Subura | Pars Romanae oder der tiefe Fall eines Piraten

  • Roma- DCCCLVII A.U.C. (104 Anno Domini) Der Regen ergoss sich in breiten Strömen auf die Pflastersteine in Rom, sammelte sich zu trüben Bächen und versickerte in den Untiefen der ausgeklügelten Cloaca, um sich in einem großen braunen, morastigen Strom im Tiber zu ergießen. Ein einsamer Wagen polterte früh morgens durch die Strassen, die Regenschlieren wurden von dem Ochsengespann zerrissen und schlossen sich hinter dem Wagen abermals. Zwei Gestalten hockten auf der Laderampe, hatten eine grobe Decke um sich gelegt. Ungleicher konnten die Beiden nicht erscheinen. Einer war klein gewachsen, hatte eine vernarbte Gesichtshälfte, melancholisch vor sich hin starrend, sein Körper wirkte monströs deformiert, der Andere überragte den Ersten um ein gutes Stück, hatte einen dunklen Dreitagebart und einen finsteren Gesichtsausdruck.
    Missgelaunt betrachtete Tullius die Straßenzüge der Subura, die ihm nicht unvertraut waren. Er erkannte jeden Winkel, jede Gasse wieder, die fast sein ganzes Leben geprägt hatte. Der Ochsenkarren hielt, ein dicker Mann drehte sich nach hinten um. „Weiter fahr’ ich nicht hinein, Du da. Den Rest müsst ihr schon laufen!“ Tullius Augen waren düster umschattet, er neigte den Kopf und stieg vom Wagen herunter, sein Amicus folgte ihm.
    Schmerz zuckte über Tullius Gesicht als er sein Bein mit Gewicht belastete, die Stichwunde des Trierarchius brannte immer noch höllisch. Keine Schwäche zeigen. Nicht hier in der Subura, wo die Augen der Bewohner einen Mann von jedem Fenster, jeder Gasse und Straße belauerte.
    „Das wird er mir noch büssen!“
    Das Plätschern des Regens übertönte seine leise daher gesprochenen Worte. Humpelnd und langsam schlug sich Tullius mit seinem parthischen Freund in die nächste Gasse.
    Eine Insula, der Regen legte sich wie ein feiner Dunstschleier auf die roten Schindeln, die ehemals weiße Fassade war schmutziggrau. Eine Tür, eine Hand klopft kräftig dagegen. „Moment!“ Schritte ehe die Tür sich öffnete. Eine Frau, dunkelhaarig und mit seinen Fältchen um ihre Augen, ebenso um ihren Mundwinkel, spähte nach draußen. Überrascht riss sie die Augen auf. „Quintus? Du…lebst noch?“
    Mit einer Hand hielt sich Tullius am Türrahmen abgestützt und sah die Frau, die auf die Fünzig zuging, düster an.
    “Das siehst Du doch. Darf ich reinkommen?“
    Unwillkürlich griff sich die Frau an die Brust, zögerte erst und nickte auf die Letzt. „Natürlich, komm rein.“
    Erst als Tullius in die kleine Insulawohnung hinein getreten war, sah die Frau den Parther und erschrak bei dessen monströsen Erscheinung. Tullius deutete auf seinen Amicus.
    „Das ist Dardarshi, ein Freund von mir. Darshi, das ist Laevinia, meine Mutter!“
    Dardarshi blinzelte ebenso verblüfft ebenso wie Tullius’ Mutter. Doch Dardarshi erinnerte sich schnell an seine Manieren und verbeugte sich vor Laevinia. „Werte Dame, es ist mir eine Freude, eine so wunderschöne Römerin kennen lernen zu dürfen.“ Laevinia nickte schwach und schloss hinter den Beiden die Tür.

  • Die Nacht hatte ihre breiten Schwingen wie die eines schwarzen Raben über die ewige Stadt gelegt. Die Lichter der vielen, vielen tausend Menschen erstrahlten wie tausend Sterne aus den ausdruckslosen Augenhöhlen der Häuser. Aus dem Dach der Insula stoben einige Fledermäuse, die schon seit Jahren im Gebälk dieses Wohnhauses zu leben pflegten. Ein leichter Regenschauer ergoss sich über die Strassen, rann an der Fassade der Insula herunter und sammelte sich in den Gossen zu schmutzigen kleinen Bächen. Eine dunkle Gestalt huschte die Gasse entlang, ungesehen und unbemerkt. Ein junges Mädchen eilte durch den Innenhof und warf immer wieder ängstliche Blicke über ihren Rücken, in ihren Armen trug sie ein leise wimmerndes Bündel. Aus Furcht vor ihrem Vater würde sie ihr Kind heute Nacht noch aussetzen. Ein alter Mann schlürfte nur wenige Momente nach dem Mädchen denselben Weg, doch er wollte lediglich sich Erleichterung verschaffen.
    Ein Stockwerk weiter oben stöhnte Quintus Tullius leise auf als Laevinia behutsam den geblichrot verfärbten Verband von seiner Verwundung löste. Unzufrieden betrachtete sie sich die schlecht verheilende Wunde. „Verzeihung, werte Dame!“ Dardarshi trat heran und hielt in seiner Hand eine tönerne Schüssel mit einer Kräutertinktur. Tullius hob seinen Arm, damit Dardarshi besser an die Schwertwunde heran kam. Laevinia entfernte sich einige Schritt, strich mit ihren Fingern über den dunklen Holztisch neben den beiden Männern und sah stumm auf Tullius, woher er die Wunden hatte, wagte sie nicht zu fragen.
    „Ich habe mich ein wenig umgehört, Amicus. Aber die Subura ist fest in den Händen einiger Männer und so einer seltsamen Totengräbervereinigung. Man müsste sich erst reinarbeiten und deren Strukturen erfahren. Und das kostet Zeit. Außerdem….es ist….so entwürdigend. Nachdem…“
    Mit einem Blick auf seine Mutter verstummte Tullius abermals und holte tief Luft als der Parther die Wunde zu säubern begann. „Willst Du immer noch eine Bande übernehmen? Das ist doch nichts für uns Beide, mein Freund!“ erwiderte Dardarshi leise und sah konzentriert auf seine Arbeit. Tullius zuckte mit der Schulter und starrt auf die geschlossenen Fenster, eine Fledermaus streifte von außen daran entlang.
    „Entweder das oder wir werden in Rom nicht Fuß fassen können. Sollen wir etwa noch mal zur Classis zurück?“
    Heiser lachte Tullius und zuckte zusammen als der Schmerz durch seinen Körper raste. Was für eine blamable Situation war das doch. Noch vor wenigen Wochen befehligte er ein ganzes Schiff, jetzt konnte er sich nicht mal einen Falerner leisten. Und hier in Rom war es nun mal nicht sehr einfach mit dem Entwenden fremden Eigentums. „Ich….hätte eine Arbeit für Dich, Quintus.“, warf zögernd seine Mutter ein. Tullius sah von dem akribisch geputzten Holzboden auf und seine Augenbraue wölbte sich in die Höhe.
    „Ja?“
    Einen Moment zögerte Laevinia, ehe sie ihm den Vorschlag unterbreitete.
    „Der Schlachter am Ende der Gasse sucht noch einen Helfer…“

  • Graubraunes Gewölk streckte sich bleiern und wie eine schwere Decke über den Himmel, färbte die Stadt in ein trübes und rostfarbenes Licht. Die Sonne schien immer wieder gegen die Wolkenschleier ankämpfen zu wollen, obsiegte jedoch nicht. Düster klingelten die Glocken einiger Priester, die Weihrauch schwenkend durch die Strassen zogen, zwischen sich trugen sie wächserne, schwarze Masken, die Etruskisch anmuteten. Eine Gruppe junger Frauen lief die Strasse entlang, gefolgt von einer Heerschar von Sklaven. Ein junger Mann trug ächzend einen Sack auf dem Rücken durch die Strassen, lenkte seine Füße in Richtung der Subura und tauchte in die Gassen des Viertel der Armen und Besitzlosen. Mit seiner Schulter stieß er gegen einen bulligen Mann. „He, pass doch auf!“
    Eingezogenen Kopfes schritt der Mann schneller aus und trat auf einen Laden zu, mit einem Ächzen ließ er den Sack auf den Boden fallen. Das laute und schmerzhafte Quiecken eines Schweines ließ ihn schaudern, nur beiläufig warf er dem Schlachter nebenan einen Blick zu, verschwand dann mit dem Sack im Inneren des Hauses.
    Ein Schwall roten und heißen Blutes ergoss sich zu Tullius Füßen, umspülte seine ledernen Calcei und tränkte die Sohle mit dem metallsüßen Nass. Düster sah Tullius auf das mild schimmernde Blut hinab und biss die Zähne zusammen. Bis zu den Knöcheln im roten Lebenssaft zu stehen war keine neue Erfahrung von ihm, jedoch nie von Schweinen. Mit Wucht ließ er das Schlachterbeil auf das Stück Fleisch hinabsausen und zerhakte die Keule in zwei Anteile, ließ seine Wut über diesen äußerst deplorablen Abstieg an dem noch warmen Schweinefleisch aus. Erneut und abermals schlug er darauf ein, zerlegte es und warf die Fleischbrocken in einen dunkelbraunen, vom Blut verklebten, Korb.
    „Meine Frau sagt mir ständig, dass ich zu etwas Besseren geboren bin. Aber was will man denn schon anderes hier in der Subura finden? Meine Frau kommt aus einer Handwerkerfamilie, weißt Du, und will immer das Beste vom Besten haben. Ständig neue Tunicen, in die Thermen gehen und arbeiten will sie auch nicht. Dabei haben wir…“
    „Halt’s Maul!“Finster wandte sich Quintus Tullius zu seinem Nebenmann um, der die Lende von der fettigen Hautschwarte befreite und dabei auf Tullius einredete. Eisigkalt hatte Tullius seine Augen auf den Mann gerichtet und hielt das Hackbeil fest in seiner Hand.
    „Mich interessiert weder Deine Frau, noch die Umstände Deines wertlosen und unnützen Lebens. Noch ein Wort und ich hack Dir die Hand ab. Dann kannst Du Dich als Bettler verdingen. Verstanden?“
    Erstarrt sah der Mann Tullius an, wurde immer blasser und ließ hastig sein Fleischermesser fallen, verschwand taumelnd zwischen den halben Schweineleibern, die in dem großen Innenhof des Fleischers an eisernen Hacken aufgehängt waren. Nochmals ließ Tullius das Hackbeil auf das Fleisch herunter sausen und stellte sich vor, es wären die elenden Römer der Triere Ulpia.

  • Ein kühler Wind fegte über Rom hinweg, schlängelte sich zwischen den Hügeln hindurch, ließ die Flammen in den Feuerschalen vor den Heiligtümern der Stadt erzittern und wehte so manch edler Dame die Palla vom Kopf. In der Subura jedoch war hiervon nur wenig zu spüren. Zu dicht stand Mietshaus an Mietshaus gedrängt, zu stickig waren die Ausdünstungen, die sich gleich Rauchschwaden aus den Läden im Erdgeschoss der Häuser drängten. Näher dem Stadtkern oder zum Esquilin hin mochte die Subura erträglich sein, doch jener Block, an dessen Ecke Sciurus stand, war durchweg schäbig.


    "Bei meiner Mutter, ich schwöre es dir! Heute Morgen, wie seit einigen Tagen, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!"
    Mit grimmigem Gesichtsausdruck taxierte Sciurus die belebte Straße. "Du solltest zu allen Göttern beten, dass es wahr ist, denn anderenfalls werde ich dafür Sorge tragen, dass du nie wieder etwas siehst, ebenso wenig wie deine Mutter." Sein Blick wandte sich dem verdreckten Mann zu, der gebückt neben ihm an einer Mauer kauerte, und der viel zu dick war für einen Bettler der Subura. Doch Oculus war kein gewöhnlicher Bettler, jene Münzen, welche in spärlicher Manier den Weg in seine abgenutzte Holzschüssel fanden, waren für ihn nur ein Zubrot. Speisen tat er in den Gefilden unter der Stadt, gemeinsam mit jenen Männern, für welche er Augen und Ohren offen hielt. Mächtige römische Bürger nahmen selten Notiz von jenen unter ihnen, Sklaven nahmen sie kaum wahr, doch noch weniger beachteten sie die Bettler zu ihren Füßen - sie fürchteten einzig und allein ihresgleichen, daher konnte der richtige Abschaum platziert an der richtigen Ecke durchaus mehr von Nutzen sein, denn jeder Spion. Oculus war ein winziges Korn in der gewaltigen Sanduhr, sein Wissen verkauften andere Männer mithilfe wiederum anderer Männer, wodurch sich ein weitreichendes Geflecht an Beziehungen bildete. Irgendwo außerhalb dieser Sanduhr, doch inmitten des Netzgeflechtes stand auch Sciurus, wenngleich er niemals Vergleiche zwischen dem schäbigen Bettler und sich selbst ziehen würde, und dieser Umstand war es gewesen, welcher ihm zeitig die Information zugespielt hatte, deretwegen er nun in der Subura stand.
    "Wenn du ihn gesehen hast, dann weißt du, wo du deinen Obulus hinerlegen kannst." Oculus grinste beinahe zahnlos und hinkte eilig davon.


    Obwohl Sciurus ihm kein Wort glaubte, so musst er dem doch auf den Grund gehen, war Oculus doch nicht der einzige, der ihn in der Subura gesehen haben wollte. Allein die Vorstellung war geradezu lächerlich, selbst wenn er die Subura betreten würde, so würde er dies nicht ohne ihn und schon gar nicht ohne sein Wissen tun. Die Vorstellung, dass er es doch tat, dies kränkte Sciurus, und ein winziger Funken Furcht erwuchs in ihm, davor, was er in jenem Schlachthaus vorfinden mochte. Er stand über vielen Dingen, war gegen vielerlei gefeit, einzig und allein dadurch, dass er nichts allzu nah an sich herankommen ließ, doch bedingungslose Treue gegenüber seinen Herren war immer eine Ausnahme gewesen. Der Sklave gab sich einen Ruck, ging mit festen Schritten und verschlossener Miene die Straße hinab und betrat schließlich den Laden des Fleischers. Es roch nach Blut, nach viel Blut, und Sciurus' Nasenflügel bebten obdessen leicht.

  • Dunkle Ombrage flossen sanft über das Forum Romanum hinweg. Ein Blitz zuckte über den rostfarbenen Himmel, ein Sacerdos hob sein Gesicht dem Äther zugewandt und schauderte fröstelnd, trat alsobald in den Tempel des Divus Iulius zurück, schloss die schweren Tore vor dem Rundaltar. Rhythmisch klackten die genagelten Caligae einer Abteilung der Cohortes als sie den Aktium Bogen durchquerten. An ganz anderer Stelle in der ewigen Stadt wären sie gebraucht worden, in einem Garten, ein dicklicher Mann sah starr gen Himmel, er lag auf dem Rücken und eine Gestalt, mit seinem Hab und Gut, huschte an ihm vorbei, verschwand hinter der Mauer dessen Anwesens. Eine Sklavin entdeckte ihren Herren, schrie laut. Vielleicht würde es ihr letzter Tag sein, denn der Dieb war ebenso ein Leibeigener.
    Das Messer bohrte sich tief in die Kehle, ein menschenähnlicher Laut löste sich von dem Getier und der Fleischer schnitt mit einem Ruck die Kehle des Schweines auf und teilte die Bauchdecke des Tieres. Seine lederne Schürze triefte vom Blut unzähliger Tiere, die er bereits an diesem Tag geschlachtet hatte. Grummelnd stieß er das Messer in einen hölzernen Block und überließ das Zerteilen seinen mehr oder minder willigen Handlangern. „Quintus? Ich hab mir Dir zu sprechen!“
    Tullius glasiger Blick, sein Arm steckte tief im Leib eines Schweines und entriss ihm mit einem Ruck die Gedärme, löste sich. Mit zusammengepressten Lippen warf er die Darmschlingen in das tönerne Becken mit lauwarmen Wasser und folgte dem Schlachter nach vorne. Der blieb dort ruhig stehen und sah, als einziger in der Fleischerei, Tullius unerschrocken entgegen.
    „Lucius hat mir von Deiner Drohung erzählt. Was soll das?“
    Tullius atmete tief ein und aus. Wie sehr er es doch hasste, wie jener Fleischer es wagte mit ihm zu sprechen.
    „Er hat mich genervt. Glück für ihn, dass ich es nur bei einer Drohung belassen habe.“
    Verächtlich schnaubte der Fleischer und musterte Tullius mit seinen verquollenen blassgrünen Augen.
    „Glück für ihn? Pah, eher solltest Du Fortuna danken, Quintus. Spielst Dich auf wie ein kleiner Herrscher hier, dabei bist Du genauso wie alle Anderen ein Nichts aus der Gosse, den ich mit einem Fußtritt wieder dorthin befördern kann. Wäre Deine schöne Mutter nicht, ich hätte Dich auch nicht angestellt. Man sieht Dir doch Deine Faulheit am Leibe an. Noch mal so etwas und ich schmeiß Dich raus, Du siehst dann keine einzige Sesterze, hast Du mich verstanden?“
    Die Glöckchen der Ladentür läuteten silberhell. Der Fleischer deutete auf den Durchgang. „Geh und verkaufe wenigstens etwas Fleisch.“
    Schniefend wandte sich der Fleischer um und drängte sich zwischen den toten Leibern hindurch. Tullius sah ihm mit unverhohlenem Hass hinter her, seine Faust ballte sich zusammen und er hatte nicht übel Lust, das nächste Hackbeil zu ergreifen und dem Mann in den Körper zu stoßen.
    Tullius machte kehrt und sah auf seine blutigen Arme, stieß sie in das Becken mit Wasser, wusch sich grob das Blut von den Händen. Zartrosa schimmerten seine Arme als er die schmale Tür zum Laden durchquerte, seine erdbraune Tunika war mit rostroten Fäden durchwoben und an vielen Stellen mit Blut verklebt. Kühler Miene und völlig desinteressiert auch nur eine Unze Fleisch zu verkaufen, trat er an die hölzerne Ladentheke, stützte dort seine Hand ab und sah den Mann kalt an.
    “Was willst Du?“

  • Er wusste nicht, was genau er erwartet hatte, was genau er hätte erwarten sollen, doch der Anblick des vermeindlichen Fleischers traf Sciurus wie ein harter Faustschlag mitten ins Gesicht und er konnte nicht verhindern, scharf Luft einzuziehen. Der Bart mochte nicht recht passen, denn jener Mann, zu welchem dieses Gesicht gewöhnlich gehörte, versäumte es an keinem Morgen den Tonsor oder auch Sciurus selbst zu ermahnen, gründlich zu sein. Die Haare mochten ein wenig länger sein, ungepflegt wie auch der restliche Mensch, doch Oculus lag falsch mit seiner Behauptung, jener Mann würde Sciurus' Herrn änlich sehen. Denn jener Mann sah ihm nicht ählich, er glich ihm in geradezu unheimlicher Art und Weise, und wäre nicht der scharfe Unterton seiner Stimme gewesen, zu welchem sein Herr auch bei redlicher Bemühung nicht fähig war, so wäre Sciurus ihm ohne zu Zögern zurück zur Villa Flavia gefolgt. Selbst das Muttermal auf der Wange war unter den Bartstoppeln zu erkennen. Neben der Stimme war jedoch auch der Blick ein anderer, als der seines Herren, solch abweisende Kälte hatte Sciurus noch nie darin gesehen, welche doch auch die Profession des Mannes vor ihm als Fleischer Lügen strafte, denn an anderen Männern hatte der Sklave diesen Blick oft genug gesehen, doch nie waren sie Handwerker gewesen.


    Die Situation indes war mit Sciurus' Zögern außer Kontrolle geraten, ohnehin brachte jener Anblick eine Dimension in diese Angelegenheit, über die zu entscheiden nicht angemessen für den Sklaven war. Es war nicht sein Ansinnen gewesen, irgend etwas an diesem Tag in Bewegung zu setzen, doch die Steine waren ohne jegliches Zutun bereits in Bewegung geraten und ohne sein Eingreifen würden sie im ungünstigsten Falle in einer Lawine enden. Nachdem bereits der Abschaum der Stadt Kenntnis über diese Tatsache erlangt hatte, mochten sich bald Gerüchte in Umlauf setzen, und was immer der Fleischer auch tun mochte, jene Gerüchte würden Sciurus' Herrn kaum zur Ehre gereichen. Sciurus beschloss daher all sein Glück auf den Venuswurf zu setzen.


    "Salve," sprach er schließlich trocken und nicht übermäßig laut. "Mein Herr ist auf der Suche nach einem besonderen Fleischer. Man sagte mir, ein solcher wäre hier zu finden." Beiläufig blickte er auf das Fleischermesser, welches ein Stück neben Tullius auf der Ladentheke lag.

  • Wenn ein Stein in den Fluss fällt, dann erschüttert er die glatte Oberfläche, das Wasser kräuselt sich zu kleinen Ringen und verebbt nach wenigen Atemzügen abermalig, hinterlässt ein makelloses und spiegelglattes Äußeres. Doch derjenige, der den Stein geworfen hatte, wusste, dass tief am Grunde des Flusses jener Stein ruhte. Der Fluss war nicht mehr derselbe, das Leben hatte sich verändert. Nur ein kleiner Stein vermochte dies zu ändern, brachte alles in Bewegung. Und nun war ein Stein gefallen.
    Stetig drangen die Geräusche vom Innenhof des Schlachters bis nach vorne, die sterbenden Laute der Tiere, das Schlagen der Beile, das Murmeln der Männer. Tullius sah auf den Mann vor sich und seine Augenbraue wölbte sich nach oben. Die erste Regung war Tullius nicht entgangen, der Mann schien ihn von irgendwo her zu kennen. In seinen Gedanken suchte Tullius geschwind nach einer Koinzidenz, wo er jenem Manne womöglich schon begegnet war. Auf einem Schiff auf dem hohen Meer konnte es nicht gewesen sein, ebenso wenig in der Subura, jedenfalls so sich Tullius an eine Begegnung entsinnen konnte, aber auch nicht in der Classis. Ingleichen sah Tullius zu dem Fleischermesser, seine Lippen kräuselten sich zu einem feinen Lächeln. Ehe der Mann vor ihm noch auf einen falschen Einfall kam, ergriff Tullius den Griff und ließ jenes scharfe Werkzeug zwischen seinen Fingern spielen.
    Tullius Augen blieben unverwandt auf den blauen Augen des Sklaven vor sich haften, dünkten als ob sie sich einen Weg tief in die Seele des Mannes brennen wollten. Es war schwer zu erfassen, doch etwas an diesem Zusammentreffen missfiel ihm.
    „Dein Herr sucht einen besonderen Fleischer?“
    Ein feiner Schauer zog über seinen Nacken, Tullius hatte stets seinen Instinkten vertraut und das würde er auch hier so handhaben.
    „Dann bist Du im falschen Laden. Dies ist ein konventioneller Fleischer mit Schweine- und Rindfleisch im Angebot. Wenn Deinem Herren nach etwas Exotisches verlangt, such weiter.“
    Schon aus seiner Kindheit war Quintus Tullius mit dem kryptischen Sprachgebrauch mancher Menschen in der Subura vertraut. Tullius beugte sich etwas nach vorne und löste nicht einen Moment seinen Blick von dem Mann.
    „Und wenn Du einen ganz besonderen Fleischer suchst, dann bist Du genauso falsch hier. Denn der Fleischer ist zwar ein Mann, der dem Kaiser etliche Male die anfallenden Abgaben vorenthält, aber zu schlimmeren Freveltaten ist er nicht in der Lage. Ich nehme mal an, dass Du dies genau weißt. Also, was willst Du?“

  • Sciurus war es gewohnt beherrscht zu bleiben, weder die Kontrolle über sich, noch über die Situation zu verlieren, überlicherweise auch nicht über sein Gegenüber, vor allem nicht jene dieser Art. Doch Quintus Tullius brachte ihn mehr und mehr aus dem Konzept, denn er sprach mit seiner tiefen Stimme, die nicht seine Stimme war, er sprach aus seinem Gesicht, das nicht sein Gesicht war, taxierte ihn mit seinen braunen Augen die nicht seine Augen waren. Es erinnete den Sklaven an den Tag seiner ersten Demütigung, die ungleich schlimmer gewesen war, als alles was folgte, obwohl er selbst nur bei zugesehen hatte. Es kostete ihn alle Mühe, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben, denn es koste was es wolle, er musste diesen Mann irgendwie dorthin bekommen, wo er wollte, obwohl er noch nicht einmal wusste, wo dies sein sollte.


    "Der Fleischer mag denn ein konventioneller sein, aber du bist es nicht. Weder ein Fleischer, noch konventionell." Es war ein Schuss ins Blaue, denn außer, dass jener Mann erst seit kurzem in der Subura aufgetaucht war und seit noch kürzerem hier arbeitete, wusste Sciurus nicht das Geringste über ihn, auch nicht, ob er nicht vielleicht seit Jahr und Tag in einer anderen Stadt dem Fleischershandwerk nachgegangen war. Doch mit diesem Gesicht konnte man weder konventionell, noch Fleischer sein.


    "Ich nehme mal an, ich suche also nach dir." Die Tatsache war mitnichten eine Lüge, wenn auch die Annahme, denn Sciurus wusste es. Während er auf die Antwort seines Gegenübers wartete, vernahm Sciurus das Quietschen eines Schweines, welches gerade inbegriffen war abgestochen zu werden, aus dem hinteren Bereich des Ladens, und obwohl er nicht genau wusste weshalb, so schien ihm dies durchaus die passende musikalische Untermalung - womöglich, da er sich selbst ein wenig so fühlte.

  • Hortalus, vielleicht hatte er bereits seine Spur gewittert, wie ein Jagdhund die eines leichten Opfers. Unwillkürlich resümierte Tullius die letzten Momente des Kampfes zwischen dem Trierarchius und ihm. Das tiefe Grollen des Meeres rauschte an seinen Ohren vorbei, das Schwanken der unbändigen Wellen wollte ihn von den Füßen und ihn in die Fluten Neptuns reißen. Als sich das Schwert, hinwieder nur in Gedanken, sich in seine Seite bohrte, war der Schmerz einem Echo gleichend an seinen Rippen zu spüren. Tullius atmete tief ein, unterdrückte den Impuls das Messer in die Kehle des Mannes zu stoßen. Dass Hortalus ihm bereits auf der Spur sein konnte, erschien Tullius wie ein Wunder, wähnte er sich doch in Urbs Aeternae sicherer als in einem Fischerdorf im Süden Italias. Doch sollte der Mann von Hortalus geschickt sein, er würde keinen Schritt aus diesem Laden mehr machen können. Tullius' Mundwinkel zuckte verächtlich.
    „So, mich suchst Du also?“
    Seine Schulter zuckte unter dem stummen Gelächter, was seine Lippen nicht erreichte. Eine Hand griff nach einem blutigroten Fleischstück und sein Messer bohrte sich tief in die Fasern hinein, zerteilte das Fleisch.
    „Vielleicht bist Du immer noch auf der falschen Spur.“
    Tullius legte das Stück Fleisch auf ein grobes Stück Leinen und faltete es zu einem kleinen Ballen. Mit verschlossenem Gesichtausdruck schob Tullius das Bündel zu Sciurus und stützte sich mit seinen Ellbogen auf dem Holz vor sich ab.
    „Das sind 5 Sesterzen für das Fleisch. Entweder Du zahlst und gehst oder Du sagst mir augenblicklich, was Du von mir willst und wer Dich geschickt hat.“
    Gleichwohl Tullius lässig wirkte in seiner Haltung, war er doch zum Äußersten angespannt. Würde nur eine Andeutung zu seinem früheren Leben, zu seinem Piratenleben, kommen, dann wusste er, dass ihn Hortalus entdeckt hatte, wenn auch nur durch einen seiner Mannen. Seine Finger spürten das Messer vertraut an seiner rauen Haut, was er im selbigen Moment in den Mann vor ihn stossen, wenn er das Falsche von sich geben würde.

  • In diesem Augenblick schalt sich Sciurus selbst einen törichten Narren, denn töricht war es gewesen, so blindlings in diese Situation hinein zu laufen, getrieben von gekränkter Eitelkeit, ohne zuvor auch nur die geringsten Informationen über sein Gegenüber einzuholen, das den Anschein eines verwundeten Tieres gab, gefährlich dadurch, vor allem mit dem Messer in seiner Hand. Natürlich war auch Sciurus nicht unbewaffnet erschienen, doch er hatte den Nachteil desjenigen, der seine Waffe erst hervorziehen musste, zudem würde es noch törichter sein, sich auf einen Kampf einzulassen, der weder Ziel noch Zweck hatte, und jeglichen Interessen des Sklaven zuwider laufen würde, denn auch, wenn er über jene noch nicht gänzlich sicher war, ein Kampf lag ganz sicher nicht darin.


    Hätte jener Mann das Gesicht eines anderen getragen, Sciurus hätte ihn ohne zu Zögern für seine eigenen Geschäfte eingespannt, doch mochte er auch keinerlei Skrupel besitzen, jemanden verschwinden zu lassen, so gab es eine einzige Grenze, welche zu Überschreiten er hinsichtlich seiner Geschäfte nicht bereit war, und dies waren die Belange seines Herren, mochten diese auch nur indirekt betroffen sein. Er nickte daher, langsam und bedächtig. "Vermutlich hast du Recht, wahrscheinlich suche ich einen anderen. Fleischer gibt es hier in der Subura immerhin mehr als Fische im Tiber." Aus einem Beutel an seinem Gürtel holte er fünf Münzen hervor, legte sie auf das Holz und schob sie zu Tullius hinüber. Er wollte noch etwas anfügen, als ein Kunde den Laden betrat. Mit einem kurzen Seitenblick taxierte Sciurus den Neuankömmling, griff dann nach dem Fleischpaket und nickte dem vermeintlichen Fleischer zu. "Vale bene."


    Als er den Laden verließ, konnte er Oculus lauernd an der nächsten Ecke ausmachen. Er nickte mit seinem Kinn die Straße entlang und bedeutete ihm, dass er folgen solle, doch erst ein paar Straßen weiter blieb Sciurus stehen, um auf den Bettler zu warten.
    "Es ist wahr, nicht wahr?" Oculus grinste sein triumphierendes, lückenhaftes Lächeln.
    "Hier hast du deinen Obulus, barbone!" Der Sklave drückte ihm das Paket Fleisch in die Hand, rotes Blut hatte sich längst durch den Fetzen Stoff gedrückt und klebte an Sciurus Händen. "Finde heraus wo er herkommt, wie er sich nennt, wo er sich sonst noch herumtreibt und wo er seine Nächte verbringt. Sorgt dafür, dass niemand ihm zu nahe kommt und wenn er irgendwo auffällig wird, dann verhindert das, aber passt auf, dass ihm nichts passiert. Hast du verstanden?"
    Der Bettler wusste zwar, mit wem er es zu tun hatte, doch alles gefallen lassen musste er sich nicht. Unschuldig blickte er von unten zu Sciurus herauf. "Das ist ziemlich viel für ein Stück rohes Fleisch, findest du nicht? Wer bezahlt das alles, was mich den ganzen Tag von meiner Arbeit abhalten wird?"
    "Mein Herr wird dafür aufkommen."
    "So so, dein Herr? Nun, dann werde ich mir besonders große Mühe geben."


    An einem der öffentlichen Brunnen wusch sich Sciurus die Hände, bevor er den Weg zu den Archiven des Cultus Deorum einschlug. Obwohl seine Gedanken nur um jene Begegnung kreisten, so musste er dennoch seine Arbeit verrichten, um nicht mit leeren Händen zu seinem Herrn zurück zu kehren, einem Herrn, dessen er sich mit einem mal nicht mehr sicher sein konnte. Doch auf dem Weg kam ihm ein weiter Gedanke, einer, der obwohl er äußerst abwegig schien noch immer die plausibelste Erklärung bot, eine Erklärung, welche er sogleich zurück in der Villa Flavia eruieren würde.

  • Und das Wasser beruhigte sich abermalig, die feinen Ringe glätteten sich, es schien als ob sich nichts zugetragen hätte. Gleichwohl war sich Quintus Tullius dessen nicht sonderlich sicher. Seine Stirn war im Misstrauen und seiner wachsenden Verwirrung mit einigen Runzeln verworfen, ohne den Abschiedsgruss zu erwidern sah er dem blonden Mann hinter her. Prüfend betrachtete er die kupfernen Münzen in seiner Hand, der Kaiser schaute ihm, mit dem scharf abzeichnenden Profil, entgegen, nichts Auffälliges. Mehr mechanisch, denn bewusst wandte sich Tullius dem nächsten Käufer zu.
    Zeitig hatte sich die Dämmerung über die Stadt gelegt, das Leben wurde in den Geschäften lahmer und erstarb stetsfort, langsam und dem trägen dahin fließenden Tiber gleichend und weniger dem schnellen Todeskampf der Schweine in der Fleischerei. Es war vielleicht die Begegnung im Laden am Nachmittag, die Tullius länger als nötig in der Fleischerei hielt. Nachdenklich verrichtete er die anfallende Arbeit, ein Mann nach dem Anderen entschwand aus dem Schlachthof und allweil von einer seltsamen Stille bereitete sich lastend in dem Innenhof aus, nur unterbrochen vom dem Pochen des Hackbeils, den Tullius immer wieder auf einige Knochenreste heruntersausen ließ. Einem dumpfen Echo ähnelnd hallten die Schritte an seine Ohren. „Mach Schluss für heute!“ Tullius löste sich von dem Anblick der vielen kleinen Knochensplitter um seine Hand herum, sie schienen denen von Menschen nicht sehr unähnlich zu sein, und wischte mit einem Stück Leder das Beil sauber. Mit seinem kantigen Kinn deutete der Fleischer auf einige Fleischreste. „Nimm die für Deine hübsche Mutter mit. Sie kann sicherlich noch eine ordentliche Fleischbrühe daraus kochen.“ Ein schmieriges Lächeln breitete sich in dessen Gesicht aus. „Sag ihr auch, dass ich sie nächste Woche mal besuchen komme.“ Tullius, der gerade nach dem Fleisch greifen wollte, erstarrte. Seine Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie zusammen.
    “Was hast Du gesagt?“
    Verächtlich schnaubend stemmte der Fleischer seine Fäuste in seine Seite und seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. „Ich seh’ schon, mit Dir ist nichts anzufangen. Nimm das Fleisch und lass Dich morgen hier nicht mehr sehen. Deiner Mutter zuliebe habe ich Dich eingestellt, aber so ein Stück Aas wie Dich kann ich hier nicht gebrauchen. Verschwinde.“ Kopfschüttelnd wandte sich der Fleischer ab. „Da will man was Gutes tun und beständig wird man enttäuscht…“ murmelte er selbstgefällig.
    Ein Röcheln entglitt seiner Kehle, mit aufgerissenen Augen sank er langsam gen Boden und fiel wie ein nasser Sack auf die Schlachtreste des Tages und sein lebloses Gesicht bettete sich auf das verkrustete Blut. Ein Hackbeil steckte in seinem Rücken, Tullius sah kalt auf ihn hinab, seine Nasenflügel bebten und doch war dies die einzige Gefühlswallung, die an ihm zu erkennen war. Die Ladenglocken läuteten hell, Tullius spannte sich an und griff nach dem nächsten Fleischerhacken, schlürfende Schritte näherten sich.
    „Du…!“
    „Du warst spät dran, deswegen wollte ich…Ist er tot?“
    „Ja! Komm, es gilt Spuren zu verwischen. Mir strebt es nicht danach, die Vigilen oder Urbanae an meinen Fersen zu wissen.“
    Sein Amicus verzog das Gesicht unwillig und sah auf den toten Fleischer hinab.

  • Der weiße Mond warf einen langen silbrigweißen Lichtstreifen auf die tiefdunkle Oberfläche des Tibers. Die Wassermassen drängten sich beständig zwischen den beiden Ufern hindurch und kräuselten sich leicht, wenn der Wind hauchzart über die Oberfläche hinweg strich. Ein schwerer Körper durchriss die makellosen Schleier des Wassers und versank in der scheinbar endlosen Tiefe. Er war nicht der erste Mann, der hier sein Ende fand und wird nicht der Letzte sein. Unzählige Körper hatte der Tiber in den letzten Jahrhunderten aufgenommen, verschluckte die Leichen und schien sie nicht mehr hergeben zu wollen.
    „Du hast Recht, es ist seltsam!“ Dardarshi vernarbte Augenbraue zuckte nach oben und er schüttelte ratlos den Kopf, deutete auf den Fluss. „Hat das damit zu tun? Steckt der Fleischer dahinter?“
    „Nein, er hat mich nur beleidigt. Kehren wir zur Insula zurück. Die Arbeit ist getan!“
    Mit geschlossenen Augen sog Quintus Tullius die kühle Nachtluft durch seine Nase hinein und stockte. Es brannte ihm förmlich auf dem Rücken, sie wurden beobachtet. Seine Lippen kräuselten sich zu einem kalten Lächeln, betont lässig wandte er sich um und lenkte seine Schritte weg vom Tiberufer und an einigen sehr schäbigen Insulae entlang.
    „Ich denke, wir müssen einen kleinen Abstecher machen.“
    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wusste Tullius, dass sein Amicus seine Anspielung verstand.
    Schwarze Schatten warfen die hohen Gestalten der Häuser auf die lang gestreckte Gasse, wie leere Augenhöhlen, geistlos und bar von jedem Leben, starrten die Fenster auf die beiden Männer hinab. Doch mit einem Mal war es nur ein Mann, der andere schien von der Erde verschlungen worden zu sein. Ein heller Schrei unterbrach die Stille der Nacht, eine scheinbar krüpplige Gestalt wurde fest gegen die Wand einer Seitengasse gestoßen.
    „Warum verfolgst Du uns?“
    grollte Quintus Tullius, hatte die Hände tief in die Schultern der Gestalt, es war ein Junge von vielleicht weniger als sechzehn Lenzen, hinein gegraben. Sein von Schmutz erstarrtes Gesicht sah Tullius trotzig und wagemutig entgegen. „Ich verfolge niemanden.“ , erwiderte er mit rauer Stimme und versuchte sich dem stahlharten Griff zu entwinden, es gelang ihm nicht. Ein Dolch blitzte vor seinen Gesichtszügen auf und die scharfe Spitze fuhr bedächtig an seiner schmutzigen Wange entlang.
    „Dafür bist Du uns aber schon lange auf den Fersen, Kleiner. Also, warum verfolgst Du uns?“
    Schweigen, mit Starrsinn sah der Junge an Tullius vorbei und erschrak nicht einmal als Dardarshi hinzutrat. Tullius, dem das auffiel, packte eine Hand des Jungen und stieß seinen Dolch hinein. Ein gellender Schrei löste sich von dessen Lippen, der in der Nacht klar widerhallte. Tränen rannen ihm über das Gesicht, hinterließen weiße Schlieren auf der braunen Patina.
    „Sprich oder ich mache weiter bis Du tot bist, Kleiner!“
    Stossweise entrann dem Jungen der Atem und immer wieder erzitterte er, suchte gehetzt nach einer Ausflucht gepaart mit dem dumpfen Aufschluchzen. „Ich…ich soll sehen, was Du tust…und wir sollen auf Dich acht geben…damit Dir nichts passiert.“
    Tullius Augenbraue wölbte sich in einer langsamen Bewegung nach oben, um seine Mundwinkel spielte ein leichtes Zucken.
    “Tatsächlich? Und wem verdanke ich das?“
    Erst der Schmerz des Dolches löste die Zunge des Jungen. Wimmernd flüsterte er leise einen Namen, einen Namen mit dem Tullius nicht sonderlich fiel anfangen konnte. „Sciurus!“
    Als sich hastige Schritte der Seitenstrasse näherten, lag der Junge mit einer feinen Spur an der Stirn neben der Häuserwand. Flach und gepresst ging sein Atem. Ein anderes Geschöpf der Subura sah auf ihn hinab und in die nächste dunkle Gasse, von Tullius und Dardarshi war nichts mehr zu sehen.

  • Viele Treppenstufen hatte Gracchus im Laufe der Zeit schon genommen, immerhin gab es kaum einen Tempel in Rom, der nicht auf einem Podest errichtet war und darum nur über solche zu erreichen, zudem hatte er so manches mal statt die langgezogene Straße zum Kapitolstempel hinauf die steile Treppe nahe dem tarpeischen Felsen benutzt, doch jene wenigen Stufen, welche er nun hinter seinem Leibsklaven Sciurus empor stieg, machten ihm schwerer zu schaffen als jede Treppe zuvor, doch nicht etwa körperlich, sondern gedanklich. Als sein Sklave ein wenig nervös, um nicht zu sagen aufgelöst, am späten Nachmittag in sein Cubiculum getreten war und ihn darum gebeten hatte, ihm aus äußerst wichtigen und dringlichen Gründen zu folgen ohne dabei Fragen zu stellen, hatte Gracchus nicht gezögert dies zu tun. Selten hatte er Sciurus so aufgeregt gesehen, es schien ihm bald als würde selbst seine Stimme zittern, so dass es wahrlich eine dringliche Angelegenheit sein musste. Zudem hatte er keinerlei Anlass, an den Motiven seines Leibsklaven zu Zweifeln, denn wem konnte er noch vertrauen, wenn nicht ihm? Er hatte sich darum in die bereitstehende Sänfte gesetzt, ohne zu fragen, wohin der Weg führen würde, und einzig der kleine Tross an Sklaven - neben den Trägern gleich zehn an der Zahl, vier mit Fackeln in den Händen, sechs weitere mit Knüppeln - hatte ihn ein wenig in Sorge versetzt, und während die Sänfte um ihn herum leicht schwankte hatte er sich, inspiriert von den vielen in früherer Zeit geradezu verschlungenen griechischen Tragödien, bereits alle möglichen furchtbaren Situationen ausgemalt, in welchen Mitglieder des flavischen Haushaltes in Schwierigkeiten steckten, manches Mal Caius den Protagonisten mimte, manches mal Minervina, Leontia oder Serenus, und in selten Fällen sogar Antonia. Erste Zweifel ob der Vernunft seines Sklaven waren ihm schließlich gekommen, als die Sänfte hinter dem Forum Augustum anhielt und Sciurus darauf bestand, dass sie zu Fuß weiter gehen mochten, denn die gewaltige Mauer hinter dem Tempel des Mars Ultor schirmte nicht nur die Kaiserforen vor der Gefahr der Flammen ab, sie trennte gleichsam das begehbare Rom von jenem, in welches sich Gracchus nur ungern begeben mochte, denn die Subura war kein Ort, welchen ein Mann, der es sich leisten konnte dies nicht zu tun, gerne betrat, beileibe nicht im Dämmerlicht. Doch auch als sein Sklave ihm einen Umhang gab, welcher beinahe bis zum Boden reichte und damit nicht nur den Dreck der Straße an seinem Saum haften ließ, sondern gleichsam den goldenen Halbmond an Gracchus' Stiefel verbarg, und ihn aufforderte, zudem die Kapuze über den Kopf zu schlagen, stellte Gracchus noch keine Fragen, denn obwohl sich zunehmendes Unwohlsein in seiner Magengegend ausbreitete, spürte er gleichsam ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen und all dies erinnerte ihn ein wenig an jene Zeit, als er heimlich mit Aquilius des nächtens die heimische Bibliothek aufgesucht und im verborgenen Schein einer winzigen Talgkerze gemeinsam mit ihm jene Texte gelesen hatte, welche ihnen anderntags von ihrem Lehrer vorenthalten worden waren, darunter einige höchst pikante Auszüge der Ars amatoria des Ovidius Naso. Die Zweifel verstärkten sich erst wieder, als Sciurus drei der sie begleitenden Sklaven in den Eingeweiden der Subura aufforderte, an einer Straßenecke zu warten, drei weitere zur nächsten Ecke weiter schickte und mit den Übrigen bis zum Eingang einer äußerst schäbigen Insula trat, welche ebenfalls nicht im Mindesten dazu geeignet war, Gracchus Vertrauen einzuflößen. Er bemühte sich, die Wände nicht zu berühren, und mit jeder Stufe, welche sie in dem schmutzigen Wohnhaus empor stiegen, stieg ein wenig Ärger mehr in Gracchus auf, denn Sciurus wusste genau, dass Gracchus hier ebenso wenig verloren hatte wie eine jener afrikanischen Antilopen mit langem, spießartigem Gehörn auf dem Kaiserthron, und der Sklave würde eine äußerst gute Erklärung benötigen, dass Gracchus ihm nicht zürnen und sich zu Dingen hinreißen lassen würde, die er im Anschluss womöglich bereute - welche im Vergleich zu denjenigen Dingen, zu welchen Sciurus sich ab und an hinreißen ließ, jedoch völlig phantasie- und harmlos würden sein, doch davon wusste Gracchus nichts. Endlich blieb der Sklave vor einer der schiefen Türen stehen und schickte sich an zu kopfen, noch immer ohne seinem Herrn eine Erklärung bieten zu wollen, was all dies bedeuten sollte, darum hob jener die Hand und berührte Sciurus an der Schulter.
    "Wenn dies ein Scherz sein soll, so sei dir versichert, dass ich nicht die geringsten Spur von Amüsement verspüre, und dass dies Folgen haben wird."
    Seine Stimme war beinahe ein Flüstern, zudem lange nicht so drohend, wie er es sich wünschte, denn es schein ihm, als könnte die ganze Insula zusammen- oder als würden alle Verbrecher Roms über sie herfallen, sollte er auch nur im geringsten Ansatz seine Stimme erheben. Viel mehr noch, als dass dies ein Scherz war, fürchtete Gracchus, dass dies kein Scherz war, er befürchtete dies nicht nur, er war sich dessen vollkommen sicher, war sein Leibsklave doch allgemein hin ein eher humorloser Zeitgenosse. Dies war nun auch endlich der Zeitpunkt, da Gracchus zutiefst bereute, seinem Sklaven gefolgt zu sein, denn so ungern er dies auch glauben wollte, so mehr drängte sich ihm der Gedanke in den Sinn, dass Sciurus gekauft worden war und er ihm nun geradewegs in sein Verderben folgte. In Rom war sich Gracchus keinerlei Feinde bewusst, doch in den Grenzen seiner kleinen, ein wenig naiven Welt war es durchaus möglich, dass jene aus Creta eigens wegen ihm den weiten Weg auf sich genommen hatten und nun vollenden wollten, was ihnen einst nicht geglückt war. So ließ er seine Hand wieder sinken, versuchte mit der Wand hinter sich zu verschmelzen - jedoch möglichst ohne sie dabei zu berühren, unfähig jeder anderer Aktion.

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  • Sciurus hasste überhastete Aktionen, doch in diesem Falle musste er eine Ausnahme machen, denn es war nicht sicher, wie lange Quintus noch in der Insula verweilen würde. Quintus, Sohn von Laevinia, welche in dieser Wohnung, vor der sie nun standen, wohnhaft war, kaum eine Woche in Rom, Status unbekannt, doch vermutlich Peregrinus oder Libertus, vorheriger Aufenthaltsort unbekannt, bisheriges Leben unbekannt, kurze Zeit bei einem Fleischer angestellt, jedoch nicht mehr, seitdem dieser spurlos verschwunden war. Nicht spurlos, wie Sciurus am Mittag von Oculus erfahren hatte, doch zumindest auf solche Weise, dass er nicht wieder auftauchen würde. Dass eben jener Quintus dabei durchaus seine blutigen Finger im Spiel haben konnte, dies versetzte Sciurus nicht wirklich in Erstaunen, doch es beunruhigte ihn.


    Quintus war nicht Animus, doch wenn er jener nicht war, wer war er dann? Da Sciurus sich außer Stande sah, jenen Quintus irgendwie aus der Subura heraus zu locken, um dies zu ergründen, war er das Risiko eingegangen, seinen Herrn in die Höhle des Löwen hinein zu führen, denn seinen Herrn sah er sich noch immer in der Lage überall hin zu bringen, wohin er dies wollte. Sollte sich dies als Fehler herausstellen, so würden vermutlich weder sein Herr noch er selbst genügend Zeit haben, dies zu bedauern, dennoch jagte ihm die Hand auf seiner Schulter einen kurzen Schauer über den Rücken. Er hatte dafür Sorge getragen, dass die richtigen Personen wussten, wo sie waren und wen sie aufsuchten, doch das Risiko war trotz allem hoch. Sciurus hatte daher beschlossen, in offiziellem Anliegen aufzutreten, denn auch wenn die Suburbaner wenig vom Reichtum und der Pracht des römischen Reiches in ihrem eigenen Leben sahen, so waren sie doch mit die stolzesten Bewohner Roms und immer dazu bereit, ihre Pflicht für den Staat zu tun. Quintus vermutlich kaum, doch seine Mutter womöglich, und wenn Oculus seine scheinbar trüben Augen nicht dem wackelnden Hinterteil einer jungen Frau nachgeschickt hatte, anstatt sie auf den Eingang der Insula zu richten, dann waren beide derzeitig in der Wohnung, wie ihm ein unauffälliges Nicken des Bettlers, verborgen im Eingang eines Hauses schräg gegenüber, versichert hatte.


    Sciurus drehte seinen Kopf ein klein wenig zur Seite und nickte, um seinem Herrn anzudeuten, dass er seine Worte wohl verstanden hatte und sich dessen mehr als bewusst war. Sodann ließ er seine Hand auf das Holz vor sich fahren und klopfte drei mal schwer an die Türe. Bis die Frau endlich öffnete, hielt er unwillkürlich die Luft an und straffte seine Schultern. Sie war bereits über ihre besten Jahre hinaus, man sah ihr das Leben in der Subura an, doch umrahmt von ihren dunklen Haaren mochte das Gesicht jener Frau, die Laevina sein musste, noch immer als schön gelten. Sciurus jedoch hatte für solcherlei beinahe ebenso wenig Augen wie sein Herr, wenn auch aus anderen Gründen als dieser. "Salve, werte Dame. Der Magistratus Flavius Gracchus möchte mit deinem Sohn Quintus sprechen. Es geht um eine Angelegenheit von hoher staatlicher Wichtigkeit und er erhofft sich, dass dein Sohn mit sachdienlichen Informationen zum Wohle des römischen Staates beitragen kann."

  • Perlmuttfarben leuchtete der Himmel im Augenblick der Dämmerung, schlich mit dem sanften Schein über denn fahlblauen Nachthimmel, der sich immer mehr aufzulösen schien und liebkoste mit sanften Fingern den morgendlichen Nebel, der zwischen den hohen Häusern der Subura und den sieben Hügeln der ewigen Stadt schwebte und alle Geräusche und jegliche Grausamkeiten der Urbs ihrer Härte zu rauben schien. Über dem feinen Gespinnst aus Nebel segelte auf aufgefächerten Schwingen ein einzelner Adler, seine scharfen Augen spähten bis hinab zu den Strassen der Stadt und den Gärten der Reichen, mit dem Aufwind trieb er sich bis zu den Hortuli am Rande des Tibers und stieß mit einem gellenden Schrei hinab zwischen die Bäume, um einem kleinen Nagetier die scharfen Krallen in den Leib zu stoßen.
    „Eichhörnchen!“
    Tullius lachte verhalten und schnitt von dem gebratenem Fleisch ein großes Stück ab, packte es zu den anderen Habseligkeiten, die er zusammengesucht hatte. Schon seit geraumer Weile konnte sich Tullius über diesen Namen: Sciurus, aufs köstlichste amüsieren, nebst der Tatsache, dass ihn eine Person überhaupt oder dieser Mann insbesondere beschützen wollte.
    „Das ist der lächerlichste Spitzname, den ich in der Subura gehört habe. Wer sollte so einen Namen schon fürchten?“
    Obwohl es noch in der ersten Morgendämmerung war, bereiteten Tullius und Dardarshi schon seit einiger Zeit ihren Aufbruch vor, waren beide gewesene Piraten bescheidene Horae an Schlaf gewohnt und somit schon früh auf den Beinen. Es war nicht der Tod des Fleischers, der Tullius dazu bewogen hatte aufzubrechen. Der Fleischer ruhte mittlerweile am Grunde des Flusses, sein Laden war wegen ‚Trauerfall’ geschlossen und nur wenige in der Subura würden ahnen, was sich hinter diesem Trauerfall verbarg. Doch dass er seit geraumer Zeit verfolgt und ausspioniert wurde, machte Tullius mehr als Misstrauisch. Die Begegnung mit dem Unbekannten in der Fleischerei, danach die Offenbarung des Jüngling und einige andere Begebenheiten hatten ihn dazu durchringen lassen, Rom für eine geraume Zeit wieder zu verlassen, wenn nicht sogar Italia. Die Sesterzen aus der Holzkiste des Fleischers würden für einige Wochen reichen, vielleicht sogar bis weit über die Grenzen des römischen Stammlandes hinaus. Obschon in Roma aufgewachsen, erschien ihm die Stadt nicht mehr wie seine vertraute Gemarchung. „Nimmst Du noch ein Iantaculum ein?“ fragte seine Mutter zögerlich.
    „Ja.“
    „Warum? Was ist vorgefallen?“
    „Das geht Dich nichts an. Darshi, wir brechen gleich auf.“
    Sein Amicus kam in den Raum gehumpelt und hatte die Lyra, die er sich vor einigen Tagen geleistet hatte, über die Schulter gebunden. Stets höflich und mit einem freundlichen Lächeln, das mehr aus seinen Augen sprach, verbeugte er sich an jenem Morgen vor der Dame des Hauses, oder eher dieser kleinen Wohnung. Das Klopfen erschien wie ein lautes Donnern der Wellen gegen die Brandung, Tullius Augenbrauen zogen sich misstrauisch zusammen, seine Hand fuhr an seinen Dolch.
    „Geh und öffne die Tür.“
    Laevinia sah erschrocken von Tullius zu Dardarshi und zögerte. „Wer könnte das…?“
    „Öffne!“
    , zischte Tullius und trat lautlos an die Seite der Tür, lehnte sich mit dem Rücken gegen die steinerne Wand und zog seinen Dolch. Laevinia schritt besorgt zu dem Eingang, blieb davor stehen und atmete tief ein, um ihre Nervosität zu überspielen. Mit einer reservierten Miene öffnete sie die Tür und spähte hinaus zu dem fremden Mann. Ruhig hörte sie Sciurus an, als der Name seines Herren fiel wurde Laevinia blass, ihre Lippen öffneten sich leicht und ihre Augen weiteten sich vor unbotmäßigen Schreck. „Flavius…Gracchus?“ Ihre Augen spähten an Sciurus vorbei, doch sie konnte nur undeutlich eine weitere Gestalt hinter diesem ausmachen. „Manius…?“ entfleuchte ihren Lippen. Erschrocken schloss sie eilends die Tür vor Sciurus Nase und drehte sich blass wie eine nächtliche Erscheinung eines Lemur um. Laevinias Herz raste, sie starrte entsetzt zu Quintus, der sie mit gelindem Erstaunen betrachtete. „Schnell, Quintus, Du musst weg.“ Längstens hatte Quintus die Stimme jenes seltsamen Mannes aus dem Laden wieder erkannt und musterte seine Mutter mit einigem Misstrauen. Außerdem mochte er es ganz und gar nicht, wenn ihm jemand vorschrieb, was er zu tun hatte oder nicht. Schon gar nicht von seiner eigenen Mutter.
    „Flavius Gracchus? Wer ist das?“
    Entschlossen, mit dem Dolch in seiner hohlen Hand verborgen, trat er auf die Tür zu. Laevinia drängte sich völlig verängstigt dazwischen und wollte ihn abhalten sie zu öffnen. „Nein, nicht…bitte!“ flehte sie, ihre dunklen großen Augen starrten ihn hilflos an. Mit einer wirschen Handbewegung schubste Tullius seine Mutter zur Seite, sie fiel auf den hölzernen Boden, einen Stuhl mit sich reißend, der laut polterte.
    Erneut öffnete sich die Tür und Quintus Tullius erschien ihm Türrahmen, den Dolch gut vor den Blicken verborgen. Ein höhnisches Lächeln umspielte seine Lippen, seine Augenbraue wölbte sich in gespielter Überraschung nach oben.
    „So so, das Eichhörnchen ist zurück. Ich sagte Dir bereits, dass Du auf der falschen Spur bist. Außerdem solltest Du Deine Leute in Zukunft besser anweisen, sie sind doch mehr als dilettantisch in ihrer Arbeitsweise.“
    Auch Quintus Tullius riet mehr, als er wusste. Aber dass jener Mann vor ihm stand und mit ihm alle seltsamen Begebenheiten anfingen, ließen Tullius zu dem Schluss kommen, dass möglicherweise jener Mann dieser Sciurus sein könnte oder sein besagter Herr. Die ersten Sonnenstrahlen durchdrangen den ätherischen Nebel und fielen in den Innenhof hinein, beleuchteten die Treppen und die Männer. Selten, wenn gar niemals, war Tullius derart überrascht als sich nicht nur die zarten Lichtstrahlen auf seinem eigenen Gesicht, sondern jenes ominösen Herren verirrten. Sprachlos sah Tullius zu ihm.

  • Als Sciurus ihn förmlich als Magistrat der Stadt vorstellte, so wie sich dies für seinen Sklaven eigentlich auch gehörte, klappte Gracchus der Mund auf und er vergaß tatsächlich für eine kurze Weile, ihn wieder zu schließen. Womit auch immer er gerechnet hatte, damit hatte er nicht im Mindesten gerechnet, es strafte jegliche seiner Befürchtungen Lügen und Gracchus war sich mit einem Mal uneins, ob er sich daran erfreuen sollte, dass dies nicht das Ende seiner Tage würde sein, oder ob er nun wieder in trübe Befürchtungen ob der flavischen Familienangehörigen übergehen solle, doch unabhängig davon richtete sich seine Gestalt zur üblichen geraden Haltung auf. Dass er keinerlei Ahnung von jener staatlichen Angelegenheit hatte, bezüglich deren er jenen Quintus befragen wollte, dies schien ihm nur marginal, denn Sciurus hatte hinsichtlich solcherlei Dinge schon immer mehr Überblick als er selbst, nicht umsonst kam dem Sklaven neben seiner sonstigen Aufgaben auch jene als wandelnde Agenda zu. Gerade rechtzeitig hatte er seinen Mund wieder geschlossen, als jene Frau völlig derangiert seinen Praenomen aussprach, dessen Nichterwähnung sich Gracchus recht sicher war, und daraufhin eilig wieder die Türe schloss. Wäre er ein wenig mehr wie sein Vetter Aquilius, so hätte er sich vermutlich nun Gedanken darüber gemacht, ob jene Frau eine derjenigen sein konnte, mit welchen er an irgend einem Abend, an den er sich nicht mehr genau erinnern konnte, ein kurzes Zwischenspiel genossen hatte, doch Gracchus war sich sehr sicher, dass er jene Frau nicht kannte und auch nie in seinem Leben mit ihr in Kontakt gekommen war, darum erfüllte es ihn beinahe ein wenig mit Stolz, dass man selbst in der Subura schon seinen Namen kannte, auch wenn ihn ihr Entsetzen hinsichtlich seiner Person doch ein wenig verärgerte. Sein Mund öffnete sich erneut, dieses Mal jedoch, um seinen Sklaven nun endlich zu Fragen, was all dies sein sollte, als die Türe nach einem Poltern erneut geöffnet wurde. Es war nicht die Tatsache, dass jener Mann, der dort im Rahmen erschien seinen Sklaven kannte, welche nun Gracchus seinerseits völlig derangierte. Schon während jene Person noch zu Sciurus sprach, blieb Gracchus Mund wieder offen stehen. Als er sich des stechenden Blickes bewusst wurde, hob er seine Hand und schob Sciurus zur Seite, blickte verwundert in den Spiegel im Türrahmen, doch etwas störte ihn, um nicht zu sagen, etwas störte ihn gewaltig. Zum einen stand er inmitten einer Insula, dort wo kein Spiegel war, zum anderen war das Bild viel zu glatt, viel zu perfekt, und zudem war das Spiegelbild seitenverkehrt - so musste es sein, sich selbst durch die Augen eines anderen zu sehen, doch Gracchus war sich recht sicher, noch immer in seinem eigenen Körper zu stecken, zumindest hatte er dies bis vor eben jenem Moment noch getan. Er hob seine Hand an sein Kinn, denn dort spross ein leichter Bart vor sich hin, doch als er seine Haut berührte war sie glatt rasiert wie immer, ganz davon zu schweigen, dass er zwar seine Hand hob, auch die Berührung in seinem Gesicht spürte, sein vermeintliches Spiegelbild ihm jedoch nicht in jener Bewegung folgte. Als Sacerdos wusste Gracchus, dass sich viele sogenannte göttliche Wunder und Begebenheiten bei genauer Betrachtung auf recht simple Art und Weise erklären ließen, doch für jenen Mann, der da vor ihm stand, fehlte ihm jegliche Erklärung, seine Existenz war geradezu unheimlich, um nicht zu sagen unerhört.
    "Wie ist das möglich?"
    Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder und ein wenig angespannt wartete er darauf, ob jenes verkehrte Spiegelbild ihm nun würde antworten, oder ob er es letztlich selbst sein musste, der dies tat, da im Grunde dies doch nur ein Abbild seiner selbst war. Sein Leben lang war Gracchus bezüglich seiner eigenen Person unsicher gewesen, doch in diesem Augenblick hatte er zudem das Vertrauen über seinen eigenen Körper verloren, welcher ihm bisher noch immer, manches mal schmerzlich, bewusst gewesen war.

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  • Wie eine alte Frau begann die Insula zu ächzen als das Leben in ihr langsam einsetzte, die ersten Sonnenstrahlen durch die verschlossenen Fensterläden fielen und mit den güldenen Strahlen die Bewohner des Hauses weckten. Die Ratten der Nacht waren in ihren Löchern verschwunden, vom Getier bis zum Menschen, nun würden abermalig die ehrlichen Menschen die Strassen der Stadt bevölkern und ihrer mehr oder minder harten Arbeit nachgehen. Keine Seele außer jenen drei Männern würde um diese Begegnung, dieses stumme Erstaunen wissen, es würde auch kaum einen Menschen, abgesehen von ihnen, interessieren.
    Schon seit seiner Kindheit hatte Tullius die Angewohnheit gehabt, die Geschicke um ihn herum unter seine Kontrolle zu bringen. Er hasste die Hilflosigkeit, das Unwissen und nicht die Zügel des Geschehens in seinen Händen zu wissen. Die Verwunderung und Verwirrung, die er tief in sich spürte, die wie die Sturmfluten des Mare Internum über ihn hinwegströmte, war auf dem Gesicht seines Ebenbildes zu konstatieren. Die Hand seines Gegenüber schien die Illusion zu zerbrechen, sie war schlank und feingliedrig, hatte wohl noch nie schwere Arbeit ertragen, Tullius nahm diese Nuancen mit einem gesonderten Anteil seines Bewusstseins wahr. Zaubererei, ein Fluch, Trug und Lug, Lucilla, all jene Optionen durchdrangen Tullius als eine Idee wie die schnellen Feuerschatten in der Höhle. Aber im selbigen Momente wusste er um diese Unmöglichkeit. Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die benachbarte Tür, ein grauhaariger Männerkopf streckte sich hinaus um den Grund der morgendlichen Geräusche zu eruieren. Tullius trat einen Schritt aus der Tür und warf dem Mann einen vernichtenden Blick zu, der zog seinen Kopf eilig zurück.
    „Ich weiß es nicht!“
    , gab Tullius als Antwort auf Gracchus Frage zurück, musterte die anderen Eingänge der Insula und legte eine Hand auf Gracchus Schulter, in der Anderen spürte er noch die vertraute Kühle seines Dolches, wenngleich das Metall langsam die Wärme seiner Haut absorbierte.
    „Aber tritt hinein, es muss nicht gleich die ganze Subura davon erfahren.“
    Dirigierend schob Tullius den Patrizier durch die Tür und trat zwischen ihn und seinen Sklaven. Kalt sah er Sciurus in die blauen Augen.
    „Du bleibst draußen!“
    Noch im selben Moment schloss Tullius die Tür vor Sciurus und schob den eisernen Riegel davor. Die pastellfarbenen Töne beleuchteten mild den kleinen, gut gepflegten, wenn auch ärmlichen Raum. Drei Augenpaare sahen Gracchus an, unterschiedlicheren Ausdrucks kaum möglich. Die großen Augen von Laevinia sahen mit banger Furcht zu Gracchus hinauf, langsam rappelte sie sich auf und wich in den Schatten des Raumes zurück. Die fast schwarzen und stets milden Augen des Parther waren in schier unermesslichen Erstaunen auf Gracchus gerichtet, sahen zu Tullius und abermals zu Gracchus. „Bei Mithra, das ist unglaublich!“ hauchte er. In Tullius Augen stand eine Mischung aus Unglauben, gepaart mit Misstrauen, aber auch einer gewissen Faszination. Unverwandt, während er um Manius Flavius Gracchus herum schritt, sah Tullius sein Spiegelbild an, betrachtete ihn von oben bis unten wie eine Koryphäe oder eine Jahrmarktssensation.
    „Magistratus Flavius Gracchus war Dein Name?“
    Tullius lehnte sich gegen den schweren hölzernen Tisch in der Mitte, legte den Dolch an seine Seite, der Patrizier erschien ihm nicht wie ein Soldat, und er hob seine Hand zu seinem eigenen, vom Dreitagebart gezeichneten, Kinn.
    „Mich deucht, Du scheinst von dieser gar erstaunlichen Similarität verwundert zu sein. Ähnlich ergeht es mir auch. Aber wenn ich mich vorstellen darf? Quintus Tullius werde ich genannt, von jenen, die meine Freunde sind und auch von denen, die mich hassen. Erstaunlich, wahrlich eminent. Du gleichst mir bis ins letzte Detail hinein, selbst in der Größe.“
    Tullius stieß sich von der Holzplatte ab und ging auf Gracchus zu, blieb dicht vor ihm stehen und besah ihn sich noch mal von Nahem. Tullius Augenbraue wölbte sich nach oben, seine Lippen kräuselten sich zu einem dünnen Lächeln.
    „Kolossal!“

  • Mehr noch als Quintus Tullius oder sein Herr wusste Sciurus in jenem Augenblick, da die Tür zum ersten Mal vor ihm zugeschlagen wurde, dass dieser Augenblick seit der Geburt seines Herrn, und auch der Quintus Tullius', nur auf seine Auflösung gewartet hatte. Laevinia wusste um diese Auflösung, dessen war er sich sicher, und sie war mitnichten die Mutter des Quintus Tullius. Es war nicht unüblich von zwei direkt aufeinanderfolgenden Geburten die schwächere der Natur zu überlassen, doch gemeinhin überlebte sie dies nicht. Nur wenn ein törichtes Ding, wie Laevinia eines sein musste, den natürlichen Lauf der Dinge verhinderte, dann konnte so etwas geschehen, wie es nun geschehen war. Seinem Bruder Animus' hatte Gracchus aufgrund der Gegebenheiten mit den Christianern den frühen Tod gewünscht, doch was würde er zu Quintus Tullius sagen, der womöglich in weitaus schlimmere Dinge verwickelt war, denn eine in Sciurus' Augen harmlose Sekte?


    Als sein Herr hervor trat und das Gesicht musterte, welches ihm denn so ähnlich war, trat Sciurus bereitwillig in den Hintergrund, lockerte nur unauffällig den dünnen Draht an seinem Gürtel. Als jedoch sein Herr in die Wohnung gezogen und Sciurus die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, konnte er nicht schnell genug reagieren und sah sich grimmig der verschlossenen Türe gegenüber. Sie versuchen zu Öffnen war zwecklos, er hatte den Riegel gehört. Er stellte sich mit dem Rücken zum Türrahmen, blieb dort regungslos stehen und brachte sein Ohr nah an das Holz. Würde sein Herr Hilfe benötigen, wäre es ein leichtes, die Tür zu öffnen, doch da er ohnehin seit Tagen nicht wusste, was mit dieser Situation zu tun war, überließ er diese vorerst gänzlich jenen Herren, die sie direkt betraf.

  • Ein wenig überrumpelt, dass es ihm tatsächlich ohne sein eigenes Zutun antwortete, fügte sich Gracchus den Aktionen seines völlig fremden, und doch so vertrauten Gegenübers, und stand darum alsbald in der kleinen beschiedenen Wohnung, die insgesamt kaum so groß sein konnte, wie das Atrium der flavischen Villa allein. Im fahlen Licht der Sonnenstrahlen tanzten kleine Staubkörner, aufgewirbelt durch jene Hektik, die seit dem Klopfen in diesem Raum entstanden war, und die sich nun anschickten auf dem Fußboden niederzulassen, wo sie kaum würden auffallen. Dass sein Leibsklave Sciurus ihm nicht folgen konnte, dies bemerkte Gracchus nicht einmal, denn seine Gedanken gingen in vollkommen andere Richtungen, als die seines Sklaven. Als Tullius seinen Namen nachfragte, nickte Gracchus und bedachte bei dieser Gelegenheit die übrigen Anwesenden, jene Frau, welche zuvor so derangiert zurück in das Innere der Wohnung geflohen war, und einen Mann, der seinem Aussehen nach nur ein Sklave sein konnte, mit einem freundlichen Nicken, denn auch ob der Verwirrung über jene ihm so similäre Person vergaß er nicht seine guten Manieren, welche den Gruß gegenüber der Dame geboten.
    "Manius Flavius Gracchus, in der Tat."
    Gracchus zwang sich dazu ruhig zu bleiben und klaren Gedanken zu folgen. Trotz seines friedliebenden und auf Harmonie bedachten Naturells war er sich doch der Gefahr bewusst, welche von jenem Mann ausging, der sein Antlitz trug. In einem Anflug patrizischer, geistiger Überheblichkeit dachte er daran, dass es das beste sein mochte, wenn dieser Mann so eilig von der Welt verschwand, wie er soeben in Gracchus' Leben getreten war, denn er war durchaus eitel und wollte sein Gesicht für sich alleine besitzen. Doch jener Anflug verging so schnell, wie er gekommen war, denn allein die Tat weiter zu denken war Gracchus nicht gegeben, davon abgesehen barg er gleichsam die stille, trügerische Hoffnung, dass womöglich jenen Menschen noch mehr mit ihm verband, als jener erste Anblick es ohnehin schon vermuten ließ. Schon immer hatte sich Gracchus unvollständig gefühlt, hatte geglaubt, der Welt nicht genüge zu sein, und womöglich war dies tatsächlich so, womöglich war er nur Hälfte eines Doppels, eines Gesamten, welches nun hier an diesem abstrusen Ort zusammen gefunden hatte. War es nicht immer die Sehnsucht nach Vollkommenheit gewesen, welche sein Streben vorangetrieben hatte? Welch äußerst erbauliches Thema würde dieser Wechsel der Individualität zu einem similären Doppel gar für eine philosophische Betrachtung werden! Er taxierte Tullius bei jedem Schritt wie dieser um ihn herumschlich als wäre er ein Ausstellungsobjekt, während Gracchus still und aufrecht stehen blieb, doch in der Taxierung seines Gegenübers inbegriffen dieses ebenfalls von allen Seiten bestaunen konnte. Zugegeben, er sah wirklich äußerst gut, um nicht zu sagen umwerfend aus. Narzisstisch war Gracchus zwar noch nie veranlagt gewesen, doch er hatte sich auch noch nie mit solcher Deutlichkeit und Intensität in aller Gänze betrachten können, und je länger er sein Gegenüber, und damit im Grunde sich selbst, musterte, desto mehr musste er sich eingestehen, dass er durchaus geneigt war, eine Schwäche für diesen Mann zu hegen. Schließlich jedoch, nachdem dieser sich erdreistete, Gracchus' Äußeres für sich zu beanspruchen, zog jener, beinahe im gleichen Augenblick mit Quintus Tullius, eine Braue nach oben und antwortete ein wenig pikiert.
    "Nicht ich bin es, welcher dir bis ins letzte Detail gleicht, es scheint mir eher der umgekehrte Fall zu sein. Quintus Tullius - verzeih meine Unkenntnis, doch diesen Namen habe ich bisweilen noch nie gehört. Mein eigener Name dagegen steht auf der Bürgerliste der Stadt Rom, sehr weit oben, zwischen bedeutenden Römern, und dieses Gesicht gehört zu meinem Namen."
    Er hob seinen Zeigefinger und deutete auf sein eigenes Antlitz, dann auf das Tullius'.
    "Ebenso wie dieses Gesicht, einmal abgesehen von der unmöglichen Rasur, dem nicht vorhandenen Haarschnitt und ... sind das erste Falten um deine Augen?"
    Er runzelte die Stirn und berührte seine eigenen Augenwinkel, schüttelte doch dann den Kopf und ließ die Hand wieder sinken, denn es gab momentan wichtigere Dinge als erste Anzeichen des Älterwerdens, welche womöglich seine eigene Person nicht einmal betrafen.
    "Wie dem auch sei, dieses Similarität mag kolossal sein, auch wenn dies nicht das von mir präferierte Wort wäre, um dies zu umschreiben, doch sie gefällt mir nicht im Mindesten und ich benötige eine Erklärung, wie es sein kann, dass du mit diesem Gesicht herumläufst, ohne dass ich auch nur das Geringste davon weiß. Da du es ebenfalls nicht zu wissen scheinst, scheint mir logische Eruierung der beste Weg zu sein, dies festzustellen."
    In unbewusster Weise hob er den linken Arm vor die Brust, stützte den rechten Ellenbogen darauf und begann mit der rechten Hand seine Unterlippe zu kneten.
    "Sciurus sprach davon, dass du ihr Sohn bist."
    Er nickte zu Leaevinia, fuhr dann fort, das Ziel bereits vor Augen. So absurd die gesamte Situation auch sein mochte, Gracchus kam nicht umhin als in sein übliches Verhaltensmuster zu fallen, und ohne hinführenden Monolog war kein durchdachter Gedankengang reif dazu in die Welt hinaus entlassen zu werden.
    "Doch ihr siehst du nicht ähnlich. Mir dagegen zweifelsohne, meine Mutter ist sie jedoch sicherlich nicht, denn ich weiß genau, wer meine Mutter ist, man sagt mir dazu nach, ich hätte ihre Stirn und ihre Augen geerbt. Somit hättest auch du dies getan, doch wärest du der Sohn meiner Mutter, so könntest du nicht der ihre sein. Da ich meinen Vater gänzlich aus diese Sache heraushalten möchte, denn abgesehen davon, dass mein Vater keine Bastarde in die Welt setzte, zumindest keine solchen, welche länger als wenige Stunden in dieser Welt geblieben wären, davon abgesehen könnte selbst die Abstammung von gleichem Vater und anderer Mutter nicht zu solcher Similarität führen, wie wir uns ihr gegenüber finden, da sie es üblicherweise nicht einmal bei gleichem Vater und gleicher Mutter vermag, wie gewöhnliche Geschwister allgemeinhin beweisen, bei welcher Gelegenheit ich auch darauf hinweisen möchte, dass mich mit meinen eigenen Geschwistern eine gewisse familiäre Ähnlichkeit verbindet, ich mir dahingehend noch einmal um so mehr sicher bin, meinem Vater und meiner Mutter zu entstammen, welche auch die ihren Eltern sind. Es bleibt also fest zu stellen, dass Mütter in diesem Fall der Wahrheit Kern enthalten müssen und da die meinige nicht mehr in dieser Welt weilt, so mag womöglich die deinige etwas über die Entstehung deines Wesens berichten."
    Während er mit erhobener Braue zwischen Quintus Tullius und dessen vermeintlichen Mutter hin und her blickte, war er sich beinahe sicher, dass sie dies nur vermeintlich war, und obwohl er diesem Wissen nachfolgend noch nicht einordnen konnte, weshalb dieser Mann nicht den Namen Flavius trug, so dachte er doch bereits einen Schritt weiter, was mit ihm nun geschehen mochte, denn wer wusste schon, zu welchen Subreptionen Quintus Tullius mit einem derartigen Äußeren fähig war, würde Gracchus ihn denn einfach weiter in der Subura hausen lassen, ganz abgesehen davon was geschehen würde, wenn irgendwem irgendwann diese prekäre Ähnlichkeit auffallen würde, was zweifelsohne früher oder später passieren musste. Man würde ihn in die Familie holen können, doch der Name Flavius war äußerst verpflichtend und es war fraglich, ob jenes Subjekt sich diesem Namen stellen wollte und konnte, denn auch wenn Gracchus' Vetter Felix seinen Sohn nach Jahren des Plebejertumes in den Schoße der Familie zurück geholt hatte, so bezweifelte Gracchus doch, dass ein Mensch, der dem Namen und selbst der Abstammung nach ein Patrizier war, diesem Stande jemals auch ganz und gar in seinem Herzen gerecht werden konnte, da ihm so viel an Jahren fehlte. Sicherlich bestimmten die Ahnen und das Blut einen großen Teil der Persönlichkeit, bewogen den Menschen zu Höherem, und er wollte jenem Quintus Tullius nicht absprechen ein sicherlich fähiger Mensch zu sein. Der letzte Schritt jedoch, die letzte Hürde zu meistern und sich dem patrizischen Stande angemessen zu verhalten, dies war eine Folge der Erziehung und Bildung, und etwas, dessen deplorablerweise bisweilen nicht einmal alle gebürtigen Patrizier fähig waren, dahingehend würde es zwar womöglich ohnehin ohne Belang sein, doch es widerstrebte Gracchus auf das Heftigste, selbst zu solch einem Menschen beizutragen, zudem es völlig absurd war, einem Peregrinus, der Tullius augenscheinlich war, das Tor in die flavische Gens zu öffnen. Doch um Quintus Tullius seine Gefährlichkeit zu nehmen, würde sich Gracchus womöglich früher oder später mit ihm in der Familie, womöglich gar in der Öffentlichkeit zeigen müssen, auch wenn es ihm noch nicht gänzlich klar war, welchen Status jener Mann dabei erhalten sollte. Von einer Spur Wahnwitz überkommen dachte Gracchus auch daran, dass Quintus Tullius der Erstgeborene von ihnen beiden sein konnte, dass Quintus Flavius Tullius all jene Pflichten übernehmen könnte, welcher er selbst sich nur allzu gerne entledigen würde, dass Quintus Tullius ganz einfach Manius Flavius Gracchus werden könnte, und er selbst, Mainus Flavius Gracchus, würde der unwichtige Quintus Tullius werden, und während Quintus Tullius, nun als Manius Flavius Gracchus, seinen Sitz im Cursus Honorum ausfüllen, sich mit seiner Gattin Claudia Antonia vergnügen, in die Rolle des pro forma-Oberhauptes der Familia Flavius Vespasianus gedrängt für die Eheschließung seiner Schwester Minervina Sorge tragen und als Flavius die Pflichten seines Namens und Standes erfüllen würde, würde sich Manius Flavius Gracchus, nun als Quintus Tullius, nach Achaia absetzen und endlich seinem innersten Drängen, seinem tiefsten Wunsche nachgeben, Caius aufsuchen, ihn um Verzeihung bitten und sich nachfolgend nie wieder Gedanken über Rom, über das Imperium, den Fortbestand und die Verpflichtung des Namen Flavius machen müssen. Doch noch im gleichen Augenblick wurde sich Gracchus dessen gewahr, dass auch dies als Möglichkeit nicht gegeben war, und er gleichsam sich niemals von all jenen Verpflichtungen würde lösen können, denn er war eitel genug, um sich dessen sicher zu sein, dass zu Manius Flavius Gracchus ein wenig mehr gehörte, denn das äußer Antlitz und dass sich seine Person nicht eben durch einen dahergelaufenen Suburbaner würde ersetzen lassen, der zufälligerweise das gleiche Gesicht trug wie er, selbst wenn sie denn tatsächlich einem gemeinsamen Samen entsprungen sein mochten.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Einer wilden Irrfahrt eines verlorenen Blattes auf dem speziös äonenweiten Ozean gleichend schien sein Leben dahin zu wirbeln. Im einem Momente schien er noch der Herr über sein Reich, das Piratenschiff, zu sein, im folgenden Augenblick zerriss alles wie ein wilder Strudel, zerriss nicht nur seine Macht, seine Welt und seine Sicherheit, sondern sogar ihn selber, formte ein zweites Abbild seines Selbst. Tief in sich verspürte Tullius dabei, dass es wohl für die Welt nicht gut wäre, wenn jenes Abbild ihm vom Geiste und den Taten gemahnen sollte und demgegenüber entzückte, nein erregte, ihn die Vorstellung von einem zweiten Ihm, der gemeinsam mit ihm die Welt ein Deut unsicherer machte. Tullius rechter Mundwinkel hob sich geringfügig, was jedoch im Angesicht einer anderen Erkenntnis abermals verschwand.
    Er war tot, es konnte nicht anders sein. Vor seinen Augen zischte das Gladius eines römischen Triearchius vorbei und versenkte sich in seinem Herzen, ein sachter Krux machte sich an jenem Platze bereit. Der Tartarus hielt ihn umschlungen, spielte mit ihm, gaukelte ihm scheinbar kaltherzige Träume vor, die noch in mehr Qual und Seelenpein münden würden, es war nur der Beginn seiner Tortour, indem die Götter ihm zeigten, was er hätte sein können, ein vornehmer und, vor allem, reicher Patrizier. Doch gleich darauf verwarf Tullius diese Vorstellung, denn er bildete sich ein, mehr Geisteskraft und Schöpfertum von den Wesen in der tartarischen Pein erwarten zu können als eine Erniedrigung beim Fleischer oder eine verdoppelte Gestalt von ihm. Er war wohl doch nicht verstorben, ruhte nicht am Grunde des ewigen Ozeans, sondern stand in der Subura, lebend und leibhaftig vor einem anderen Quintus Tullius, kongruent und dann wahrlich disparat.
    Mit einer gelassenen Handbewegung, die ein stummes Wort implizierte: Unwichtig, wischte Quintus Tullius den Einwand und Einspruch seines Doppelgängers beiseite, dass es doch Gracchus wäre, der das Original wäre, aufgrund seiner edlen Herkunft.
    Vollends frappiert betrachtete Tullius die Geste mit der Hand an der Unterlippe, so pflegte er dieser Marotte doch auch manches mal zu frönen. Was ihn mehr erschreckte als die Tatsache einen Doppelgänger zu haben, war das Faktum, dass jener noch dazu dieselben Bewegungen wie er vollführte. Nur mit halben Ohr hörte er noch den Worten seines Ebenbildes zu, vergrub sich in seine eigenen Gedanken, die er stumm mit sich selber ausfocht.
    Auf dem Deck der Harpyia war er es gewohnt, Entscheidungen in Bruchteilen von Momenten zu fällen, doch auch dort war eine längere Überlegung so manches Mal notwendig gewesen. Wenn ein fremdes Schiff am Himmel auftauchte, es unbekannt schien, ob es eine Galeere voll mit Soldaten oder ein harmloses Handelsschiff war, oder wenn andere schwierige Situationen auf den Kapitän und seine Mannschaft zugekommen waren. Dann wog Tullius im Geiste, stumm auf dem Achterdeck wandernd, alles ab, analysierte die Lage und fällte dann seinen Entschluss, der dann unanfechtbar war und bis zum bitteren Ende verfolgt wurde, kein Zaudern mehr erlaubte.
    Seine Gedanken suchten in seiner Vergangenheit nach Episoden, die ihm Aufschluss auf dieses Rätsel geben konnte. Derweil trat sein Amicus, Dardarshi, auf den Plan, der aufmerksam und mit wachsendem Interesse den Worten von Gracchus gelauscht hatte.
    „Werter Flavius Gracchus,“ sprach Dardarshi, dabei seine parthische Akzentuierung der Worte unterdrückend. „Deine Ausführungen sind im höchsten Maße treffend, doch zeigt es sich oftmals, dass aus assertorischen Aussagen keine apodiktischen Axiome folgen; ferner dass sich apodiktische Feststellungen nicht bloß aus apodiktischen Aussagen, sondern auch aus einer Verbindung von apodiktischen und assertorischen Ausführungen erschließen lassen. Gehen wir mal von der assertorischen Behauptung aus: Mein Freund, Quintus Tullius, gleicht Dir erstaunlicherweise aufs Genaueste, seiner Mutter nur von der Haarfarbe und vielleicht der Eleganz sich zu bewegen. Doch führt dies nicht zur apodiktischen Folgerung, dass sie nicht seine Mutter ist, bezeugen doch Aristoteles Studien über das Weitergeben der elterlichen Merkmale, dass manches Mal diese in einer Generation übersprungen werden. Ein Kind eines schwarzen Sklaven kann beispielsweise auch eine weiße Haut besitzen. Vielleicht, und diese Aussage soll nicht beleidigend sein, ist, folgend einer möglichen Syllogistik, Laevinia die Mutter von euch Beiden und der Vater jener Mann, der Dir, Flavius Gracchus, wohl bekannt sein müsste, trägst Du doch den Namen einer großen und wahrhaft edlen Familie des Imperiums.“
    Dardarshi musterte sowohl Tullius, der unverwandt sein Doppelbild ansah, und Flavius Gracchus aufs Genaueste und nickte.
    „Es könnte eine göttliche Fügung sein, dass ihr euch Beide so ähnlich seid, doch ich wage es, wenn es gestattet ist, zu bezweifeln. Schon die wenigen Worte von Dir, Flavius Gracchus, bezeugen von deinem nous*, das Vermögen der episteme**, sophia***, phronesis**** und deiner techne***** in den geistigen Belangen. Alles Anlagen, die nicht nur in Dir schlummern und erweckt wurden, sondern die auch Quintus Tullius besitzt, zweifelsohne Dein Bruder.“
    Zufrieden lächelnd über diesen Schluss nahm Dardarshi, dem das lange Stehen oftmals zu viel wurde, auf einem Hocker Platz. Das Wort Bruder und Entstehung Deines Wesens riss Tullius aus dem unsichtbaren Wandeln in seinem Geiste heraus und er sah in die Dunkelheit, die seine Mutter scheinbar verschluckt hielt.
    “Vielleicht bringst Du Licht in die Schwärze dieses Unwissens, Laevinia?“
    Wer die Frau, die er für seine Mutter gehalten hatte, war, wusste Tullius in jenem Moment nicht mehr. Langsam und mit gesenkten Schultern trat Laevinia in das milde Sonnenlicht, dass die Spuren des Alters in ihrem Gesicht milderte und sie mit einem weichen Schimmerlicht liebkoste, wie an einen rettenden Anker hielt sie sich am Tisch fest und sah verkrampft an beiden Männern vorbei. „Das ist auch…sehr überraschend für mich!“ hauchte Laevinia schwach. Ihre Unterlippe erbebte und sie sank auf einen Stuhl hinab. Tullius fixierte sie mit kalten Augen und trat auf den Tisch zu, schlug mit seiner flachen Hand auf die Platte.
    „Überraschend? Lüge mich nicht an. Los, sprich! Immerhin hast Du seinen Namen sofort erkannt.“
    „Von den Wahlen…“ versuchte Laevina in einem schlechten Versuch der letzten Lüge von sich zu geben.
    „Ich habe gesagt, lüg’ mich nicht an.“
    Trotz seiner drohenden Haltung sprach Tullius seine Worte ruhig, doch schwang dort eine schneidende Kälte mit und eine unterschwellige Drohung. Laevinia sah auf, in Tullius Augen, der bedeutungsvoll zum Dolch sah, und verstand. Schwach hob sie die Hand zu ihrer Stirn und murmelte einige Worte.
    “Lauter!“
    „Er ist…Dein Bruder, Quintus.“
    Dardarshi lächelte zufrieden, dass sein Schluss bestätigt wurde, Tullius wurde ein wenig blasser und warf Gracchus einen schnellen Blick zu.
    „Und Du?“
    „Ich bin nicht Deine Mutter.“
    „Lass mich nicht ungeduldig werden, Laevinia. Nun erzähl schon! Woher weißt Du das alles, was steckt dahinter?“
    Schwer atmend als ob sie einen Marathon hinter sich gebracht hätte, um den Athenern vom großen Sieg zu berichten, wenngleich es hier wahrlich um eine völlig andere Geschichte ging, sah Laevinia auf Gracchus, ihre Augen glänzten feucht und beschämt schlug sie die Augen nieder.
    „Ich war Kindermädchen bei den Flaviern, ich habe mich mit einigen anderen Frauen, um euch beide gekümmert. Ihr seid als Zwillinge geboren worden, Brüder, die sich in allem glichen. Ein Mann, ich habe ihm damals vertraut, hat mir eingeredet, dass wir frei und reich sein würden, wenn wir einen von euch entführen und gegen Lösegeld wieder herausgeben würden. Er hat alles in die Wege geleitet, ich habe nur einen von euch ausgewählt und mitgenommen.“
    Eilends schloss sie die Augen, um niemanden von Beiden in die Augen zu sehen. „Als das Geld übergeben werden sollte, wurde der Mann getötet. Da ich nicht dabei war, konnte ich fliehen, mit dem Jungen. Mit Dir, Quintus. Ich bin nach Rom geflüchtet, da meine Schwester eine Liberta war und sie mich hier aufnehmen konnte. Sie hat nie gefragt, wer der Vater des Kindes war und ich gab Dich als mein eigen Fleisch und Blut aus.“
    Wie vom Donner gerührt sah Tullius auf seine vermeindliche Mutter hinab, schien unfähig sich zu rühren und war innerlich erstarrt wie ein blauschimmernder Eisblock, der vom Wasser willenlos mitgetrieben wurde.




    • * Geist
    • ** Wissenschaft
    • *** Weisheit
    • **** Klugheit


    • ***** Kunstfertigkeit

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