Es war einer jener belanglosen Tage, welche dem Tag der Verlobungsfeier zwischen Flavius Aristides und Claudia Epicharis nachfolgten. Der junge Serenus war aus der Villa geflohen und niemand konnte sagen, wo er sich umtrieb. Beunruhigendes hatte sich in der Acta Diurna gefunden, über eine Überfall, in welchen der junge Flavier womöglich verwickelt gewesen war, doch niemand konnte genau sagen, ob dies Geschriebene überhaupt der Wahrheit entsprach. Längst waren flavische Sklaven und Söldner aller Arten ausgeschwärmt auf der Suche nach dem jungen Patrizier, am ehesten in Richtung Ostia und weiter in Richtung Baiae, denn es war nicht unwahrscheinlich, dass Serenus versuchte, sich zu seiner Großmutter Agrippina in die beschauliche Stadt an der Küste hin durch zu schlagen. Doch gleichsam suchte man auf den übrigen Wegen, welche sich sternförmig von Rom in das ganze Imperium hinaus entfernten, nach dem Jungen. Auch Gracchus war nicht frei von Sorge um seinen Neffen, womöglich sorgte er sich gar nach Serenus' Vater Aristides noch mit am meisten, suchte er die Schuld für jene infantile Disziplinlosigkeit, die degoutante Eskalation und schließlich die überstürzte Flucht im Scheitern der Erziehung - jener Erziehung, welche er nicht war fähig gewesen, dem Kind während seiner Zeit in Rom angedeihen zu lassen. Selbst die Streichung der Spinat und Gerstenbeitrag-Tage ob der Abwesenheit des Kindes gereichte nicht dazu, Gracchus über seine Vorwürfe und Sorge hinwegsehen zu lassen. Augenblicklich jedoch beschäftigte Gracchus solcherlei tatsächlich wenig, war der Moment auf der Latrine doch immer einer jener seltenen Augenblicke, in welchen kaum ein Gedanke die Sinne streifte, in welchen bedingungslose, nebulöse Leere das Denken konnte ausfüllen, der Mensch Mensch sein ohne wenn und aber, und allen unnützen Ballast von sich lassen. Deplorablerweise - womöglich jedoch auch agreablerweise - war es Gracchus an diesem Tage letztlich doch nicht einmal hier vergönnt, gänzlich in Leere zu schwelgen, denn eine achtlos auf dem Boden liegende Schriftrolle, dort, wo die Fließen durch die Wand hin begrenzt wurden, schob sich sukzessive in den Fokus seiner Aufmerksamkeit als er so entspannt da saß - und eine Schriftrolle, gleich welcher Art, war schon immer dazu äußerst geeignet, sein Interesse zu wecken. Er beugte sich ein wenig nach vorne ohne die Berührung mit dem Latrinenloch aufzugeben, streckte sich, streckte seinen Arm, auch seine Finger, bis dass er die Rolle vorsichtig in seinen nähren Aktionsradius ziehen und danach greifen konnte. Er fragte sich, wer wohl ein solches Schriftstück auf der Latrine verloren haben konnte, denn das Lesen auf der Latrine war eine völlig barbarische Unsitte, gleichsam war er sich nicht dessen bewusst, dass irgendwer im Hause einer solchen Unsitte nachging. Vorsichtig entrollte Gracchus das Blatt und hob in Indignation, wie es nur einem Patrizier solcherart möglich war, eine Augenbraue, als er des Titels ansichtig wurde.
Sklave Gaius ist der Beste
stand dort, in großen, kapitalen Lettern. Hernach, in der darunter liegenden Zeile folgte, an den rechten Rand gerückt, der Vermerk Folge 164, die Angabe eines Verfassers fehlte hingegen völlig. Dem jungen Römer mochte in diesem Augenblicke das Herz aufgehen, hätte er ein solches Kleinod in Händen gehalten, Gracchus jedoch musterte das Pergament nur mit Unverständnis. Seine Jugend, selbst seine Kindheit hatte den großen Gelehrten gegolten, Platon und Lukretius, den großen Epen wie der Odyssee, der Annalistik eines Fabius oder Valerius, den Rechtsgelehrten wie Cicero und Hortensius, nicht zuletzt auch den Komödien- und Tragödiendichtern wie Plautus und Terentius. Trivialer Kinderliteratur jedoch hatte sie keinen Platz geboten, so dass dies gänzlich an ihm vorüber gegangen war. Dennoch - denn er hatte derzeitig nicht allzu viel zu tun und was er tat, dies verrichtete sein Körper auch ganz ohne die Aufmerksamkeit seiner Gedanken - begann Gracchus, die Zeilen zu lesen.
Sklave Gaius ist mitten in den Aufstand der Gladiatoren hinein geraten.
So unvermittelt nahm der Text seinen Anfang und Gracchus verzog missbilligend das Gesicht. Die Schrift war äußerst simpel gehalten, kurze Sätze reihten sich aneinander, in einfachen Worten und einfachen Konstrukten.
Gorgut hebt sein Schwert und brüllt 'Uah! Uah'.
Gracchus' Augenbraue hob sich ein weiteres Stück. 'Uah' gehörte nicht unbedingt in jenen Wortschatz, welchen er sich zu lesen erfreute.
'Nein, Gorgut, tu das nicht!' ruft Gaius seinem Freund zu.
'Uah! Uah!' brüllt Gorgut und stürmt mit seinem Schwert auf die Männer der Cohortes Urbanae zu.
Gaius zieht sich in den Hintergrund zurück. Jetzt gilt es auszuharren.'
Die Stirn in Falten gelegt flog Gracchus' Blick über die Zeilen hinweg, mehr und mehr vertiefte er sich in die Lektüre und verfolgte, wie Sklave Gaius den Aufstand mit Raffinesse und Tücke überlebte und auch seinen Freund Gorgut vor dem Schwert bewahrte. Beide konnten sich vom Kampf absetzen, doch wurden sie von den Soldaten verfolgt und trennten sich ob dessen, nicht ohne einen Treffpunkt zu verabreden. Schließlich, nach einer rasanten Verfolgungsjagd durch die Gassen Roms, stand Gaius vor den Toren der Gladiatorenschule. Ohne dies zu bemerken, hatte sich Gracchus' Mund ob der aufkommenden Spannung ein wenig geöffnet, seine Stirn war nun wieder glatt, die Augen in Staunen auf den Text gebannt.
Leise schleicht sich Sklave Gaius durch die enge Gasse. Er umrundet einen Vorsprung und steht dann vor der Tür, die ihn in die Gladiatorenschule hinein führen wird. Dreimal klopft er kurz, dann zweimal lang und noch einmal kurz. So hat er es mit seinem Freund Gorgut verabredet, auf dass der ihn einlassen würde. Auf einmal hört Gaius hinter sich ein Rascheln, gefolgt von einem Schlurfen. Plötzlich fühlt er Kälte, die auf seine Schulter tippt. Gaius dreht sich um und starrt in fünf grimmige Mienen, die zu fünf furchtbar böse ausschauenden Soldaten der Cohortes Urbane gehören. Die Schwertspitze, die eben noch gegen seine Schulter tippte, ist direkt vor seiner Nase.
Damit endete das Blatt. Gracchus, dessen Herzschlag während der letzten Sätze ein wenig schneller zu schlagen begonnen hatte, drehte verzweifelt das Pergament um, doch natürlich war es nicht rückseitig beschrieben. Er beugte sich vor und blickte über den Boden der Latrine. Irgendwo musste der weitere Teil dieser Geschichte sein. Doch es war nichts zu sehen. Eilig rollte er das Pergament zusammen und beendete seine Sitzung auf der Latrine. Nachdem er aufgestanden und sich noch einmal geflissentlich vergewissert hatte, dass kein weiteres Pergament im Raum versteckt war, verließ er diesen, die Rolle fest in der Hand. Sciurus würde Rat wissen, denn wo Folge 164 existierte, da musste auch 165 und dort würde sicherlich nachzulesen sein, wie Sklave Gaius den Soldaten konnte entkommen. Zudem musste auch Folge 1 bis 163 existieren, denn wie überhaupt war Gaius in den Aufstand der Gladiatoren gekommen, was hatte ihn dorthin getrieben und was hatte es mit Gorgut, dem mächtigen Gladiator auf sich?
Sklave Gaius ist der Beste
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Wie zu erwarten fand Gracchus seinen Leibsklaven in seinen Räumlichkeiten vor. Obwohl es ihn danach drängte, sofort in Aktion zu verfallen, nahm er ganz beiläufig in einem Sessel mit gekreuzten, hölzernen Füßen und in dunkles Rot gefärbter Lederbespannung Platz, lehnte sich zurück und legte die Schriftrolle neben sich auf einen zierlichen Beistelltisch ab.
"Sage mir, Sciurus, kannst du mit dem Titel 'Gaius ist der Beste' etwas anfangen?"
Der Sklave nickte ohne zu zögern. "Natürlich, Herr. 'Sklave Gaius ist der Beste' ist eines von jenen Schundblättern, welche regelmäßig von kleinen, billigen Verlegern publiziert werden. Geschichten ohne Tiefgang, für anspruchsloses Pubilikum und pubertierende Kinder geschrieben. Angeblich verfasst der Sklave 'Gaius' sie selbst, doch da die Sicht eines Sklaven eher schlecht getroffen ist, würde ich dies bezweifeln. Dein Neffe Serenus liest dieses Zeug."
"So, so, Serenus also."
Aufgrund der Tatsache, dass sogar Sciurus sich in solch negativer Art und Weise über diese tatsächlich äußerst anspruchslose, aber gleichsam nichtsdestotrotz durchaus fesselnde Literatur äußerte, beschloss Gracchus ihn ob seiner Pläne in Unkenntnis zu lassen. Dass der Sklave selbst augenscheinlich mindestens ebenfalls eine Ausgabe gelesen haben musste, denn woher sonst mochte er um die unzulänglich realistische Perspektive wissen, bemerkte Gracchus indes nicht.
"Weißt du, wo Serenus seine Schriftrollen aufbewahrt? Ich fand diese hier zufälligerweise in der Villa und sie muss augenscheinlich von ihm stammen."
"Er hat eine Truhe voll davon. Ich werde sie aufräumen."
Hastig griff Gracchus nach der Rolle und blinzelte.
"Oh, nein, ich werde sie direkt mitnehmen. Da ich ohnehin noch in seinem Cubiculum nach Hinweisen auf seinen Fluchtort sehen wollte, wird dies kein Aufwand sein."
"Die Truhe ist verschlossen, Herr."
"Tatsächlich?"
Nachdenklich hob Gracchus die freie Hand und begann an seiner Unterlippe zu kneten. Schließlich blickte er aus ein wenig zusammengekniffenen Augen zu seinem Leibsklaven auf, der beiläufige Tonfall war gänzlich vergangen.
"Du bist doch in der Lage, Schlösser zu öffnen, nicht wahr, Sciurus?"
"Ja, Herr."
"Ja, das dachte ich mir bereits. Nun, kannst du sie auch in solcher Weise öffnen, dass sie hernach wieder verschließbar sind?"
"Es kommt auf das Schloss an, bei denjenigen einfacher Bauart bricht leicht ein Haken im Schließmechanismus. Doch jenes an der Truhe deines Neffen mit den 'Sklave Gaius ist der Beste'-Schriftrollen ist ein hochwertiges Schloss, dieses könnte ich öffnen, so dass keine Spur bleibt."
Gracchus ließ seine Hand sinken und tippte auf die Schriftrolle in der anderen.
"Gut, ich sehe, wir verstehen uns. So lass uns gehen."
Er erhob sich und wies mit der Rolle 'Sklave Gaius ist der Beste', Folge 164 zur Türe. -
Das Zimmer des jungen Serenus glich dem Schauplatz eines Schriftrollenkrieges. Quer durch den Raum verteilt lagen Rollen, stapelten sich auf dem Boden, sortiert nach Nummerierung, darin inmitten, vor einer Kiste, saß Gracchus auf einem kleinen Schemel, holte Rolle um Schriftrolle daraus hervor und sortierte sie in die bereits Eingeordneten ein, während Sciurus an der Türe Schmiere stand - nicht, dass dies notwendig gewesen wäre, doch Gracchus glaubte, dass dies so besser sei. Schließlich jedoch waren alle Schriftstücke der Truhe entnommen, gähnende Leere starrte Gracchus hämisch entgegen, so dass er den Blick abwandte, sich verzweifelt umsah, noch einmal mit seinem Blick alle Schildchen taxierte, eine Nummer suchend, hoffend, doch letztlich vergebens, so dass er schließlich mit leidiger Miene zu Sciurus aufsah.
"Sie ist nicht hier. Ich habe die gesamte Kiste durchsucht, doch ich kann Folge 1 nicht finden. Sie muss irgendwo anders sein."
Sciurus schüttelte den Kopf. "Nein, Herr, der junge Herr ist nicht im Besitz der ersten Folge, wie auch vieler anderer nicht."
"Was meinst du damit?"
Mit Unverständnis blickte Gracchus seinen Sklaven an.
"Weshalb nicht?"
"Diese Serie ist schon um einige Jahre alt, die Originalabschriften der einzelnen Folgen immer nur in begrenzter Zahl und für kurze Zeit auf dem Markt, weshalb sie schnell zu Raritäten werden. Natürlich gibt es billige Kopien zu Hauf, doch die ersten Ausgaben von 'Sklave Gaius ist der Beste' zu sammeln gilt für manche nicht nur als Leidenschaft, sie sind bereit horrende Summen für diese zu bezahlen. Auch Serenus legt wert darauf, Originalabschriften zu besitzen, obgleich notgedrungen auch einige Kopien in seinem Besitz sind, doch Folge 1 als Orginalabschrift ist nicht nur ein kleines Vermögen wert, sie ist dazu auch noch äußerst selten, weshalb es ihm bisherig noch nicht gelang, in den Besitz einer solchen zu kommen und er weigert sich gerade bei jener ersten Folge, eine spätere Kopie in seine Sammlung aufzunehmen." Wobei unnötig zu erwähnen war, dass er sich selbst eine Kopie mit seinem Taschengeld nicht würde leisten können.
"Er ist eben ein echter Flavier, das Beste ist gerade gut genug. Allerdings ist dieser Umstand äußerst deplorabel, doch steht es uns eben frei, jenen zu ändern. Du wirst mir eine solche Originalabschrift der ersten Folge besorgen."
Es war Gracchus unmöglich, mit Genuss die gesamte Serie zu lesen, wenn er nicht Folge eins genau dann las, wann sie gelesen werden sollte, zu Beginn und vor allen nachfolgenden Folgen.
"Sie sind wirklich sehr teuer, Herr."
Ein Blick strafte den Sklaven, als hätte jener soeben von seinem Herrn verlangt, sich zu vierteilen und hernach selbst zu verspeisen.
"Seit wann kümmern dich die Sesterzen, Sciurus?"
"Nun, nach dem Verlust der Summe, die Quintus Tullius an sich genommen hat ..."
"Tor! Hättest du mich nicht darauf hingewiesen, ich hätte nicht einmal bemerkt, dass etwas fehlt. Es ist das, was eine patrizische Gens ausmacht, Sciurus. Wir haben die Sesterzen, wir geben sie aus, doch trotz dessen werden sie nicht weniger. Verschwendungssucht mag unser Ruin sein, doch ist es weder ein verdorbener Zwilling, zumindest nicht diesbezüglich, noch ist es eine Orginalabschrift der ersten Ausgabe einer Schriftenserie. Lass den Münzenpegel in der arca also meine Sorge sein und besorge mir diese Ausgabe."
Obgleich er sich vor seinem Sklaven nicht brauchte zu rechtfertigen, tat er dies.
"Ich werde sie Serenus zum Geschenk machen, wenn er wieder nach Rom zurück kommt."
Es war immerhin unmöglich, diese Schundliteratur in seinen eigenen Besitz einzureihen, dennoch, er musste sie einfach haben.
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