""Ausgehöhlt ist Kumaes Fels zur riesigen Grotte; breit ziehn hundert Schächte hinab, der Mündungen hundert, hundertfältigen Lauts dröhnt auf der Spruch der Sibylle. Kaum an der Schwelle, begann die Jungfrau: 'Zeit ist, zu flehn um Schicksalsspruch. Der Gott, o siehe, der Gott!' So rief sie, stand am Tor, jäh wechselt ihr Antlitz, wechselt die Farbe, hoch auf flattert ihr Haar, hart keucht ihre Brust, voller Wut schwillt wild ihr Herz, hoch wächst sie und wächst, kein sterbliches Wort mehr spricht sie, steht im Anhauch ganz des näher und näher waltenden Gottes."
Die Worte in Vergils Aeneis, im sechsten Buch, erfüllten Epicharis, die vor dem Eingang zur Grotte auf Aristides wartete. Sie waren zwar nicht in Cumae, sondern in Rm, aber das machte schließlich keinen Unterschied. Epicharis stand neben ihrer Sänfte und wirkte etwas verloren, fragte sich, was heute hier offenbart werden würde, und ob es wirklich eine so gute Idee war, die Sybille über die Zukunft zu befragen. ihre Schwester Prisca hatte nach der Orakelweissagung ihren eingeschlagenen Weg angezweifelt und sich umgewandt, um fortzugehen. Epicharis hoffte inständig, dass dies nicht auch ihr passieren würde, auch wenn man sich da niemals sicher sein konnte. Nervös nestelte sie an ihrer dunkelgrünen Palla herum, die zur weißen und sie unschuldig wirken lassenden Tunika passte. Immer wieder sah sie sich nach einer flavischen Sänfte um, welche wohl jeden Augenblick den Hügel hinauf streben und ihren verlobten heranbringen würde. Der einzige Grund, aus dem Epicharis unbedingt den Orakelspruch hören wollte, war ihr Aberglaube. Niemand, so vermutete sie, war so abergläubisch wie sie. Zumindest niemand aus ihrer Familie. Von Aristides wusste sie bereits, dass er den Worten der Sybille nicht so sehr Glauben schenkte, aber Epicharis war felsenfest davon überzeugt, dass die Worte des Orakels der Wille der Götter waren.
Hin und wieder waren Schritte aus dem Inneren der Grotte zu hören, mal hörte man leise Schreie und dann wieder ein rhythmisches, an- und abschwellendes Summen, Murmeln und vielleicht auch etwas, das entfernt an Gesang erinnerte. Die Luft war selbst hier draußen schon schwer und erfüllt von den unterschiedlichsten Düften, allen voran Weihrauch. Mit zunehmender Wartezeit nahm auch Epicharis' Nervosität an Intensität zu, wie sie neben der Sänfte stand und den Punkt fixierte, an welchem ihr Verlobter bald auftauchen musste.