Die Frage aller Fragen - Teil II

  • Während ich noch überlegte, ob ich auf Corvis Rat hören und die Dinge auf mich zukommen lassen sollte, wandelte er sich von dem bereitwillig unterstützenden Bruder in einen mir vollkommen fremden Mann. Kalt und abweisend war er heute nicht zum ersten Mal, das Dumme nur: Ich wusste wieder nicht wieso. Ich kam zu dem Schluss, dass Gefühle von Männern stets unzuverlässig waren – gleich ob nun die eines Liebsten oder eines Bruders. Dieses Resümee dämpfte mein soeben noch empfundenes Glücksgefühl erheblich, doch dem nicht genug: Die Antwort auf meine letzte Frage war nicht nur niederschmetternd, sie war auch noch boshaft formuliert. Von dem schneidenden Tonfall einmal ganz abgesehen.


    Plötzlich saß ein Kloß in meinem Hals, den auch das wiederholte Schlucken nicht beseitigen konnte. Mit nahezu entsetzten Augen starrte ich Corvinus so lange an, bis ich mir der aufsteigenden Tränen bewusst wurde. Hastig schlug ich die Augen nieder und stand im nächsten Moment auf.


    „Ich muss jetzt gehen. Danke für die Hilfe“, murmelte ich zum Fußboden und schickte mich an, aus dem Zimmer zu flüchten.

  • Hatte ich mich eben noch aufgeführt wie ein Hornochse, wurde ich mir nun bewusst, dass ich mich wie einer aufgeführt hatte. Mit Daumen und Zeigefinger fuhr drückte ich kurz meine Nasenwurzel, als ich Deandras Tränen und ihr Entsetzen bemerkte. Es tat mir schon wieder leid, was ich gesagt hatte. Ich hatte nicht das Recht dazu, ihr die Sache mit Sophus zu vermiesen, denn schließlich war sie deswegen nicht mehr meine Schwester.


    Von meinem schlechten Gewissen blieb ich noch einen Moment gefesselt an meinen Stuhl sitzen, ehe ich mich endlich erhob. Deandra schaffte es in dieser Zeit bis fast zur Tür, wo ich sie schließlich mit einigen großen Schritten einholte und nach ihrem Unterarm griff.


    "Deandra! Warte. Das war nicht so gemeint."


    Ich drehte sie mit sanfter Gewalt zu mir herum und sa zu ihr herunter. Sie weinte, und wieder war es meine Schuld. Wie zu dem Zeitpunkt, als sie mir die Adoption offenbart hatte. Ich machte ein zerknirschtes Gesicht. Sicher glaubte sie jetzt, ich würde das nur sagen, weil sie weinte und nicht, weil ich es ernst meinte. Frauen waren in dieser Hinsicht äußerst schwierig, das wusste ich von einer Bekannschaft in Griechenland. Ich hob die Hände und legte sie an ihre Wangen, um mit den Daumen die Tränen fortzuwischen.


    "Deandra, nicht weinen", sagte ich leise.
    "Es ist nur...es macht mich ganz krank, wenn ich mir vorstelle, dass du und Sophus.."


    Stocken. Fehlende Worte. Hilflos zuckte ich mit den Schultern und hoffte, dass sie verstehen würde, worum es mir ging.

  • Das ist so eine Sache, wenn man bemüht ist, die Fassung so gut es ging zu wahren, dann aber auch noch getröstet wird. Zumeist öffnete das ungewollt die Schleusen, auch wenn eine Entschuldigung ohne Zweifel immer gut tat. In den letzten beiden Tagen hatte mich Corvinus häufiger verletzt als im ganzen Jahr zuvor. Aber nicht nur unser Verhältnis hatte sich geändert, sondern vieles und wie mir schien, alles zum Schlechten.


    Manchmal jedoch kam noch der alte Corvi zum Vorschein - so wie gerade, als er leise bat, ich solle nicht weinen. Der Versuch gelang sogar, aber es waren traurige Augen, die ihn nachdenklich betrachteten. Die versuchten zu verstehen, was er mir sagen wollte. Ich ließ seine Erklärung nachklingen, wieder und wieder, nur um sicher zu sein, dass ich nicht fehlinterpretierte.


    „Was wäre, wenn es Sophus in meinem Leben nicht gäbe?“, fragte ich zaghaft nach. Sophus – ich hatte so viel mit ihm geteilt: Schöne Stunden und schwierige Zeiten, ich war wegen ihm nach Mantua gezogen, hatte ihn, so lange ich denken konnte, geliebt und häufig, viel zu häufig vermisst. Liebe beginnt zu sterben, wenn sie nicht gepflegt wird. Meine nicht, dachte ich immer. Davon war ich bis zur Stunde überzeugt.


    Warum ging mir all das durch den Kopf, als ich Corvinus betrachtete? Seine Nähe war nichts Ungewöhnliches für mich und doch sah ich ihn zum ersten Mal mit den Augen einer Frau. Lag es an dem zuvor erörterten Thema, dass ich seine Hände intensiver spürte? Oder wurde mir erst durch seine abweisende Art bewusst, wie wichtig er doch für mich war? Nein, Quatsch! Wichtig war er schon immer. Was redete ich mir denn gerade ein? Trotzdem machte mich seine Nähe gerade nervös. Den Herzschlag konnte er zum Glück nicht hören und das beginnende Zittern der Knie merkte er hoffentlich nicht.


    ‚Reiß dich zusammen, Deandra’, sagte ich zu mir selbst. ‚Ein Mann, der wahllos Frauen und Männer begattet, für den die Heirat der Zwang zur Treue ist, nein, da ist Sophus’ distanzierte Art noch tausendmal besser. Warum habe ich nur diese Frage gestellt?! Also bitte, Corvi, schnell eine Antwort, denn dann kann ich gehen.’

  • Ich fühlte mich schlecht. Das zumindest war es, was ich wenigstens eindeutig sagen konnte. Der Rest war zu vermischt, zu verschwommen und undurchsichtig, als dass ich es hätte klar einer bestimmten Empfindung zuordnen können. Ich stand zwar direkt vor Deandra und hatte meine Hände an ihre Wangen gelegt, aber zugleich war ich auch gar nicht anwesend. Da war etwas, das ich ergründen musste. Etwas, das sich mir nicht freiwillig offenbaren wollte, aber schon immer in mir geschlummert hatte, auch wenn ich es nur erahnen, aber niemals wahrhaben konnte. Ich ließ von Deandras Wangen ab und schloss sie stattdessen einfach in die Arme. Das tat ich aus zweierlei Gründen. Zum einen wollte ich ihr einfach nur eine Art solider Geborgenheit schenken, zum anderen wollte ich stumm hier stehen bleiben und nichts sagen müssen, obwohl ich ihre Frage sehr wohl vernommen hatte. Sie hallte tief in mir wider, als sei ich ein aus Marmor erbauter Tempel. Deandras Hinterkopf mit einer Hand haltend, sie mit der anderen über Schulter und Rücken hinweg umarmend und beruhigend streichelnd, stand ich vor der Tür zu meinem cubiculum und starrte die Tür an. Warum fragte sie mich das? Wieso stellte sie mir eine Frage, auf die ich keine Antwort wusste?


    Der Duft ihres Haares stieg in meine Nase, wie ich so dastand und nichts antworten konnte. Wir hatten doch als Kinder den Sklaven in der Küche Streiche gespielt. Wie oft hatten wir im Garten unter der alten Zeder gelegen und alberne Spiele gespielt, uns vorgestellt, wir wären das Kaiserpaar und hätten das imperium zu verwalten? Wir waren aufgewachsen wie Geschwister und hatten niemals anders empfunden, warum sollte sich das nun ändern, nur weil Deandra den Weg gewählt hatte, der sie näher an Sophus brachte? Nein, das durfte nicht sein, es war schlichtweg unmöglich. Mit mir stimmte etwas nicht. Ich brauchte Ruhe. Vielleicht sollte ich nach Ostia reisen und ein paar Tage am Strand verbingen, damit die salzige Brise meinen Kopf wieder klar machte und ich Abstand gewinnen konnte. Ich war verletzt und enttäuscht. Womöglich konnte ich meine Empfindungen nicht richtig deuten und mein Unterbewusstsein redete mir Dinge ein, die einfach nicht stimmen konnten.


    Ich seufzte tief. Jeder Atemzug trug mir erneut den Duft ihres Haares und den des wohlriechenden Körperöls zu, das sie verwendet hatte und das nun ihre samtene Haut auf eine geschmeidige Art benetzte. Herrje, es war Deandra, keines der Mädchen, die ich ab und an für eine Nacht hier zu Gast hatte! Ich starrte die Tür an, die Maßerungen, die im Holz der Zeder zu erkennen waren. Und es stand immer noch die Frage im Raum, zu der ich keine Antwort gewusst hatte.


    "Es gibt ihn aber. Und daran solltest du jetzt denken, Deandra", sagte ich zur Tür, hinter der Assindius verborgen stand. Ich schloss die Augen und atmete ein letztes Mal ihren Duft ein, dann ließ ich sie los und trat einen Schritt zurück, unsicher dreinblickend. Wenn sie doch nur ging... Dieser Tag war kein guter Tag. Es hatte mit dem vergeudeten Brief angefangen und würde darin enden, dass ich mir eine zweite Karaffe Wein bringen ließ, um die unsittlichen Gedanken darin zu ertränken.

  • Das Mustern seiner Gesichtszüge brachte keine Aufklärung über die Gedanken hinter Corvis Stirn. Unklar war, ob er sie für sich behalten wollte oder nicht zu formulieren wusste. Also gab ich dem sanften Druck seiner Hände nach, ließ mich zwar umarmen, lehnte sogar den Kopf bei ihm an, sträubte mich aber, den vollen Körperkontakt einzugehen. Seit heute spürte ich eine ungekannte Zurückhaltung, die Vertrautheit war abhanden gekommen, sie hatte Unsicherheit Platz gemacht. Mir wurde klar, dass der rechtlichen Trennung eine emotionale gefolgt war. Ich hatte einen Bruder verloren, unwiederbringlich, und nichts außer der Freiheit gewonnen, Sophus heiraten zu können – viel wert, aber der Preis war hoch.


    Auch sein Streichen über den Rücken, das sonst stets beruhigend gewirkt hatte, fühlte sich anders an: Es erinnerte mich an Sophus. Nicht weil er ähnliches getan hatte, aber weil das Ergebnis ein vergleichbares war. Vermischten sich jetzt beide Männer zu einer Person? Vielleicht hatte mir einer der claudischen Sklaven eine Art Rauschmittel ins Essen getan. Wie anders sollte ich mir sonst diese merkwürdigen Empfindungen sonst erklären? Eins stand fest: Wollte mich Corvinus gerade beruhigen, gelang ihm das äußerst schlecht, trat doch eher das Gegenteil ein. Ich empfand seine Hände heute vollkommen anders, es würden wohl nie wieder die meines Bruders sein.


    Endlich rang er sich eine Antwort ab, allerdings keine, die wirklich Aufklärung bot. Das jedoch war mir im Moment egal, verlangte es mich doch verstärkt nach Abstand, nach dem Alleinsein, nach ungestörten Gedanken. Das Wenige, was er äußerte, konnte ich aber unterstreichen.


    „Ja, er ist etwas ganz Besonderes.“ ‚So wie du’, fügte ich an, hütete mich aber, diese Worte auszusprechen. Möglicherweise konnte er sie aber in meinen Augen lesen.


    Wieder betrachtete ich sein Gesicht für lange Momente, als er wenig später unmittelbar vor mir stand. Irgendwann senkte ich die Augen, streifte dabei Brust und Bauch, bevor der Blick am Boden haftete. Mit den Worten, „Ich gehe jetzt“, leitete ich meinen Rückzug ein. Ich legte die Hand auf die Klinke, drückte sie, hielt noch einmal kurz inne, um zu ihm zu schauen, und schlüpfte anschließend durch die Tür, die ich hastig hinter mir zuzog.


    Ein tiefer Atemzug, begleitet von aufgerissenen Augen, war die erste Reaktion, als ich im Gang stand. Worüber ich im Einzelnen entsetzt war, wusste ich nicht zu sagen – vielleicht vor mir, vor seinem wechselhaften Verhalten, seinen Worten, vor der Erkenntnis, dass ich nie wieder die gewohnte Vertrautheit erleben würde …


    Schließlich wurde ich Assindius’ Anwesenheit gewahr und riss mich zusammen.


    „Ich möchte in die Villa Claudia zurückkehren“, murmelte ich. Anschließend setzte ich mich kraftlos in Gang.

  • Is klar. Was ist denn jetzt. Was ist denn da passiert. Die Herrin wirkt so, na ja wie denn, abwesend.


    "Ja Herrin"


    Verwirrt und ratlos blickte ich, im gehen, in den noch offenen Raum.

  • Besonders. Was war schon besonders? Besonders waren Kleinigkeiten, wie ein ernst gemeintes Lächeln einer lieben Person, ein Charakterzug, der bei einem Menschen stärker ausgeprägt war als andere. Waren Menschen besonders? Konnte ein Mensch mit seinem ganzen Sein etwas Besonderes sein? Ich sah Deandra zweifelnd an, sie sah auf eine Art und Weise zurück die ich nicht zu deuten vermochte. Auch als sie bereits wegsah, blickte ich noch in ihr Gesicht. Meine Schwester, sagte ich mir. Das war sie gewesen und auf eine profane Art und Weise war sie es noch immer. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass sie es rechtlich gesehen eben nicht mehr war. Aber es war trotzdem nicht akzeptabel, was ich hier in diesem Moment empfand. Das war nicht die Liebe zu einer verlorenen Schwester, nur was es war, das konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Es war seltsam. Das war aber auch schon alles, was ich wusste.


    Die Hand bereits beim Öffnen der Tür, sah sie mich noch einmal an.
    "Ja", antwortete ich zerstreut auf ihre Verabschiedung. Ziemlich einfallslos, aber mein Kopf war in jenem Moment einfach zu voll, zu viele Gedanken wirbelten darin durcheinander, ohne dass ich einen fassen konnte. Ich räusperte mich, einerseits, um mich zu fassen, andererseits, um zumindest irgendetwas zu tun als nur herumzustehen und Deandra nachzublicken. Bald fiel die Tür ins Schloss. Ich starrte sie noch einen Moment an, bis sich ihre Schritte und die des Sklaven entfernten, dann wandte ich mich um und setzte mich an den Schreibtisch, auf dem noch die erotischen Bilder von vorhin lagen. Ich griff nach der Feder und drehte sie gedankenverloren auf dem Kiel hin und her, den Blick dabei auf den Allerwertesten einer der Damen auf den Bildern gerichtet und zugleich nichts erblickend. Ich dachte an Deandra und Aquilius und fragte mich, ob ich vielleicht wirklich nicht ganz bei Sinnen war.

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