie passte das zusammen?


    Ich angelte nach einem Tuch und tupfte mir die Spuren meiner Fassungslosigkeit weg. Dabei grübelte ich darüber nach, warum mich eigentlich sein Geständnis betroffen gemacht hatte. Eigentlich konnte mir das doch völlig egal sein. Nach einem letzten kleinen Schniefer durch die Nase sah ich ihn an.


    „Du solltest diese unschöne Aktivität als Geheimnis wahren. Auf jeden Fall würde ich dir raten, nichts davon deiner zukünftigen Frau zu erzählen, denn zumindest mich würde nur derjenige bekommen, der in keinerlei fremden Betten herum steigt. Ich weiß nicht, ob andere Frauen das lockerer sehen.“

  • Ich wollte widersprechen. Unschön waren diese Aktivitäten keinesfalls. Sie waren ebenso schön und befriedigend, wie wenn man das Lager mit einer Frau teilte. Vertrauen, Begierde und Leidenschaft - das, was die fleischliche Liebe zwischen Mann und Frau ausmachte, machte auch die Liebe unter Männer aus. Aber ich wollte Deandra nicht noch mehr verunsichern, indem ich ihr das erzählte. So behielt ich es für mich und sagte auch nichts zu den Worten, die sie an mich richtete. Meine zukünftige Frau... Ich schmunzelte ob der Vorstellung, eine Frau zu finden und schließlich auch noch zu heiraten, und schüttelte den Kopf.


    "Meine zukünftige Frau... Ach Deandra, wahre Liebe kommt nicht oft vor und in einer Ehe wirklich selten. Ich weiß nicht...vermutlich sollte ich froh sein, wenn ich überhaupt eine angemessene Ehe führen werde, irgendwann. Ob sie nun auf Liebe basiert oder nicht. Naja. Lass uns nicht mehr darüber reden, wenn es dir nicht behagt."


    Einen Moment sann ich meinen Gedanken nach, dann zuckte ich unmerklich die Schultern und deutete mit einem Seufzer auf die beinahe leeren Schränke.


    "Und was hast du mir zu beichten, Schwesterchen?"

  • Mehrfach ließ ich mir seine Worte durch den Kopf gehen. War meine Einstellung bezüglich einer Ehe und fremder Betten denn an ein großes Gefühl geknüpft? Zwar war es schwer, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich mit jemand Ungeliebten verheiratet wäre, aber vermutlich würde ich auch in diesem Fall auf ein solides Leben meines Angetrauten bestehen - falls er einmal Nachkommen haben wollte, was ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit war.
    Trotzdem glaubte ich zu wissen, dass es viel schwerer noch zu ertragen wäre, wenn man denjenigen lieben würde, weil ja dann noch körperliches Begehren hinzukam. Wie das theoretisch war, wusste ich. Schließlich hatte ich unzählige Tage, Wochen und Monate in Sehnsucht verbracht. Wie es aber praktisch sein würde, das konnte ich mir nicht wirklich vorstellen. Naja, aber dafür war ja auch noch Zeit.


    In die Bemühungen hinein, mir genau dieses auszumalen, platzte Corvis Frage. Nun zuckte ich mit den Schultern. Hatte er etwa angenommen, ich bleibe hier wohnen, wo ich doch nun nicht mehr zur Familie gehöre?


    „Na, ich ziehe aus. Was denn sonst? Schließlich gehört sich das so, auch wenn es nicht unbedingt leicht fällt.“

  • Deandra erschien einen Moment abwesend zu sein, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Ich musterte sie dabei und musste feststellen, dass sie irgendwie anders wirkte. Nur was an ihr anders war, das wusste ich nicht zu sagen. War es eine Spur Bitterkeit um die Mundwinkel herum? War der Glanz ihrer Augen matter als sonst?


    Sie zuckte mit den Schultern und sagte etwas, das mich verwirrte. Zuerst hielt ich es für einen Scherz, lachte kurz auf und schüttelte den Kopf, doch dann sah ich den Blick und blinzelte irritiert. Auch das Lachen verschwand recht schnell von meinen Zügen. Cicero hatte auch schon solche seltsamen Bemerkungen gemacht. Ich setzte mich gerade hin und taxierte Deandra mit prüfendem Blick.


    "In Ordnung, ich kann ja verstehen, dass du nicht billigst, was ich dir erzählt habe - aber du bist immer noch meine Schwester, auch wenn du eben noch gesagt hast, dass du es nicht mehr sein willst. Und du wirst immer noch hier wohnen. Irgendwie ist hier seit einiger Zeit sowieso etwas faul. Vater und Mutter ziehen lange Gesichter, Cicero ist missgelaunt und wenn ich frage, weichen mir alle aus. Also...was hast du vor, beim Iuppiter? Willst du schon wieder verreisen?"

  • Vermutlich machte ich keinen sehr geistreichen Eindruck, als ich meinen Bruder anblickte – die Verwunderung war zu groß. Ich hob die Brauen, suchte mit den Augen nach Erklärungen auf seinen Gesichtszügen und klimperte anschließend irritiert mit den Lidern. „Hm?“, fragte ich unsicher und versuchte erneut nach Hinweisen, denn es wäre nicht das erste Mal, dass er mich auf’s Glatteis führen wollte.


    „Du fragst das jetzt im Ernst? Ich hatte dir doch vorhin mitgeteilt, dass du nicht mehr mein Bruder bist, auch wenn du es auf ewig in meinem Herzen bleibst. Du hast es einfach so hingenommen und mir den Eindruck vermittelt, dass es dich wenig stört.“


    Ich schüttelte irritiert den Kopf


    „Du hast mich doch sogar noch getröstet!?“

  • Das Spiel der Frauen beherrschte meine Schwester perfekt, das musste man ihr lassen. Sie betrachtete jede noch so kleine Unebenheit meines Gesichts mit einer den Frauen eigenen Muße und gleichwie einer aufmerksamen Schärfe, die ich bisher nur in Deandras Blick entdeckt hatte. Vielleicht war sie auch niemand anderem zuteil außer ihr. Wie sie schließlich die Lider niederschlug und eine leichte Unsicherheit einstreute, verwirrte sie mich nun ihrerseits. Eine schreckliche Vermutung keimte in mir auf wie ein vom Frühlingswind umwogter Samen in feuchter Muttererde, wuchs rasch zu einer Gewissheit und schoss zu einem Baum der Erkenntnis empor. Ich konnte nicht anders, ich musste den Blick von ihr abwenden, um nachzudenken und nicht dabei ihr Gesicht zu sehen, das mich traurig wie verwirrt zugleich ansah.


    Deswegen waren Vater und Mutter so still. Deswegen tuschelten die Sklaven über Deandra. Deswegen packte sie ihre Sachen und deswegen verhielt sie sich so, wie sie sich in diesem Moment verhielt. Langsam senkte ich meinen Kopf. Wie konnte es nur sein, dass es alle wussten außer mir? Warum hatte sie mir nicht eher davon erzählt? Und warum hatten Vater und Mutter sich nicht in der Lage gesehen, es mir zu erzählen, ehe ich es von Deandra selbst erfahren musste? Meine Hände ballten sich zu hilflosen Fäusten. Hatte ich zuerst noch angenommen, dass es sich um einen Mann drehte und sie deshalb packte, hatte ich noch angenommen, dass sie zu schockiert über die dunkle Seite meiner Selbst war, wusste ich nun, was meine Schwester damit meinte, wenn sie sagte, dass sie nicht mehr meine Schwester sei. Diese Erkenntnis schnürte mir die Kehle zu und ließ mich frösteln. Seit ich denken konnte, war Deandra meine große Schwester gewesen. Sie hatte mich geneckt und ich hatte ihre Streiche gedeckt. Wenn Vater erzürnt gewesen war, hatte ich alles auf mich genommen, um sie zu decken. Und nun ging sie freiwillig? Wegen mir?


    "War ich denn ein so schlechter Bruder", nuschelte ich mehr zu mir selbst als zu Deandra in die Hände, in denen ich mein Gesicht barg, mit gekrümmtem Rücken und sitzend wie ein alter Mann, so unendlich müde und doch von so großem Schmerz erfüllt in diesem Moment, dass es mit der Beherrschung vorbei war.


    Die Trauer und Enttäuschung ließ sich nicht fortschieben, aber sie ließen sich in Wut verwandeln. Eine Verwandlung, die ich in diesem Moment nur zu gern zuließ, schützte sie mein tiefstes Inneres doch vor dem bedrohliche Knacks, der mich in eine tiefe Depression gestürzte hatte. Mit einem Ruck sprang ich recht unedel vom Bett auf und durchquerte den Raum, bis ich vor der kleinen Sitzecke zum Stehen kam, auf deren Tisch eine Obstschale und eine Karaffe mit kühlen Getränken zum Verweilen einluden. Inzwischen atmete ich heftig, hatte jedoch noch immer kein Wort gesagt. Das holte ich nun nach. Ich drehte mich wutentbrannt herum und starrte Deandra aus den Augen des Zerberus an.


    "Du lässt dich adoptieren, einfach so? Wie kannst du nur, Deandra! Ist dir denn nicht mehr wichtig? Weißt du denn nicht mehr, dass wir beide...dass du und ich einmal unzertrennlich gewesen sind? Beim Iuppiter, und nun gehst du...du gehst wegen ihm? Du verlässt deine Familie, kehrst allen, die dir lieb sind, den Rücken, nur um vor dem zu flüchten, was du niemals bekommen wirst?" donnerte ich.

    "Was glaubst du, wie es Vater dabei geht? Wie es Mutter dabei geht? Wie es MIR dabei geht? Ist dir das denn alles gleich? Hast du denn nicht einmal den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen? Wie lange weißt du das schon? Seit ich aus Germanien zurück bin, verhalten sich Familie und Haushalt anders. Ich Narr habe nach dem Grund gerätselt, nun weiß ich ihn. Verdammt!"


    Nun war es um die Karaffe geschehen. Das letzte Wort schrie ich aus vollem Halse, von Beherrschung war nichts mehr zu spüren, lediglich blinde Raserei erfüllte mich und verschleierte meinen Blick fürs Wesentliche. Die Karaffe landete mit einem lauen Peitschenknall mitten im Zimmer und bildete zusätzlich zu dem imaginären Abgrund nun auch eine deutlich sichtbare Grenze zwischen Deandra und mir. Es schien mir, als sei heute der Tag der Bekenntnisse in diesem Raum. Und mit diesem Gedanken kehrten Trauer und Enttäuschung mit voller Wucht zurück und milderten die scheußliche Wut auf ein erträgliches Maß ab. Noch immer heftig atmend schleppte ich mich zur Tür, öffnete sie jedoch nicht, sondern stützte mich rechts und links am Rahmen ab, um den Kopf nach unten hängen zu lassen. Eine Haltung, die so gar nicht eines Patriziers würdig war, doch in diesem Moment war mir das gleich. Ich war nichts mehr als ein Bruder, der seine Schwester verloren hatte und zugleich doch nicht. In dieser Stellung verblieb ich.

  • Sprachlos verfolgte ich die Reaktionen meines Bruders. Es war wie in einem Theaterstück: Ich war der Zuschauer, den die Vorgänge auf der Bühne in ihren Bann schlugen … und wie sie mich beeindruckten. Ich war unfähig, mich zu rühren - die Augen geweitet, der Mund geöffnet, das Herz überschlug sich. Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Hand legte sich schützend auf den Mund, aber in den Augen war die Betroffenheit zu erkennen.


    Erst ließ er Traurigkeit erkenne, dass es mir schon das Herz zuzog. Aber bevor ich ihn mit einem Streicheln trösten konnte, sprang er auf, weswegen meine Hand mitten in der Bewegung stoppte und in den Schoß zurücksank. Die kommenden Reaktionen jedoch waren geeignet, mir einen Schrecken einzujagen: So hatte ich Corvi noch nie erlebt. Fassungslos sah ich die Karaffe zerschellen, die Flüssigkeit spritzen und den Boden einnehmen. Automatisch fuhren die Hände zu den Ohren, um das Scheppern zu mildern. Kein Laut drang aus meinem Mund, während ich den zunächst am Fußboden klebenden Blick gewaltsam löste, um damit meinem Bruder zur Tür zu folgen. Körperlich ging gar nichts: Ich blieb weiterhin wie erstarrt sitzen.
    Und was hatte er noch gesagt? Du gehst wegen IHM? Das klang doch so abfällig oder bildete ich mir das im Nachhinein nur ein? Wen meinte er überhaupt damit? Sophus? Oder diesen ekelhaften Fl…? Kurzzeitig stieg Ärger in mir auf.


    Sein Verhalten, so sehr es mich auch erschreckt hatte … es war geeignet, diesen Anflug von Groll fortzuwischen, weil ich den Schmerz hinter der Wut erkannte. Ich, die ich Sophus stets verteidigte, vergaß ihn für den Moment, weil mein Bruder wichtiger war. Aber was tun? In einer Geste der Hilflosigkeit strichen meine Hände über das Gesicht. Es war Ratlosigkeit, weil ich nicht wusste, wie ich seinen Schmerz lindern konnte. Die Adoption war geschehen, sie ging nicht rückgängig zu machen und vor allem: Ich wollte das ja auch gar nicht. Schließlich gab es ja einen gewichtigen Grund dafür.


    „Was kann ich tun, damit du mir verzeihst?“, fragte ich nach langen Momenten des Schweigens mit dünner Stimme. Für mich wäre es unerträglich gewesen, zukünftig im Streit mit meinem Bruder zu liegen. Mein bittender Blick hing am Rücken meines Bruders in der Hoffnung, er möge nicht wortlos den Raum verlassen.

  • Der Schmerz hätte genauso gut von einem pilum herrühren können, das mir jemand mitten ins Herz gestoßen hatte. Für einen Außenstehenden mochte es nichtig sein, mein Verhalten vollkommen überzogen aussehen, denn Deandra weilte schließlich noch unter den Lebenden und ich würde sie jederzeit besuchen können. Trotzdem, sprach der Trotz in mir, trotzdem hatte ich sie verloren, vielleicht für immer. Wie viele neue Brüder mochte sie in ihrer neuen Familie haben, wie viele neue Verwandte, denen sie ihre ganze Liebe entgegenbringen würde. Ich war dann nur noch ein Bekannter, vielleicht ein Freund, ein netter Junge, mit dem sie irgendwann einmal Spaß gehabt hatte, der es nun aber nicht mehr wert war, dass man ihn einen Bruder nannte! Oh ja, wie sehr steigerte ich mich in diese Gedanken herein, wusste ich doch selbst spätestens in jenem Moment, da Deandras Worte an mein Ohr drangen, dsas sie vollkommen absurd waren.


    Unendlich langsam hob ich den Kopf und blickte meine...Deandra aus traurigen Augen an. Wie sie dort saß, wie sie mich ansah, wie sie sprach... Ich liebte ihr ganzes Sein in diesem Moment so sehr, dass es für mich kaum mehr zu ertragen war, still zu stehen oder in diesem Raum zu verweilen. Dennoch, ihr um Verzeihung bittender Blick, der Hoffnungsschimmer hinter ihren hübschen Augen und das unausgesprochene Versprechen, mich nicht allein zu lassen, niemals, bewegten mich dazu, nicht fluchtartig den Raum zu verlassen, sondern mich herumzudrehen und zu einem der Stühle zu schlurfen, auf dem ich mich verkehrt herum niederließ, mit Blick zu Deandra. Die Scherben der zerbrochenen Karaffe lagen wie ein Mahnmal zwischen uns. Ich dachte über mein Verhalten nach, während sich Stille im raum ausbreitete.


    Schließlich hielt ich es auch auf diesem Stuhl nicht mehr aus, erhob mich und machte einen Bogen um die Scherben und die verschüttete Flüssigkeit, um vor Deandra stehen zu bleiben und ruhig auf sie herunter zu sehen.


    "Es tut mir leid."


    Warum nur hörte sich meine Stimme so an, als sei sie nicht meine, sondern die eines alten Mannes, der seiner Frau am Sterbebett die letzte Bitte abschlug? Ich verschloss die Augen vor meiner Selbst und setzte mich neben Deandra, diesmal als Freund und nicht mehr als Bruder. Da ich nicht wusste, wohin mit meinen Händen, die genauso rastlos waren wie ich selbst, legte ich sie locker ineinander.


    "Was du tun kannst? Ich weiß nicht. Das ist... Du bist doch immer noch meine Schwester, egal was irgendjemand auf irgendein Papier geschrieben hat. Warum trifft es einen immer dann so sehr, wenn man selbst betroffen ist? Es tut weh, Deandra. Du lässt mich allein, du lässt uns allein. Bitte sage mir, dass deine neue Familie dich gänzlich willkommen heißt. Sie wissen nicht, was ich an dir habe und was ich mit deinem Fortgang verliere", sagte ich zuerst normal, doch unwillkürlich verlagerte sich der Ton ins Flüstern hinein. Den letzten Teil begleitete eine hilflose Geste, mit der ich eine unbeugsame Haarsträhne aus ihrem Gesicht zurückstrich.

  • Keine Geschwister und doch so ähnlich – ob das dieselbe Erziehung vollbracht hatte? Ich focht stets mit Leidenschaft, Corvi auch. Vorhin hatte ich mich wegen seinem Geständnis in tiefe Erschütterung gesteigert, nun tat er es. Bei den Göttern! Aus der Distanz betrachtet sah ich die eigene Übertreibung ein, hoffentlich wurde ihm ebenfalls seine Überreaktion noch rechtzeitig klar. Rechtzeitig, bevor er am Ende doch noch den Raum verließ. Eine furchtbare Vorstellung, denn trennende Dinge, Streit, Missverständnisse – all das musste erst aus dem Weg geräumt werden, bevor man auseinander ging. Für mich gab es nichts Schlimmeres als ungeklärte Situationen oder Uneinigkeit stunden-, gar tagelang ertragen zu müssen oder Zweifel mit mir herumtragen zu müssen. All das ging mir durch den Kopf, als mein Blick noch immer an seinen Rücken geheftet war. Wie immer rumorte der Bauch als Folge der ganzen Aufregung und zudem schmerzte der Kopf von den vorhin vergossenen Tränen.


    Die soeben kühlend an die Stirn gelegte Hand fuhr herab, als sich Corvinus bewegte. Annähernd hypnotisiert folgte mein Blick seinem Gang zum Stuhl und suchte nach Antworten in seinen Augen, als er Platz genommen hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber plötzlich erhob er sich und kam herüber. Der Anflug eines Lächelns erschien auf meinem Gesicht, weil das ja immerhin ein gutes Zeichen war. Trotzdem blieb ich abwartend, denn möglich war genauso, dass ein erneuter Ausbruch auf mich zukam.


    Als er dann vor mir stand und sich entschuldigte, glaubte ich zunächst mich verhört zu haben.
    „Nein, um der Götter Willen, du musst dich doch nicht entschuldigen!“, beeilte ich mich zu sagen. Ungläubig schaute ich ihn an, konnte gar nicht glauben, wie schnell sich nun das Blatt gewendet hatte. Wieder beobachtete ich ihn, als er sich setzte, schaute dann aber zu Boden, weil es schwierig zu ertragen war, Schuld an seiner derzeitigen Verfassung zu sein.


    „Natürlich bin ich noch deine Schwester, nur eben nicht vor dem Gesetz“, stimmte ich ihm eifrig zu. Die Worte wären nicht überzeugend gewesen, wenn ich weiterhin zu Boden geschaut hätte, also sah ich ihn an. Den Satz mit dem treffen, weil man selbst betroffen ist, verstand ich nicht im Ansatz, aber Corvi redete auch gleich weiter, sodass keine Zeit zum Nachgrübeln blieb.


    „Ich habe keine Ahnung, ob sie mich willkommen heißen“, sagte ich verwirrt, weil alles nur Bruchstückweise ins Bewusstsein rückte. „Auf jeden Fall komme ich dich und unsere Eltern doch besuchen. Ich bleibe ja überwiegend in Mantua und die Villen stehen nicht weit auseinander.“


    Sein letzter Satz verursachte mir aber dann einen Kloß im Hals, nach einem Luftschnappen schloss ich den Mund. Fraß gerade noch ein Wolf der Angst in meinem Bauch, verdrängte ein Gefühl der Rührung diesen Schmerz, aber es war keineswegs besser, denn es löste Hilflosigkeit aus, die mit vielen kleinen Greifhänden in meine Magenwand kralle. Durchaus schmerzvoll verzog ich das Gesicht. Gegen Angst kann man sich mittels Wut erwehren, aber dem neuen Gefühl war ich wehrlos ausgesetzt. Ich konnte noch nie gut ertragen, wenn mir wichtige Menschen traurig waren. Trösten war auch nicht immer meine Stärke, also nahm ich wortlos seine Hand.


    „Wir werden einander einfach festhalten“, schlug ich vor. Irgendwie kam dann seine Hand und … Ich schluckte. Irritation flackere in meinen Augen auf. Sowas hatte er doch noch nie gemacht. Oder doch?
    ‚Meine Güte, bin ich durcheinander’, schalt ich mich und schüttelte unwillkürlich den Kopf.

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