Das Rauschen des Flusses war schon lange zu hören bevor Gracchus ihn überhaupt zu sehen bekam. Er hatte den kleinen Feldweg erst kurz zuvor verlassen, als er an eine gepflasterte Straße gelangt war. Unmerklich beschleunigte er seinen Schritt, denn ein unumstößliches Naturgesetz war, dass wo ein Fluss da auch Wasser. Eine flache, hölzerne Brücke führte über das Wasser hinweg, doch Gracchus ließ sie links liegen und strebte dem Ufer entgegen, rutschte unkoordiniert die Böschung hinab und stand schon halb mit den Füßen im kühlen Nass, als er sich hinab beugte und mit seinen Händen das erfrischende Wasser zu seinem Mund schöpfte. Mit einem erleichterten Ausatmen ließ er sich schließlich rücklings auf der blanken Erde nieder, als sein Durst gestillt war, und blickte sinnierend auf die spiegelnde, sich in feinen Wirbeln kräuselnde Oberfläche hin. Ein wenig belustigt dachte er daran, dass wäre Caius nun bei ihm, er könnte einen Fisch fangen und vermutlich sogar ausnehmen und zubereiten. Hätte er doch nur auf seinen Vater gehört und wäre zum Militär, abgesehen davon, dass er vermutlich niemals in diese absurde Situation wäre geraten, sondern hätte Quintus Tullius von Anfang an unter Kontrolle gehabt, abgesehen davon wüsste er sich sicherlich besser im freien Feld zurecht zu finden, als ein Diener der Götter. Das kühle Wasser umspülte seine bereits ein wenig schmerzenden Füße und der Schatten der Büsche verschaffte angenehme Kühlung, die ihm auf dem langen Weg, den er bereits zurückgelegt hatte, am meisten fehlte. Er hatte noch nie gerne eine Reise auf sich genommen, nicht auf dem Schiff, nicht auf einem Wagen, nicht in einer Sänfte oder auf einem Pferd und erst recht nicht zu Fuß, und allem voran nicht ohne Wasser und etwas zu Essen. Lange Zeit - vielleicht erschien es ihm auch nur so - saß Gracchus am Ufer und ließ seine Gedanken gleich den Fluten des Wassers treiben, mal hierhin, mal dorthin, doch in keine bestimmte Richtung, bemerkte darüber nicht das Herannahen eines kleinen Kahnes, nicht mehr als ein großes Floß, das von einem Pferd am gegenüberliegenden Ufer gezogen sich den Fluss hinauf bewegte. Erst, als das Gefährt schon vor seiner Nase trieb, erschien es ihm merkwürdig und er sprang hastig auf, kämpfte sich durch das Gebüsch zum Weg hinauf zurück, klopfte sich den Staub von der einfachen Tunika, überquerte eilig die Brücke und folgte dem Pferd, welches von einem schmalen alten Mann mit einem großen Strohhut geführt wurde, dem ersten Menschen, dem er begegnete, seit Dardashi ihn allein in der Wildnis zurück gelassen hatte.
"Salve, guter Mann. Gestatte mir eine Frage, kennst du den Namen dieses Flusses?"
Der Alte entblößte ein beinahe zahnloses Gebiss als er grinste und Gracchus lief ein Schauer über den Rücken, denn eine seiner größten Sorgen - selbst in diesem Augenblick war sie nicht ganz aus seinem Geist - war es, eines Tages selbst all seine Zähne zu verlieren.
"Aber natürlif, daf ift der Tiber, der Fluff der Roma."
"Der Tiber?"
Es war mehr eine erstaunte Feststellung, denn eine Frage. Wenn dies der Fluss Tiber war, so führte er direkt nach Rom hinein und Gracchus musste nur mehr seinen Laufe folgen, um nach Hause zu gelangen. Mit marginalem Bedauern stellte er fest, dass der Alte mit seinem Floß in die falsche Richtung zog, doch wenn Schiffe hinauf fuhren, so fuhren vielleicht manche auch hinab.
"Fahren oft solche Kähne wie der deine auf dem Fluss abwärts in Richtung der Hauptstadt?"
Der Alte wiegte seinen Kopf unentschlossen hin und her. "Waf ift oft? Ein paar am Tag, nicht fo viele wie zwifen Rom und Oftia."
Ein etwas derangiertes Blinzeln kündete einzig von Gracchus' Schwierigkeit, die Worte des Mannes korrekt aufzunehmen. Über die zahnlose Aussprache des alten Mannes hinaus bemerkte Gracchus zudem, dass sein Geist ob der dauerhaften Sonneneinstrahlung bereits ein wenig zähflüssig geworden war, wie erwärmter Honig, womöglich gar schon die Konsistenz fauligen Obstes angenommen hatte. Es kam immerhin nicht von ungefähr, dass Menschen seines Standes für Gewöhnlich den Schatten des Lebens suchten, die direkte Sonne und zu viel der Bewegung in freier Natur mieden, schlug sich dies doch früher oder später auf den Geist hernieder. Womöglich brauchte er sich darum ohnehin nicht zu eilen nach Rom zu gelangen, denn dortig wäre am Ende gar schon alles verloren, da sein Geist bis zu diesem Zeitpunkt nur noch aus einer breiigen, verklebten Masse würde bestehen.
"Ich danke dir,"
murmelte er geistesabwesend und wandte sich dem alten Manne ab, sein Weg führte trotz allem in die entgegengesetzte Richtung. Müde und niedergeschlagen ob der deprimierenden Erkenntis der Zersetzung setzte Gracchus seinen Weg fort, noch immer aufrechten Ganges, doch nun mit gesenktem Haupt und hängenden Schultern und immer bemüht, im Schatten der Bäume zu gehen. Denn was blieb noch von ihm, wenn sein Geist in der Sonne verdunstete? Kaum mehr, als eine leere Hülle, war sein Geist doch alles, was ihm je zum Vorteil gereicht hatte. Das Deplorabelste an all dem jedoch war die Tatsache, dass langsam aber sicher auch seine Hülle ihren Tribut forderte, ihm nicht nur die Füße schmerzten, sondern er auch ein mehr als großes Gefühl des Hungers verspürte.
Irgendwo in den Sabatiner Bergen | Speculum Fatalis oder in den Fußstapfen meines Bruders
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Langsam zog sich im fernen Westen die Sonne hinter die Berge zurück, umrahmte ihre Konturen mit flammendem Schein und ließ das Land um Gracchus herum immer tiefer in Schatten versinken. Lief er tatsächlich erst seit den frühen Mittagsstunden in dieser tristen Einöde, oder spielte sein Geist ihm bereits Streiche? Zumindest kam es ihm hinsichtlich seiner Füße bereits so vor, als müsse er Tage, vielleicht auch Wochen unterwegs sein. Einige kleine Höfe und Landgüter hatte er am Wegesrand vorüberziehen lassen, hatte den Protest seines Magens ignoriert, jenes Organ nur wieder und wieder darauf hingewiesen, dass es zum Körper eines Patriziers gehörte und er trotz allem, trotz der Tatsache, dass er nicht wie ein solcher scheinen mochte, dass er trotz der misslichen Lage, der mangelnden Aussicht auf ein feudales Mahl und dem durchaus anzuerkennenden Gefühl der Mattigkeit, dass er trotz alldem nicht wie ein zerlumpter Bettler an der Türe eines Hauses klopfen und um Essen flehen würde. Er mochte bis auf die Knochen abmagern, bevor er einen Ort mit einer Taberna würde erreichen, doch er würde diese mit erhobenem Haupte betreten und die paar kläglichen Asse, die Dardashi ihm hatte zugestanden, für ein kärgliches Mahl eintauschen. Falls er überhaupt so weit würde kommen, bevor er nicht nur die Sandalen, sondern gleichsam seine Fußsohlen würde durchgelaufen haben. Es war Gracchus hundeelend zumute und als die Sonne ihre letzten Lichtstrahlen von der Welt abzog, hatte er noch immer keine Ortschaft erreicht, stand mitten in der Prärie, einsam und verlassen. Er suchte unter einem Baum Schutz, schlang die Arme um die Beine und blickte mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit hin.
"Achaia war nichts dagegen,"
murmelte er und erschrak sogleich über den lauten Hall seiner Stimme in der Stille. Doch als er genauer horchte, bemerkte er, dass um ihn herum längst nicht die Stille herrschte, welche er bevorzugt hätte. Noch immer zirpten Grillen, doch dazwischen hallten allerlei merkwürdige Geräusche durch die Dämmerung, von denen er besser nicht genauer bestimmen wollten, was sie verursachte, unterlegt vom stetigen nahen Rauschen und Glucksen des Tibers.
"Aus deinen Söhnen sind Feiglinge geworden, Vater, oder aber Piraten. Wer könnte dir verübeln, dass dein Geist rastlos ist? Ich kann es nicht."
Nun endlich bekam das tiefe Seufzen die Möglichkeit, aus Gracchus' Innerem zu entweichen, doch viel besser fühlte er sich hernach dennoch nicht. Er spürte die harte Rinde des Stammes an seinem Rücken, spürte den harten Boden unter seinem Gesäß, die langsam aufziehende Kälte auf seiner Haut, und mehr noch als all dies spürte er die aufkommende Furcht, die nicht aus der Nacht heraus kam, sondern aus ihm selbst, tief aus seinem Inneren. Firmitas, Gravitas, Prudentia und Dignitas, all die tief verinnerlichten Tugenden nützten nicht das Geringste in dieser verlassenen Einöde. Irgendwo unweit von Gracchus' Position knackte ein Ast, zur anderen Seite hin stieß ein Tier - sicherlich war dies ein Tier, obgleich, was konnte ihm versichern, dass dies keine Larven waren? - einen gellenden Laut aus, während über ihm die Blätter des Baumes raschelten, als würden dort die Lemuren durch das Geäst klettern, und der Fluss auf der anderen Seite des Weges unermüdlich rauschte, als würde dort der Styx die Seelen der Verstorbenen mit sich hinab in den Hades ziehen. War es dies, was Quintus hatte erreichen wollen, dass Gracchus sich völlig nackt und schutzlos fühlte in dieser von den Göttern verlassenen Welt, dass er völlig auf sich allein gestellt erfuhr, dass der Mensch in sich zerfiel, wenn niemand mehr um ihn herum war, der ihn konnte als Menschen anerkennen? Nein, vermutlich hatte Quintus Tullius ihn nur demütigen wollen, doch auch dies hatte er womöglich erreicht, denn je dunkler die Nacht und mehr Lichtpunkte am Himmel sichtbar wurden, desto mehr verfiel Gracchus in völlig irrationale Furcht und ob dessen vor sich selbst in Scham.
"Contenance, Manius, es ist niemand hier."
Wie zur Bestätigung dessen gellte wiederum ein hoher Laut durch die Nacht, eine Eule auf Beutezug nur, doch ein Gracchus völlig unbekannter Laut.
"Salve? Ist da jemand? Gib er sich zu erkennen!"
Lange war seine Stimme nicht so unbeirrt, wie er dies sich wünschte, denn unüberhörbar schwang ein leises Zittern in ihr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Gracchus in die Schatten der Dunkelheit, während das Zittern sich auch seines Körpers bemächtigte. Bewegte sich dort an der Biegung des Weges etwas? Hatte es nicht gar die Umrisse eines Wolfes oder vielleicht sogar eines Bären? Mit einem Schaudern dachte Gracchus an Ludi, bei denen solcherlei wildes Getier die Männer in der Arena in Stücke und Fetzen zerriss - Sklaven und Verbrecher, schutzlos den Gewalten der Natur ausgeliefert, wenn auch in gewisser Hinsicht vom Menschen kontrolliert. Doch hier kontrollierte niemand die Natur, niemand würde verhindern, dass solcherlei wilde Bestien über ihn herfielen, einen Bürger des Imperium Romanum zerfleischten und sich an seinem Leib gütlich taten. Doch womöglich war dies kein Tier, je weiter der Schatten sich näherte, desto eher schien es Gracchus, als war dies nichts Greifbares, nichts aus dieser Welt. Seit der misslungenen Bannung des Fluches seiner Nichte hatte Gracchus fortwährend das Gefühl, eine Brücke zwischen der Welt der verlorenen Seelen und der hiesigen geschlagen zu haben, eine Brücke, welche genau vor seiner Nase endete und die rastlosen Manen und Laren direkt zu ihm hin führte, mehr noch, dass auch jener Fluch, der einst in Achaia auf ihn gesprochen worden war wieder begonnen hatte, seine Wirkung zu entfalten, er in der untergründigen Welt wie eine Kerzenflamme aufleuchtete, welche die rachsüchtigen Geister wie Fliegen anzog. Angstvoll knetete Gracchus seine zitternden Finger und als er seinen verzweifelten Blick und seine Stimme zu den glitzernden Sternen hinauf wandte, lag mehr Furcht und weinerlicher Tonfall in seiner Intonation, als er dies normalerweise hätte ruhigen Gewissens ertragen können, doch in dieser Nacht war sein Gewissen längst auf der Strecke geblieben.
"Oh, Iove, erhabener Götterfürst, verlass mich nicht! Einmal schon hast Du mir deine Gust erwiesen, wäre es vermessen, sie ein zweites Mal zu erbitten? Es war unrecht von mir, den Dienst in Deinem Tempel als zu gering zu erachten, verzeih mir, höchster und größter der Götter, der Du am hellsten erstrahlst. Ich ersuche Dich, Iove, nimm meine Bitte um Verzeihung an, denn gleichsam will ich mein Leben noch einmal in Deine Hände legen, so wie ich gleichsam Dir noch einmal offeriere, den Dienst in Deinem Tempel im Anschluss an die Magistratur weiter zu verrichten, mit all meinem Eifer und all meinem Elan, und möge es bis ans Ende meiner Tage sein. Ich werde mich auch nicht wieder beklagen, dies assekuriere ich Dir, oh Iove, bei den Seelen meinen Vorfahren, nur halte Deine gütige Hand über mein wertloses Leben, ich bitte Dich!"
Nichts tat sich, was Gracchus hätte angezeigt, dass der Götterfürst ihn erhört hatte, überhaupt nur gehört hatte, doch was konnte er schon mehr tun, als sein Leben in die Hände der Götter zu legen. Er würde die Nacht überleben oder nicht, doch dies lag fern seines Einflusses. Ob des angestrengten Starrens in die Dunkelheit, der Verfolgung der Schatten, die entstanden und zerfielen, und dem konzentrierten Horchen in die Geräuschkulisse der Nacht fiel Gracchus erst weit nach Mitternacht in einen unruhigen Schlaf, schreckte nur noch einmal auf, als ein dumpfes Grummeln durch die Nacht erschallte, welches sich doch schließlich als aus seinem Bauch kommend identifizieren ließ, da es sich noch einmal wiederholte. -
Wie dies bereits zu erwarten war, da sich dies kaum je vor dem Ende der Welt würde ändern, so begann der folgende Tag mit dem Hereinbrechen des Morgens. Die Strahlen der Sonne schoben sich über das Land, verdrängten mit der Dunkelheit auch jene nächtlichen Jäger, die durch die Laute ihrer Kommunikation Gracchus des nächtens völlig verstört hatten, und wärmten schließlich den Körper der in unruhigem Schlaf unter einem Baum am Wegesrand gefangen war. Ein fideles Paar Rotkehlchen in den Ästen über ihm zwitscherte Gracchus schließlich mit seinen fröhlichen Gesängen aus dem Schlaf heraus zurück in den Tag. Zuerst hatte er das Gefühl, jegliches Gefühl verloren zu haben, doch bald stellte sich heraus, dass dies nur daher kam, da sein ganzer Körper in einem einzigen Gefühl schmerzte, was jegliche andere Empfindung überdeckte. Er ließ seine Schulter- und Nackengelenke ein wenig knacken und stand schließlich auf, schwankte jedoch sogleich und lehnte sich an den Stamm des Baumes, da sein linker Fuß dem restlichen Körper noch nicht gefolgt und noch immer im Schlaf inbegriffen war. Er schüttelte das Bein und trat schließlich vorsichtig auf - was er brauchte war ein Sklave mit einer Schüssel warmen Wassers, der ihn abbürstete und sein Blut in Wallung brachte. Unweit, auf der anderen Seite des Weges, rauschte in friedlicher Eintracht das Wasser des Tibers dahin.
"Oh nein."
Ein unbedarfter Zuschauer hätte vermuten können, dass jene vor Pein triefenden Worte aus dem Grunde aus Gracchus' Mund entwichen, weil er sich soeben der gesamten Situation, in welcher er sich befand, wieder bewusst geworden war, doch dem war mitnichten so, hatte Gracchus doch selbst im Schlaf seine Situation nicht vergessen. Jene Worte, aus welchen das Leid des Erkennens sprach, bezogen sich einzig und allein auf die eisige Kälte, welche der Tiber für jene bereit hielt, welche den Entschluss gefasst hatten, sich in ihm zu waschen, um wieder halbwegs Mensch zu werden. Um sich noch einen kurzen Aufschub zu gewähren, trat Gracchus vorerst hinter den Baum - trotz allem fühlte er sich noch immer beobachtet, um sich zu erleichtern, doch jeder Fluss aus dem Körper eines Menschen fand irgendwann sein Ende, so dass Gracchus schlussendlich wieder vor den Baum trat und verzweifelt zum Rauschen des Flusses blickte. Mit einem Gesicht, als wären dies die letzten Schritte seines Lebens, überquerte er die Straße und begab sich zum Ufer des Flusses hinab an eine Stelle, an welcher dieser bereits nahe des Ufers tief genug war, als dass ein Mann darin bis zur Hüfte konnte stehen. Er zog die einfache Tunika über den Kopf und stand schließlich, schon jetzt am ganzen Leib zitternd, nackt am Ufer des Tiber und blickte auf das im morgendlichen Sonnenlicht so unschuldig glitzernde Wasser hinab. Manchem Römer galt das Waschen mit eisig kaltem Wasser am Morgen als Tugend, doch Gracchus hatte noch nie etwas tugendhaftes daran finden können, sich bereits am frühen Tag dermaßen zu erniedrigen und daher schon immer auf angenehm temperiertes Wasser bestanden, ob beim Reinigen des Körpers nur mit Schwamm, und hernach Öl und Strigilis, oder auch für ein frühes Bad. Vorsichtig streckte er einen Fuß in das Wasser, sog scharf die Luft ein und zog ihn eilig wieder zurück.
"Dius Fidus!"
Er konnte das Bad dringend gebrauchen, waren die Möglichkeiten sich zu waschen im Keller unter den Weinbergen doch eher rudimentär gehalten gewesen. Mit zusammengebissenen Zähnen trat er nach vorn, dass seine Füße vom kühlen Nass umspült wurden, ging dann rasch immer weiter in die Fluten und verkniff sich mühevoll ein Aufquieken, welches einer Flavia zwar zur Ehre gereicht, für einen Flavius jedoch völlig würdelos gewesen wäre, und obgleich kaum irgendwer in der Nähe war um dies indelikate Verhalten zu tadeln, so blieb Gracchus dennoch ein Flavius. In stolzer Entschlossenheit tauchte er schließlich einmal unter, rieb sich den Körper gründlich im Wasser ab und hastete sodann völlig würdelos ans Ufer zurück, wo er bibbernd versuchte, die kühlen Tropfen von seiner Haut zu streichen. Es gelang mehr schlecht als recht, so dass, als er die Tunika schlussendlich wieder über den Kopf zog, diese das restliche Nass in sich aufnahm und klamm an seiner Haut klebte. Da die Sonne sich jedoch anschickte, auch an diesem Tage erneut mit unbarmherziger Heftigkeit auf die Welt herab zu scheinen, würde dies ohnehin nicht mehr lange der Fall sein. Gracchus schüttelte noch einmal mit den Händen die Tropfen aus seinem Haar, schöpfte noch etwas Wasser zum Trinken aus dem Fluss und begab sich schließlich zurück auf den Weg. Für einen Moment zögerte er - war er am gestrigen Tag von rechts oder links her gekommen? Die Berge zur Linken kamen ihm bekannt vor, doch gleichsam die Berge zur Rechten, was vermutlich daran lag, dass alle Berge um ihn herum sich viel zu similär waren, als dass Gracchus einen von ihnen hätte unterscheiden können. Nach einem derangierten Blinzeln wandte sich Gracchus noch einmal zum Fluss um. Der Tiber floss nach Rom, somit musste er nur immer dem Fluss folgen - immerhin soweit funktionnierte sein Geist noch, wie Gracchus zufrieden feststellte, bevor er sich nach links wandte und sich wieder auf den Marsch nach Rom begab. Nach wenigen Schritten stellte er fest, dass seine Füße nach dem Ausruhen der Nacht nicht weniger schmerzten, denn am Vortag, sondern sogar noch mehr, was ihn recht verärgerte, doch waren seine Füße augenblicklich ein eher geringeres Problem, verspürte er doch bereits wieder - oder immer noch - einen äußerst besitzergreifenden Hunger aus seinem Bauch emporsteigen. -
Es dauerte an diesem Tage nicht mehr allzu lange, bis die Götter endlich Erbarmen mit Flavius Gracchus zeigten. Zuerst glaubte er ob der bereits am Vormittage unbarmherzig brennenden Sonne, dass jenes Geräusch, welches er weit hinter sich vernahm, nur in seinem Kopfe würde existieren, schließlich jedoch, als es immer lauter zu ihm drang, wurde er sich dessen gewahr, dass es in seinem Kopfe noch niemals so laut hatte gedröhnt und jenes Klappern um ihn herum musste sein. Kaum wagte er zu hoffen als er sich umdrehte, doch die Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Es klapperten acht Pferdehufe auf dem steinernen Boden, zugehörig zu zwei Ackergäulen, einer dunkelbraunfarben wie torfige Erde, der andere ein graufarbener Schimmel mit schwarzfarbenen Füßen und weißfarbenem Kopf, hinter ihnen ein Karren, beladen mit Kisten und oben auf dem Bock ein Mann in einfacher, heller Tunika, das dunkle Haar von einem ledernen Sonnenhut bedeckt. Anstatt zu warten, bis der Wagen ihn eingeholt und erreicht hatte, drehte sich Gracchus gänzlich um und strebte ihm mit großen Schritten entgegen, überwältigt von Freude, einem Menschen zu begegnen, einem Menschen mit fahrbarem Untersatz wohlgemerkt, der augenscheinlich das gleiche Ziel hatte wie er, zumindest in ähnlicher Richtung unterwegs war. Die Ladung des Karren bestand aus Käfigen voller Hühner, die nun, da der Eigentümer auf Gracchus' Winken die Pferde zum Stehen brachte, in protestierendes und lautes Gegacker ausbrachen, was den Mann zu einem derben Fluch verführte, dessen Wortlaut kaum zur Wiedergabe geeignet scheint, bevor er sich Gracchus zu wandte und zur Begrüßung ansetzte, noch bevor jener zu eben jener kam. "Salve, Junge, soll ich dich ein Stück mitnehmen? Siehst aus, als wärst du schon 'ne Weile unterwegs. Na komm' hoch, ich fahr' nach Rom, morgen kommen die Schreihälse da hinten aufs Forum Boarium."
Gracchus gestattete sich ein erleichtertes Ausatmen und kletterte hastig auf den Wagen hinauf.
"Ich danke dir, du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr. Ich danke dir."
Der Mann lachte und schüttelte an den Zügeln nachdem Gracchus saß, auf dass die Pferde sich in Bewegung setzten. "Früher war ich auch zu Fuß unterwegs, vom Hof bis nach Rom mit 'nem Handkarren."
Beiläufig nickte Gracchus, war in Gedanken doch längst in Rom.
"Morgen, sagst du, werden die Hühner in Rom verkauft? Wann werden wir dort sein?"
"Gegen heut' Nachmittag. Ich quartier' mich außerhalb der Stadtmauern ein und morgen früh, wenns noch dunkel is', fahr' ich mit dem Wagen zum Forum. Anders kommt man ja nicht rein."
Wieder nickte Gracchus, schwieg jedoch, was auch den Viehhändler schließlich wieder in Stille versinken ließ ob dessen Gracchus dankbar war, hätte er doch nicht gewusst, was er sollte auf Fragen nach seinem Ziel oder seiner Herkunft antworten. Sie waren kaum die Hälfte einer Stunde unterwegs, als sie eine kleine Ortschaft passierten und Gracchus sich von den Überirdischen wahrlich verhöhnt glaubte. Voller Begehren streiften seine Blicke über voll beladende Marktstände, über frisch gebackene Brote, von welchen ein unglaublich verlockender Duft ausging, über saftige Früchte, verschiedene Backwaren und getrocknetes Fleisch. Er schluckte, doch er wagte nicht darum zu bitten, den Wagen anzuhalten, denn er wollte die Gelegenheit für den schnellen Transport nach Rom nicht riskieren. Der Viehändler zügelte nicht einmal die Pferde, so dass sie bald den verlockenden Duft hinter sich ließen, doch es dauerte nicht lange, dass Gracchus' leerer Magen sich mit einem lauten Grollen über jene Gegebenheit zu beschweren begann. Gracchus zog den Bauch ein und blickte beschämt in die Landschaft hin, versuchte seinen Magen alleinig mit seinem Willen Einhalt zu gebieten, doch sein Retter in der Not ließ nur ein tiefes, dröhnendes Lachen vernehmen. "Hohoho, das hört sich aber gefährlich an! Hier, Junge, nicht, dass du dich noch an den Hühnern vergreifst! Haha!" Er holte schräg hinter sich ein zu einem Säcklein gebundenes Leinentuch hervor und reichte es Gracchus. "Greif nur zu, meine Frau packt mir immer mehr ein, als ich auf drei Fahrten essen könnte!"
"Danke."
Vorsichtig, mit vor Begierde zittrigen Händen öffnete Gracchus den Knoten und faltete das Tuch auf und betrachtete das Fladenbrot darin, als wäre es wahrhaftiges Ambrosia. Er brach es hastig auseinander, biss in eine Hälfte und schlang die ersten Bissen gierig herunter, beinahe ohne zu Kauen. Nie in seinem Leben hatte er ein wohlschmeckenderes Brot gekostet. Er aß eine Hälfte des Brotes auf, knotete sodann das Tuch wieder zusammen und reichte es dem Viehhändler zurück, da er nicht unhöflich erscheinen wollte, gleichgültig dessen Versicherung, dass er mehr als genug habe. Hernach verfielen sie wieder in Schweigen und Gracchus sann über das nach, was ihn würde in Rom erwarten. Noch immer wusste er keine Lösung für die Angelegenheit bezüglich seines Bruders, vor allem nicht, was mit jenem geschehen sollte, was überhaupt geschehen sollte, wäre jener noch immer in der Villa. Womöglich würde er versuchen, die Familie davon zu überzeugen, dass er der richtige Gracchus und Gracchus selbst der falsche war? Einzig Aquilius würde dem widersprechen können, sofern dieser sich an gewisse Details erinnerte, und wer wusste, ob Aquilius in einem solchen Falle noch im Leben weilte, hatte Gracchus seinem Zwilling doch bereitwillig von seinen Bindungen zur Familie erzählt, zumindest vordergründig, doch tief genug, als dass Tullius wissen würde, auf wen er müsste achtgeben. Wie hatte er ihm nur in solcher Weise sein Vertrauen schenken können? Doch, wie hätte er dies nicht? Noch immer, wieder oder beginnend, wusste Gracchus nichts mit Quintus Tullius anzufangen, wusste ihn nirgendwo hin zu schicken, wusste nichts zu tun, zu fragen, zu wollen, zu verlangen, aufzugeben. Der parthische Freud seines Zwillings hatte ihn gewarnt, eindringlich gewarnt - gleichsam war und blieb Tullius ein Pirat, weshalb ihm nicht weniger nicht zu trauen war. Doch blieb er ebenso Gracchus' Bruder, mehr noch, blieb sein Ebenbild. Hinsichtlich seines Bruders Animus war Gracchus froh, dass jener bereits verschieden war, denn dies ersparte derartige Überlegungen, doch Quintus Tullius würde vermutlich ihm noch recht lange im Nacken sitzen. Sollte er einen gleichartigen Mann beauftragen, seinen eigenen Zwilling zu beseitigen? Es würde gleichsam sein eigenes Urteil sein, denn er würde zugrunde gehen an jenem rachsüchtigen Larven, der zweifellos aus Quintus würde entstehen. -
Nach dem Mittag wurde die Straße belebter, je näher sie Rom kamen, desto mehr Wägen und Wanderer überholten sie, desto mehr Pferde zogen an ihnen selbst vorbei, desto mehr stieg die Spannung, die Aufregung in Gracchus. Bald waren die Mauern, die Häuser der Stadt in der Ferne auszumachen, ein stinkender, dampfender Moloch aus Leben, gekrönt von Palästen und Tempeln - Juwel im Sumpf eingebettet, Juwel aus dem Sumpf emporgewachsen. Reges Treiben herrschte überall um die Stadt herum, in ihr war es nur zu erahnen, und obgleich ihn kaum jemand würde erkennen, so wünschte sich Gracchus eine paenula, um sich darunter zu verbergen. Ein Stück vor dem Stadttor verabschiedete er sich mit reichhaltig ausgeschmückten Dankesworten von dem Viehhändler, denn er wollte nicht die Via Flaminia nach Rom hinein kommen, lieber einen letzten kleinen Umweg nehmen und sich der Stadt von Osten her nähern, so dass er nicht allzu weit durch die Straßen und Gassen müsste laufen, um die Villa Flavia zu erreichen. Seine Füße schmerzten, sein Gesäß schmerzte, im Grunde schmerzten ihm alle Knochen, doch gleichsam war kein Gefühl größer als die Furcht in ihm. Je näher er dem heimischen Anwesen kam, desto größer wurde diese Furcht, die Furcht, Quintus Tullius zu begegnen, desto größer wurde die Furcht, nur Scherben vorzufinden, winzig kleine Splitter, die nichts und niemand würde je wieder zusammen setzen können. Wie ein Bettler schlich er um die Mauern der Villa herum, klopfte schlussendlich am Eingang der Dienstboten und vergewisserte sich bei dem erstaunten Sklaven, welcher ihm öffnete, dass er nicht augenblicklich in der Villa anwesend war.
"Salve, ... Herr?"
"Schaue nicht so dumm. Lasse mich hinein und sage mir, bin ich heute schon einmal gekommen? Durch die Porta?"
Der Sklave blickte seinen Herrn derangiert ob der merkwürdigen Gewandung, der Bartstoppeln in seinem Gesicht und der seltsamen Verhaltensweise mit Staunen in den Augen an. "Nein ... nein ... Herr ... ich glaube nicht."
"Gut, und bin ich gestern gekommen und seitdem nicht mehr weg?"
"Nein, Herr, du bist ... vor Tagen fort."
"Du würdest mich also nicht innerhalb der Villa vermuten?"
"Nun, nein, Herr, augenscheinlich nicht."
"Wann genau hast du mich zuletzt gesehen? Wann hat irgendwer mich zuletzt gesehen?"
"Vor drei oder vier Tagen, Herr, vermutlich in magistratischen Pflichten unterwegs."
Quintus Tullius war also nicht mehr hier. Ein eisiger Schauer kroch Gracchus' Wirbelsäule hinauf und breitete sich von dort aus über den gesamten Körper.
"Sind sonst alle wohlauf?"
"Ja, Herr, ich nehme es an."
Eine Woge der Erleichterung folgte dem kalten Schauer, obgleich noch immer ein leiser Gedanke in Gracchus' Hinterkopf zur Vorsicht riet.
"Am Tag, an welchem ich zuletzt hier war, was habe ich getan? Erzählt man sich merkwürdige Sachen unter euch?"
Der Sklave schien ehrlich erstaunt und verwundert. "Nein, Herr, nicht dass ich wüsste."
"Gut, gut. Schick den Barbier auf mein Cubiculum."
Der verwirrte Sklave blickte seinem Herrn hinterher, entschied jedoch nach kurzem, dies nicht weiter zu beachten. Dies war ein Haus, das früher oder später verrückt machte wenn man alles zu genau zu ergründen suchte, weshalb er dies besser unterlassen wollte. Gracchus eilte durch das Haus und flüchtete in sein Cubiculum. Quintus Tullius war fort und wo auch immer er war, Gracchus hoffte, es würde so weit weg von Rom sein wie nur möglich und er würde lange dort bleiben. Doch die Furcht ließ nicht von ihm ab.~ finis ~
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