Pars Italia | Der Wolf im Schafsfell und die entführte (aber noch nichts ahnende) Flavia Leontia

  • In zahlreichen Abendschattierungen bot sich die Landschaft um Roma dem Blick der Reisenden dar. Sanft waren die sieben Hügel geschwungen, an deren Busen und Tälern sich die ewige Stadt heran schmiegte. Das Meer aus römischen Dächern, umrahmt von einer respektablen Mauer, zeigte einen anmutenden Reiz, den die stickige Stadt bei näherer Betrachtung nicht mehr offenbaren konnte. Immer mehr Lichter tauchten wie die ersten Sterne am Abendhimmel auf als die letzten Strahlen der Sonne im Westen versanken und nur noch eine schwache Röte über die Stadt ausbreitete. Prunkvolle Tempel ragten aus den zahlreich grau nuancierten Dächern hervor, das flavische Theater, der große Circus Maximus, aber auch Aventinbauten neben denen des Palatin und Kapitol. Umhüllt wurde die Stadt von einigen Wäldern, Landschaften die von Menschenhand geschaffen waren, das silberblaue Band, nun wie der Streifen eines Trauerflors, des Tiber schlängelte sich mitten durch die Urbs Aeternae und der Geruch nach dem sumpfigen Morast, der Rom umgab und durchdrang war auf dem Hügel, auf dem die Sänfte verharrte, kaum zu erahnen. Es schien sogar, dass der Geruch des fernen Meeres schon an die Nase von Quintus Tullius stieg, der, in Toga und flavischer Tunica gekleidet, auf dem weichen Polster der edlen Sänfte lag, deren schwarzes Holz das große flavische Wappen aufwies und noch einen weiteren flavischen Schatz, neben dem Gold, was Tullius in der Villa erbeutet hatte, trug, die junge Flavia Leontia, die Quintus Tullius zu entführen gedachte als Wolf, der sich die Tarnung des Schafes Gracchus zu Eigen gemacht hatte. Noch einen Atemzug hielt Tullius den Vorhang offen, der ihm Rom zeigte und er schien nach der Villa Flavia zu suchen. Zu keinem Zeitpunkt hatte Tullius gezögert, als er die Villa verlassen hatte, eine Nachricht seinem Amicus hatte zukommen lassen, damit jener sich um die Aussetzung von seinem Bruder, Manius Flavius Gracchus, kümmern würde und sich ihnen dann in Ostia anschließen würde. Tullius hoffte darauf, dass in den Händen seiner parthischen Freundes alles gelingen würde und das Spiel weiter seinen Lauf gehen konnte. Es wäre wahrhaft deplorabel gewesen, wenn Gracchus durch einen Berglöwen oder einen Wegelagerer umkam und Tullius somit das Vergnügen genommen wurde, dies selber zu tun oder wenigstens Gracchus in den Abgrund zu führen. Warum Tullius das wollte, dessen war er sich im Augenblick selber nicht im Klaren, doch dass er es so wünschte, war ihm völlig eindeutig im Geiste und Sinne. Seine Hand ließ den Vorhang erneut herab fallen.
    „Wir ziehen weiter.“
    Die Sklaven trabten über die Strasse, ihre Sandalen klapperten auf den Pflastersteinen der Via Appia, die der direkte Weg nach Ostia war und sie an den zahlreichen Grabbauten vorbeiführte. Große Steine prangten am Rande der Straße, auf einigen waren die Namen der verstorbenen Familienangehörigen zu sehen. Wie boshafte Augen starrten ihnen einige Lichter entgegen, die neben den Grabmählern aufgestellt worden waren und von fleißigen Sklavenhänden entzündet waren. Die Grillen zirpten am Wegesrand in den späten Abendstunden, die Bäume warfen ihre im letzten Licht schwindenden Schatten auf die so sorgfälgit gebaute Straße, die vorbeiziehende Sänfte und das Gepäck der beiden Flavier, so es Leontia vorgegauckelt werden sollte. In einer der Kisten ruhte das Geld, was Tullius seinem Bruder geraubt hatte, es jedoch nicht als entwendet, sondern als sein rechtmäßigen Anteil seines Erbes, seines gestohlenen Familienrechtes ansah. In der anderen Kiste ruhten einige Schriftrollen, die Tullius aus der Bibliothek der Villa Flavia mitgenommen hatte, um seinem Amicus, Dardarshi, eine infinitesimale Freude zu bereiten, gleichwohl auch seinen Bruder weiter zu sekkieren. Ansonsten hatte Tullius nur einige Gewänder seines Ebenbildes mitgenommen, um für Leontia weiterhin den Anschein zu wecken, er wäre Gracchus und nicht der, der er wirklich war, der Pirat und nur das zweite Abbild von dem, den sie zu begleiten gedachte. Die Sänfte trabte an einer Weggabelung vorbei, die hinauf zu einer kleinen vornehmen Villa führte und deren Weg von Zypressen und einigen goldenen Weizenfeldern gesäumt wurde. Das Grundstück des vornehmen Nobilitas war mit einer Mauer umsäumt, zu deren Füßen sich weiter die Via Appia entlang streckte. Die Bäume wurden dichter, die Bauten und Häuser spärlicher. Das runde und große Grabmahl der Caecilier Metellus erschien in Sichtweite und auch dieses passierte die Sänfte. Das Schaukeln der Sänfte mutete für Quintus Tullius wie das Wiegen der Wellen an, nur das holprige Traben der Sklaven irritierte ihn immer mal wieder marginal, wobei in ihm die Frage aufkam, ob Gracchus unter der Seekrankheit zu leiden hatte, wenn er den Fuß auf ein Schiff setzte und Tullius somit etwas vorgaukeln musste, was er nicht verspürte, es sei denn Leontia war sich dessen Makel bei Gracchus nicht bewusst. Am Liebsten hätte Tullius schweigend die Reise verbracht, in Gedanken bei seinen Plänen, doch in der kurzen Zeit, der er Gracchus' Gesellschaft hatte teilen dürfen, müssen und können, war ihm bewusst geworden, dass Gracchus gerne und ausgiebig das Wort an sein Gegenüber wandte, und so Tullius nicht schon vor der Ankunft in Ägypten enttarnt werden wollte, musste er wohl die lästige Angewohnheiten seines Bruders übernehmen.
    „Unzweifelhaft werden wir ein zumutbares Gefährt für den weiteren Weg auf hoher See eruieren können. Wenn ich auch bekennen muss, dass ich sehr bewegt bin von der Vorstellung, bald das Land der größten Bibliothek der Welt betreten zu dürfen. Zudem versicherte man mir, dass Aegyptus noch viele weitere Reize offerieren soll. Du bist Dir doch noch sicher, dass wir diesen Schritt auch wagen sollen, Leontia?“

  • Es würde für lange Zeit der letzte Blick auf Rom sein. Andächtig ließ Leontia noch einmal ihre Augen über die Ewige Stadt schweifen, die sich zum Abschied in seltener Schönheit zeigte. Doch nicht einmal ein Anflug von Wehmut trübte Leontias Gemüt bei diesem Scheiden. Mit einem stillen Lächeln streckte sie sich auf den Polstern der Sänfte, als Tullius den Vorhang schloß. Nun, da sie nach den hektischen Stunden der Vorbereitung endlich aufgebrochen waren, war ihre Aufregung wie fortgeblasen, und eine große Freude trat an ihre Stelle. Wie herrlich war es unterwegs zu sein, um auf dieser verbotenen Reise nach Herzenslust die Schätze und Geheimnisse des sagenumwobenen Ägypten kennenzulernen. Und das alles an der Seite ihres lieben, hochverehrten Manius, der keinen Wimpernschlag lang gezögert hatte, Villa, Gattin und Amt hinter sich zu lassen, um seiner kleinen Base zu ihrem Glück zu verhelfen!


    Über die Maßen dankbar bedachte sie ihn mit einem zärtlichen Lächeln, griff dann in das luxuriöse Katzenkörbchen zu ihren Füßen und hob das Kätzchen Sphinx heraus, um sie ein wenig zu kraulen. Die geschmeidige kleine Ägypterin räkelte sich auf den Kissen, schnurrte und präsentierte wohlig ihr Bäuchlein. Liebevoll streichelte Leontia das seidigweiche, silbern schimmernde Fell ihres kleinen Lieblings. Von Zeit zu Zeit schob sie mit schmaler Hand die Vorhänge einen Spalt zur Seite, um einen Blick nach draußen zu werfen. Die Grabmäler in den Abendschatten, die geheimnisvollen kleinen Lichter und die Umrisse der Bäume zu Seiten der Straße, verbanden sich zu einer märchenhaften und phantastischen, ein wenig unheimlichen Stimmung, jene ergriff Leontias junge und bisher so wohlbehütete Seele zur Gänze, und erfüllte sie mit einer köstlichen Ahnung von lockender Ferne und seltsamer Aventüre, von unerwarteten und großen Dingen die nicht nur diese Reise, nein, die das Leben an sich für sie bereithielt.


    "Allerdings, liebster Manius.", bekräftigte sie auf Tullius ' Frage hin sanft aber nachdrücklich ihren Entschluss. "Ich könnte mir gar nicht sicherer sein. Und mein Herz möchte mir vor Freude beinahe aus der Brust springen in Erwartung all der Wunder an Bildung und Forschergeist, monumentaler Architektur und landschaftlicher Schönheit, die uns erwarten. Oh wie oft habe ich davon geträumt, einmal höchstselbst die erhabenen Hallen des Museions zu besuchen! Und nun wird dieser Traum wahr! Was wir uns auch nicht entgehen lassen sollten, ist eine Nilkreuzfahrt, das soll ganz zauberhaft und entzückend sein. - Doch erlaube mir, theuerster Vetter, diesen Moment zu nutzen, um meiner allertiefempfundensten Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen! Was Du hier und jetzt für mich tust überwältigt mich vollkommen, dieser Schritt den Du ohne Zögern zu meinem Wohle unternimmst, obgleich zum jetzigen Zeitpunkte noch keiner von uns dessen Tragweite und Konsequenzen zu ermessen vermag..."


    Enthousiasmiert vom jenem aufopferungsvollen Edelmut, den sie in den Handlungen ihres Verwandten auszumachen meinte, streckte Leontia ihre zarten Madonnenfinger, und umgriff die Hand des Piraten um sie in Dankbarkeit zu drücken. Häufig schon hatte sie diese Geste freundschaftlicher Vertrautheit mit ihrem liebsten Manius ausgetauscht - heute allerdings verspürte sie dabei eine leichte Irritation, ohne im ersten Moment sagen zu können weshalb. Marginal verunsichert musterte sie ihren Vetter. Wie seltsam, was hatte er wohl mit seinen Händen angestellt, dass deren Haut sich auf einmal so rau und spröde anfühlte? Er musste ihre Pflege ja längere Zeit sträflich vernachlässigt haben!


    Glücklicherweise war Leontia für derlei Notfälle gerüstet. Mit einem einzigen Handgriff hatte sie aus ihrem bestickten Seidentäschchen ein kleines Elfenbeindöschen mit einem wohlduftenden Handbalsam hervorgezaubert und reichte es Tullius lächelnd. "Wenn Du erlaubst, Manius, so würde ich mich erdreisten, Dir diesen Balsam anzubieten. Mir dünkt, er möchte wohl Deinen Händen zu Gute kommen. Salambo hat ihn gemischt, auf einer Basis von Eselinnenmilch und Nektar, mit Orchideenwurzel und zerriebenem Aquamarin. Nimm nur, ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht." Freigiebig stellte sie das Schönheitsmittelchen neben ihm auf ein Kissen, damit er sich bedienen konnte, und widmete sich wieder ihrer kleinen Schoßkatze, die maunzend nach Liebkosungen und Leckereien verlangte.


    Draußen zog die abendliche Landschaft vorbei. Laternen wurden nun entzündet, sie warfen ihren Schein schwankend auf Pflaster und Böschung. In stetem Schritt trugen die Sklaven die Sänfte, bogen nun von der Straße nach Süden ab und schlugen den Weg in Richtung Ostia ein. Die Wägen mit dem Gepäck rumpelten hinterher, Pferdehufe klapperten, als die berittenen Leibwächter ihre Positionen zu den Flanken der Sänfte wieder einnahmen, grimmig darüber wachend, dass weder lästiges Gesindel noch nächtliche Gefahren den beiden Flaviern zu nahe kamen. Dass die größte Bedrohung es sich allerdings schon längst im Inneren der Sänfte bequem gemacht hatte, das konnten diese braven Männer nicht ahnen...

  • Warnend und flüsternd rauschten die Bäume am Rande des Weges. Der Wind strich durch ihre in der Nacht grauen Blätter, versuchte die Zweige wie eine Laute zum Schwingen zu bringen und die junge Flavierin eindringlich zu warnen, vor dem, was sie sich in ihre Sänfte geholt hatte. Doch die Sprache der Nacht war nur den Ohren offen, die selber ein Teil dieser Schwärze waren. Die finsteren Klauen von Finistere umfing die kleine und scheinbar zerbrechliche Sänfte, die den Reisenden in ihrem Inneren eine schützende Höhle vorgaukelte. Doch ein Wolf eingesperrt mit einer Luxuskatze vertrug sich nicht gut, der raubtierhafte Instinkt in Tullius sträubte sich gegen die sanftmütige Fassade, der er, um Leontia zu täuschen, aufrecht erhielt, selbst als sie nach seiner Hand griff und ihm von ihrem Schönheitsmitteln andrehen wollte. Seine Lippen verzogen sich zu einem falschen Lächeln.
    „Zu freundlich!“
    , fiel seine knappe Antwort aus und in einem Moment, derer Leontia ihre Aufmerksamkeit einer anderen Materie schenkte, wischte sich Tullius schnell die klebrigen Hände an dem Tuch neben sich ab und rümpfte angewidert die Nase.
    „Noch sämtliche Nacht werden wir über die Wege und Pflaster eilen müssen, ehe die Hafenstadt Ostia in Sicht kommen wird. Womöglich magst Du ein wenig ruhen, ich werde über Deinen Schlaf persönlich Sorge tragen, meine liebste Leontia!“
    Und er würde inbrünstig Furrina danken, dass jenes Weibe endlich zum Schweigen gebracht wurde durch den Segen Morpheus und ihn nicht länger mit ihrem aufreibenden Geplapper stören würde in seinen Gedanken, über die er sann, um seine Pläne und sein Streben zu vervollständigen, damit die Ranken um Gracchus sich fester strickten und er simultan seine Freude an dem perfiden, aber doch höchst inspirierenden Spiel finden könne.
    Zügig wie der Wind des Nordens, die Vögel, die sich nach Afrika aufmachten, um den kalten Winter fern ihrer Brutplätze zu verbringen oder wie ein flüchtender Dieb und Räuber kam die Sänfte auf der nächtlichen Straße weiter. Die großen flavischen Wappen an der Seite der Sänfte bahnte ihnen auch den Weg vorbei an den kleinen Stationen einiger Soldaten, die mit kleinen Laternen stumm an ihren winzigen Häusern warteten. Verheißungsvoll kroch die Sonne in ihrem Rücken über den Horizont und schickte die rosagoldenen Strahlen auf die Hafenstadt Ostia, illuminierte die Dächer in eine ätherische Corona, getrübt nur durch die grausilbernen Wolken, die sich im Westen auftürmten und wie ein Ungeheuer gleichend danach suchten sich gegen das Festland zu drücken. Doch in der Stadt war keiner besorgt ob jenes Wetters, das muntere Treiben brach aus als die Sänfte an dem Tor und den wachenden Augen weiterer Soldaten in die Stadt kam und schließlich zu dem Kleineren der beiden großen Häfen von Ostia gelangte. Eiseskalten Ausdrucks musterte Tullius das engelsgleiche Antlitz der jungen Patrizierin in der Sänfte, die sich dem Schlaf irgendwann ergeben hatte. Ihr schlanker Schwanenhals lockte Tullius Finger an, sie darum zu legen und ohne Gnade zuzudrücken, doch statt sich den Mordlüsten zu ergeben, die Tullius nur im Rausche des Kampfes nicht unter Kontrolle hatte, schwang er sich aus der Sänfte, um ein Schiff zu erbeuten, wenn auch nur mit seinen Münzen und lediglich Plätze für eine Überfahrt. Nicht eine Hora und noch rechtzeitig vor dem Auslaufen konnte Tullius die Pegasus als ihr Transportschiff anheuern, ein kleines, aber wendiges Handelsschiff, was seltene Luxuswaren aus Ägypten nach Ostia brachte und Passagiere zurück in die Provinz trug. Für ihn, Manius Flavius Gracchus, und die junge Flavia Leontia fanden sich durchaus noch ein Platz an Bord. Bewusst hatte Tullius die beiden Namen genannt, denn er wollte nicht, dass sein Bruder die Spur verlor. Fortuna meinte es gut mit ihnen und schon kurze Zeit später war das viele Gepäck der jungen Dame verladen, die beiden Flavier an Bord der Schiffes. Ein tiefes Glücksgefühl stieg in Tullius auf als er endlich erneut auf dem Deck eines Schiffes stand und eine Zufriedenheit als auch noch sein Amicus, Dardarshi, getarnt als ein fernöstlicher Händler an Bord kam. Nun waren sie komplett und die Reise ins ferne Ägypten konnte von statten gehen. Dumpf dröhnten die Trommeln von dem Deck mit den Ruderern, die Sklaven ächzten in den Ketten und stemmten sich gegen die Wogen des Wassers nachdem der Anker gelichtet wurde. Und schon entfernte sich der Pegasus aus dem Hafen Ostias und bereitete seine weißen Schwingen auf dem Meer aus, um flink in die blauen Wogen des weiten Ozeans zu tauchen. Ein sardonisches Lächeln trat auf Quintus Tullius Gesicht als er einen letzten Blick auf das Festland warf und das Schiff entschwand über die blaue Weite, bald eingeholt von den silbriggrauen Wolken im Westen.


    Und es verging einige Zeit-
    Schwül drückten die Wolken eines nahenden Sommergewitters auf die Stadt Ostia. Ein dicker, verschwitzter Mann saß über einige Wachstafeln gebeugt und schob an einer Rechentafel die hölzernen Murmeln hin und her, flüsterte leise Zahlen vor sich hin und kratzte sich an seiner Halbglatze. Ein eiliges Klopfen riss ihn aus seiner Konzentration, die an jenem Tage nur suboptimal ihn ereilen wollte.
    „Ja?“
    Ein schlaksiger Mann trat in den Arbeitsraum hinter einer großen Lagerhalle. Die Fensterläden standen weit offen und boten den Blick auf viele Masten, die in den Himmel stachen.
    „Es ist verschollen! Die Pegasus...ein Sturm.“
    Mit offenen Mund starrte der dicke Mann den Jüngeren an.
    „Was? Sicher?“
    Der junge Mann nickte.
    „Sie haben keinen Hafen erreicht und schon gar nicht Alexandria.“
    Mit einem wütenden Laut packte der Besitzer der Pegasus eine Wachstafel und schleuderte sie gegen die Wand. Das Holz zerbrach und fiel in zahlreichen Splittern auf den Boden. Der Schrei einer Möwe erklang, das Lachen einiger Kinder, die das Tier drangsalierten und dann das bitterliche Seufzen des geschädigten Händler. Und niemand wusste, wohin die Pegasus verschollen war und ob einer der Passagiere jenen schlimmen Sturm vor kurzem überlebt hatten. Doch womöglich lüftet sich jenes Geheimnis zu einer anderen Zeit.


    To be continued...

  • ~~~ Den vorangegangenen Geschehnissen nachfolgend, vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus betrachtet bereits Wochen zuvor~~~


    Den Weg aus der Hauptstadt des Imperium Romanum bis zur Hafenstadt Ostia hatte Gracchus schweigend zurückgelegt, nachdem er die Villa Flavia völlig überhastet hatte verlassen, um seinem Zwilling Quintus Tullius und seiner geliebten Base Leontia nachzufolgen, seinen Befürchtungen und Gedanken in der sanft wogenden Sänfte nachhängend. Einzig Leontias Brief wies die Hoffnung einer Spur, jener Spur nach Aegyptus, gleichsam konnte sein Zwilling Leontia bis an den Rande der Welt verschleppt haben - doch Gracchus würde ihnen beiden auch bis dorthin folgen, obgleich er noch nicht den leisesten Schimmer einer Ahnung hatte, was im Anschluss daran zu tun war, von jener Tatsache einmal abgesehen, dass er Leontia zurück nach Rom würde geleiten. Noch im Lichte des verblassenden Tages erreichten sie die Hafenstadt, wo sich Sciurus auf die Suche nach Informationen über den Verbleib der beiden Flavier machte, während Gracchus selbst verborgen blieb, da möglicherweise sein erneutes Auftauchen für Auffälligkeit sorgen mochte - Quintus reiste immerhin unter seinem Namen, gepaart mit seinem Gesicht. Die Zeit verrann zäh wie flüssiger Honig - Sekunden, Minuten und Stunden zogen sich in endlos quälender Langsamkeit dahin, bis endlich der Sklave den Namen jenes Schiffes hatte herausgefunden, auf welchem der vermeintliche Manius Flavius Gracchus und Flavia Leontia gen Süden aufgebrochen waren, vor nicht langer Zeit, doch für Gracchus' Geschmack schon viel zu lange her. Pegasus, das geflügelte Pferd, welches Bellerophon in seinem Kampfe gegen die Chimäre und die Amazonen so treu getragen hatte, würde nun seine geliebte Base immer enger in die Fänge seines Bruders treiben, doch zumindest schien Aegyptus tatsächlich ihr Ziel. So machte sich denn auch Sciurus wiederum auf, um ein Schiff mit Zielhafen Alexandria ausfindig zu machen, welches sie dem Wolf und seiner Beute nachtragen würde, doch deplorablerweise bot sich nicht sonderlich viel der Auswahl, so dass die Wahl schließlich auf das Schiff Ariadne fiel, ein großes, träges, schweres Handelsschiff, welches die verschiedensten Waren zwischen Rom und Alexandria austauschte. Es war nicht zu erwarten, dass sie mit gleicher Geschwindigkeit gen Süden würden vordringen wie die Pegasus dies vermutlich zu tun vermochte, doch ob des verheißungsvollen Namens klammerte sich Gracchus an die Hoffnung, dass Ariadnes Faden auch ihm auf seinem Weg durch das Labyrinth des Lebens würde helfen, um das Scheusal in seinem Inneren - kein Minotauros erwartete ihn, doch längstens war Quintus Tullius für seinen Bruder zu einem weit schlimmeren Übel erwachsen - zu finden, zu vernichten - obgleich Gracchus diesen Punkt nicht ohne Zweifel bedenken konnte - und schließlich als siegreicher Theseus zurückzukehren. Die Modalitäten der Reise waren bald ausgehandelt, so das Gracchus mit seinem kleinen Gefolge alsbald das Schiff betrat. Schon beim Anblick der schwankenden Planke, der im Takt der Wogen leicht schaukelnden Masten, der im Wind flatternden Fahne und das endlos blauen, schäumenden Meeres hinter der Hafenmole überkam Gracchus eine leichte Übelkeit, welche sich nur mehr verstärkte, je mehr Schritte er auf dem Schiff tat. Während noch die letzten Waren im Bauch des Ungetüms verschwanden und an Deck gestapelt wurden, klammerte sich der unglückliche Passagier an die Reling und hielt seinen Blick starr zum Hafen und seinem festen Boden hin, doch da das Schiff auf dem Wasser getragen wurde und somit auch die Häuserfassaden vor Gracchus' Augen auf und ab schwankten, gereichte dies nicht unbedingt zur Besserung seines Befindens. Bis das Schiff endlich den Hafen Ostias verließ - es schien Gracchus länger als die Ewigkeit - umspielte bereits eine ungesunde, leicht grünliche Färbung Gracchus' Nasenwurzel und die Knöchel auf seinem Handrücken traten weiß hervor, da er sich noch immer beständig an der Reling festhielt.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Von Beginn an war die Reise Gracchus wahrhaft ein Graus. Bereits kurze Zeit nach Auslaufen aus dem Hafen Ostias begab er sich schwankend, von Sciurus gestützt, hinab in den Bauch des Schiffes, um sich dort auf die Pritsche zu legen, welche für ihn bereitet worden war. Obgleich die See ruhig lag, schienen sich in seinem Inneren die Wellen zu überschlagen, die schäumenden Wogen bäumten sich auf, rumorten in seinem Magen, und es dauerte nicht lange, bis sie schließlich in seinem Kopf angelangt waren und dazu führten, dass ihm blümerant vor Augen wurde und er alsbald zwischen den Welten von Tag und Nacht pendelte, sich versuchte in das Reich Morpheus' und Somnus' zu flüchten, in welchem die Welt zwar nicht aufhörte zu schwanken, das endlos tiefe Meer jedoch weit in trüber Gräulichkeit entfernt war. Die meiste Zeit dessen wachte Sciurus neben seinem Herrn, versuchte ab und an ihn zum Trinken und Essen zu bewegen, letzteres vergeblich, nur ab und an begab er sich an Deck.


    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Feiner, graufarbener Nieselregen hing wie ein Schleier vor Gracchus' Augen und ließ ihn die Umgebung nur als verschwommenes, diffuses Bildnis wahrnehmen. Einzig Leontia und Quintus stachen in klaren, deutlichen Konturen aus der wabernden Masse hervor.
    "Leontia!"
    Obgleich er seinen Ruf konnte in seinen eigenen Ohren hören, so durchdrang kein Laut die dichte, diffuse Stille. Seine Base hörte ihn nicht, schritt Hand in Hand mit Quintus auf ein gähnend schwarzfarbenes Loch hin zu und drückte dabei in freudiger Erwartung die Hand ihres nicht nur vermeintlichen und doch falschen Vetters wie sie es so oft bei jenem, welchen sie vermutete, hatte getan. Bevor Düsternis die beiden verschluckte drehte Quintus den Kopf und blickte über seine Schulter zu Gracchus hin, grinste breit, zwinkerte und winkte ihm hämisch zu. Schließlich legte er seinen Arm um Leontias Schulter und trat mit ihr in die Höhle hinein. Als würde er in tiefem Wasser waten kämpfte sich Gracchus langsam voran.
    "Leontia! Nicht!"
    rief er noch einmal verzweifelt, doch es war längst zu spät, konnte sie ihn nicht mehr hören. Er erreichte die Höhle und stürzte hastig seiner Base und seinem Zwilling hinterher. Es war jene Höhle in den Bergen Italias, in welcher Quintus ihn hatte gefangen gehalten. Gracchus erkannte die karge Lagerstatt wieder, auf welcher er einige Nächte verbracht hatte, sah den klapprigen Tisch, in welchem Quintus' Messer steckte, und auch die Türe, durch deren vergittertes Fenster der gelbfarbene Schein der Fackeln auf dem Gang vor ihr in das Zimmer leckte. Es war kalt in diesem Raum, kälter noch als in der Höhle je gewesen, ein schwarzer Käfer, ein Skarabäus, krabbelte eilig über den felsigen Fußboden und verschwand unter der Tür hindurch. Von Leontia und Quintus jedoch kündete keine Spur, keine Menschenseele war in diesem Gewölbe, denn womöglich war es die falsche Höhle. Gracchus drehte sich um, um sie wieder zu verlassen, doch hinter ihm fand sich nur eine steinerne Mauer aus schwarzfarbenem, schroffen Granit. Panisch legte er seine Hände an den kühlen Stein, doch nirgends wich die Mauer zurück, nirgends tat sich eine Öffnung auf. Wieder drehte er sich, um an der Türe zu rütteln und nach Hilfe zu rufen, doch hinter ihm war keine Tür mehr. Eine Mauer, so starr und fest wie jene auf der anderen Seite, schwarzfarben und kalt, stand vor ihm. Schweiß trat auf Gracchus' Strin als er sich hastig um die eigene Achse drehte, jede Richtung inspizierte, nach einem Ausweg suchend. Doch nirgendwo um ihn herum fand sich ein Weg hinaus, fand sich keine noch so winzige Öffnung, nur dunkles Gestein, welches durch die Flamme der Kerze in seiner Hand spärlich nur wurde beleuchtet. Beklemmung erfasste Besitz von Gracchus' Gemüt, verzweifelt tastete er die Mauer ab, denn das Licht in seiner Hand verlor beständig an Leuchtkraft. Im Schatten der Kerze sah er erneut den Skarabäus über den Boden huschen, doch als er sich hinabbeugte, um das Tier zu beleuchten, war es bereits mit der Wand verschmolzen. Langsam zog sich der Kreis des Kerzenscheines immer enger zusammen, gleichsam wie der dunkle Käfig sich um Gracchus zusammenzog. Leise knisternd erlosch schlussendlich das Licht und ließ ihn allein in der Dunkelheit zurück.

    ~~~


    Mit einem Aufschrei schreckte Gracchus von der Liege hoch, schwer atmend, die Haut von Schweiß überzogen. Er war im Bauch des Schiffes, welches ihn Leontia nachtrug, ihr fern und doch voller Hoffnung. Sein geduldiger Leibsklave zwang ihn, ein wenig Wasser zu sich zu nehmen, beim Anblick einer Schüssel voll Puls jedoch übergab sich Gracchus und sank hernach erneut von Defatigation überwältigt auf der Liege hernieder, in Gedanken eine Bitte an die Götter sendend, der Reise ein rasches Ende in Form des ersehnten Hafens zu machen.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Der Frühling wehte ein einzelnes blass-rosafarbenes Blütenblatt vom großen Mandelbaum aus dem Garten der Villa Flavia durch das Fenster des Arbeitszimmers ins Innere der Villa heran, ließ es durch die Luft schweben, im Hauch der Stille tanzen und sich langsam, in sanften Wogen hin und her schwingend auf Gracchus' Schreibtisch hinabsinken. Ob dessen, die Reminiszenz an den süßen, verlockenden Odeur der Mandelblüten augenblicklich in seiner Nase verspürend, legte Gracchus den Griffel aus seiner Hand und stand auf, getrieben von vager Hoffnung, von einer sehnsuchtsvollen Ahnung geleitet als würde er einem unhörbaren Rufe folgen. Suchend trat er an das Fenster heran, welches nun einer freien Fläche wich, trat hinaus in die Wildnis der sabbatiner Berge, ein Gewirr aus Zweigen und Reisern, Gestrüpp auf dem Boden, grüne Verheißung, wohin immer der Blick sich wandte, selbst der Himmel war verdeckt durch mit gewaltigen Blättern beladene Äste. Nichts hier war wie in den Hügeln nördlich der imperialen Hauptstadt, und doch bestand für Gracchus kein Zweifel daran, wo er sich befand. Als er den Tiber erreichte schmerzten ihm die Füße, denn er war unendlich weit gelaufen, obgleich er sich keinen Schritt hatte bewegt. Doch selbst als er nun vom flachen Ufer hinein in das seichte, leise dahinplätschernde kühle Nass trat, konnte er keine Kühlung verspüren. Bis zu den Knien watete er in das Wasser hinein, um sich schlussendlich über die im gleißenden Sonnenlicht silbrigfarben glitzernde Oberfläche zu beugen. Auf dem völlig still vor ihm dahinfließenden Wasser konnte er wie in einem Spiegel sein Antlitz sehen, jenes, welches ihm gleichsam so vertraut und ebenso fremd war, die dunklen Haare, die braunfarbenen Augen, welche ihn immer ein weinig an seinen Vater erinnerten, obgleich so wenig dessen Härte in ihnen lag, die gerade Nase und die dünnen Lippen, die sich nun bei diesem Anblick an den Enden leicht hoben. Leontia trat neben ihn und ergriff seine Hand, auch ihr Spiegelbild zeigte sich auf der Wasseroberfläche, ihr befreiendes, ehrliches Lächeln, ihre epiphane Erscheinung, durchdrungen von Leichtigkeit, welche nun auch auf ihn überging als sie in so unendlich vertrauter Geste seine Hand leicht drückte. Er betrachtete ihrer beider Bildnis auf dem Nass - zwei Menschen in perfekter Harmonie - bis ihm das verräterische Blitzen in seinen eigenen Augen gewahr wurde. Er beugte sich ein wenig tiefer zum Fluss hin und betrachtete sich dabei, wie ein Lächeln auf seinem Gesichte erschien, ein hintergründig, hinterhältiges Lächeln, bei welchem schließlich gar die Zähne aufblitzten. ein wahrlich seltener Anblick in seinem eigenen Gesicht. Doch längstens war es nicht mehr die Spiegelung seines Antlitzes, welche er im Wasser vor sich gewahrte, es war gar ein Mensch dahinter, unter der Oberfläche, welcher nun langsam daraus hervortauchte, schließlich die gespannte Oberfläche durchstieß und mit einem nun bereits unflätigen Grinsen emporstieg, während Gracchus nichts anderes blieb, als zurück zu weichen und langsam im Wasser zu versinken. Quintus Tullius verbeugte sich formvollendet vor Leontia und bot ihr galant seine Hand dar, so dass Gracchus' Base ihn selbst keines Blickes mehr würdigte, den Halt seiner Hand löste und die seines Zwillings ergriff. "Oh, Manius, teuerster Vetter!" säuselte sie leise. "Wie entzückend." Unfähig zu einer einzigen Bewegung stand Gracchus auf dem harten, steinernen Untergrund und versank langsam darin. Er wollte schreien, brüllen und rufen, seine Base auf sich aufmerksam machen, wollte ihr zurufen, dass er Manius sei, nicht Quintus, dass er ihr teuerster Vetter war, Quintus nur ein Betrüger sei, doch obgleich er den Mund weit öffnete konnte kein einziger Ton seiner Kehle echappieren. Langsam ging er im Wasser unter, das kühle Nass füllte seinen Mund, füllte Nase und Ohren, schwappte bis über seinen Kopf hinweg, doch noch immer hörte er nicht auf in stiller Verzweiflung lautlos nach seiner Base zu rufen.

    ~~~


    Als Gracchus die Augen aufschlug blickte er in die nächtlich graufarbenen Augen seines Leibsklaven Sciurus, welcher ihn an den Schultern gepackt hatte und heftig schüttelte.
    "Leontia!"
    keuchte Gracchus atemlos. Der Sklave ließ nun von seinen Schultern ab und strich Gracchus mit einem kühlen Tuch über die Stirn. "Es war nur ein Traum, Herr. Du hast nach ihr im Schlaf gerufen, immer wieder. Schlaf weiter, Herr, bis zum Morgen sind es noch einige Stunden."
    "Leontia ..."
    "Es war nur ein Traum, Herr, nur ein Traum."
    "Nein,"
    stöhnte Gracchus leise.
    "Nicht nur ein Traum. Er hat sie mitgenommen, hat sie mir entrissen, mit meiner Person. Erwachen will ich, nur erwachen aus diesem Alptraum, doch dieser Alptraum ist das Leben selbst und daraus gibt es nicht Erwachen, nicht Entkommen."
    Mit einem leisen Seufzen drehte sich Gracchus zur Seite und zog die dünne Decke eng um seinen Körper. Er konnte den Wind hören, der durch die Segel strich, er konnte das Schaukeln spüren, mit welchem das Schiff ihn umfangen hielt und es dauerte lange, bis endlich er wieder zurück in den Schlaf fand. Das gewaltige Schiff indes durchpflügte weiter die Wellen des Mare Internum und jene der Zeit, langsam jedoch nur, denn die Winde waren schlecht, bei Tag und bei Nacht, stellten sich dem Schiff entgegen und verzögerten das Eintreffen in Alexandria immer mehr. Als sie schließlich nach endlosen Tagen und Nächten in der Hauptstadt Ägyptens einliefen, wusste Gracchus längst nicht mehr wie lange sie unterwegs gewesen waren, wussten nur, dass festes Land auf seine Füße wartete, und nichts Schöneres konnte er sich vorstellen, denn vorstellen konnte er sich seit Tagen nichts mehr, war sein Geist, sein Kopf doch völlig geleert durch die Seereise, gleich seinem Magen, durch das beständige Schwanken, in welchem kein klarer Gedanke fassbar gewesen war. Doch Sciurus hielt ihn davon ab, das Land zu betreten. Die Einreise nach Aegyptus war kompliziert, jede Person, welche das Land betreten wollte wurde mit Namen auf einer Liste vermerkt. Manius Flavius Gracchus war in Person des Quintus Tullius vermutlich bereits in Alexandria angekommen, weshalb sein neuerliches Auftauchen im Hafen einige Fragen würde aufwerfen. Da das Handelsschiff, auf welchem sie gereist waren, ohnehin bis zum nächsten Morgen im Hafenbecken würde liegen bleiben, überzeugte Sciurus seinen Herren, dort zu warten, während er Erkundigungen einholte über den Verbleib des Quintus Tullius und der Dame Flavia Leontia. Nur widerwillig stimmte Gracchus dem zu, doch sah er selbst kaum eine andere Wahl, zudem er sich nicht konnte sicher sein, dass nicht Quintus Tullius für die Eventualitäten seiner Verfolgung hatte Sorge getragen, so dass er geradewegs in eine von seinem Bruder im Zuge dessen Spieles aufgestellte Falle hinein tappen mochte. Die Nacht kam schneller als herbeigesehnt, denn die Sonne erreichte den Horizont in Aegyptus früher als in Rom, doch sie brachte kaum weniger Erleichterung denn der Tag, denn noch immer schwankte das Schiff unter Gracchus, auch wenn es nur das leichte, seichte Auf und Ab des Hafenbecken war, in welchem es schwamm. Der Mast knarzte leise bei jeder Bewegung, die Takelage surrte im Wind und beständig trieben die Gesprächsfetzen, fernes Gelächter und leiser Gesang aus dem Hafen herüber. Rom war das Zuhause Gracchus' Geist, Achaia war das Zuhause seines Herzens, doch beides schien ihm so unendlich weit fort, weiter noch als dies in Seemeilen auszudrücken war, weiter noch als je ein Mensch dies mit Worten fassen konnte. Sein Magen fühlte sich leer an, doch kein Hunger brachte ihn um den Schlaf, denn obgleich auch sein Geist leer war, so waren es die Gedanken an seine Base und seinen Zwilling, welche ihm die Nacht raubten, bis er endlich in traumlose Dämmerung fiel.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Der herbeigesehnte Morgen kam später als erhofft, und Sciurus noch viel später hernach. Von Deck aus, doch immer der Sicht vom Hafen aus verborgen, betrachtete Gracchus die weiße Stadt, das glänzende, gleißende Juwel, Hort von Wissen und Weisheit, zum Greifen nahe, doch unerreichbar. Es hatte ihn nie danach gedürstet, die Bauwerke der Stadt zu entdecken, selbst die Bibliothek hatte nie bewirken können, dass er die qualvolle Seereise hatte tatsächlich antreten wollen, doch nun, da er hier war, wie verlockend war da das Rascheln von Papyrus, das Reiben der pergamentenen Blätter aneinander, der Odeur rusiger Öllampen, die Tag und Nacht wissbegierigen Männern und Frauen die Gelegenheit boten, uralte Schriften zu studieren - und doch waren es nur nebensächliche Gedanken, welche an all dies verschwendet waren, galt alle Sorge doch allein dem Wohle Leontias.
    "Sie sind nicht hier, Herr, nie angekommen." Keine Regung sprach aus den Augen des Sklaven, seine Worte klangen nüchtern wie immer.
    "Nie angekommen? Aber ... wo?"
    "Man hat keine Nachricht von der Pegasus erhalten, Herr. Doch sie hätte längst hier sein müssen. Vielleicht hatten sie Schwierigkeiten und sind zurück nach Ostia gekehrt. Es hat keinen Sinn zu warten, Herr. Dieses Schiff legt noch vor Mittag ab, ich habe bereits mit dem Kapitän verhandelt. Wir können bis nach Ostia mit zurück segeln."
    "Nach Ostia? Gibt es denn keine Möglichkeit ...? Vielleicht gab es einen Sturm, sie ankerten an einem anderen Ort und treffen später ein."
    "Selbst mit Verspätung hätten sie längst hier ankommen müssen. Es hat keinen Sinn, Herr. Wenn es eine Nachricht der Pegasus gibt, so wird sie in Ostia auf uns warten. Am Handelsstützpunkt werden wir mehr herausfinden können."
    "Bist du dir ganz sicher, dass sie nicht hier sind, Sciurus? Ich will meine Füße auf Land setzen, will endlich diesem schwankenden Ungetüm, dieser wogenden Bestie entkommen, will nur Leontia ihrem Verderben entreißen. Mehr will ich nicht, Sciurus, mehr nicht."
    "Sie sind nicht hier, Herr. Ich hätte sie gefunden, Herr. Vertraue mir."
    "Ja."
    Leer wandte sich Gracchus' Blick dem Hafen zu, bevor er sich abwandte, um sich im Bauch des Schiffes zu verkriechen. Alsbald sank er erneut auf die Pritsche, erschöpft vom Nichtstun, von der Qual der See, von der Tortur der Gedanken, verschlief gar in unruhigem Halbschlaf das Auslaufen der Ariadne aus dem Hafen Alexandrias, kam erst weit auf dem Mare Internum wieder zu sich, nur um erneut in einen Zustand geistiger Düsternis zu fallen.


    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Noch niemals war er in Aegyptus gewesen, dennoch wusste Gracchus, dass dies das Land jenseits des endlosen Oceanos war. Es war die unendliche, unbarmherzige Wüste, in vielen Worten besungen, welche er vor sich sah, welche er neben sich, überall um sich herum sah. Feine, granulöse Sandpartikel hatten sich zwischen den ledernen Sohlen seiner Sandalen und der weichen Haut seiner Fußsohlen verfangen, stachen bei jedem Schritt in seinen Körper, selbst nun, da er keinen Schritt tat, nicht vor, nicht zurück, da er nur stand ohne sich überhaupt die Frage zu stellen, wie er an jenen unwirtlichen Ort gelangt war. Denn er war hier und wie so oft im Traum schien all dies seine Notwendigkeit und seine Richtigkeit zu haben. Es schien ihm ebenso wenig merkwürdig, dass über ihm am grau-blaufarbenen Himmel keine Sonne hing, dennoch es mehr als taghell war und ihm die heißen, sengenden Strahlen auf den Körper brannten. Er war in Aegyptus, weit hinter der weißen Stadt Alexandria, weit hinter dem blauen Wasser des Königshafens, weit entfernt von Tempeln, Bibliotheken und Palästen, selbst von den Pyramiden stromaufwärts am Nil. Doch womöglich gab es in diesem Aegypten ohnehin all dies nicht, so dass ein Nachsinnen über Positionierung mit festen Gegebenheiten ohnehin sinnlos war. Ein leichtes Flirren in seinem Augenwinkel zog mit seinem Erscheinen Gracchus' Aufmerksamkeit gänzlich auf sich, führte ihn dazu, die Augen zusammen zu kneifen, um besser in die Ferne blicken zu können. Die stockende Luft über dem sandigen Grund tanzte, die beigefarbene Landschaft dahinter verschwomm und Gracchus war sich mit einem Male sicher, dass er hier sterben würde, denn ohne Wasser musste er verdursten, qualvoll und elend in der Wüste, nichts als eine ausgedörrte Leiche im bleichen Sand würde bleiben, ein Körper, von welchem sich unter Einwirkung der Sonne die Haut abschälen würde, von seinen Knochen sich schälen würde wie altes Pergament im Wind. Ein gar ungustiöser Anblick würde dies sein und mehr noch, als die Aussicht auf den Tod beunruhigte Gracchus die Aussicht auf jene triste Hinterlassenschaft, welche seine geliebte Base Leontia, welche sich gar eben aus dem Flirren zu lösen begann, gar sicherlich aufs heftigste würde schrecken. Er hatte sie wahrlich vermisst, ihren Esprit, ihre epiphane Leichtigkeit, ihre unschuldige Neugier - all dies strahlte sie aus, mit einem unschuldigen Lächeln, bei welchem ihre Zähne weiß hervorblitzen, mit einem freudig erregten Glänzen in ihren Augen, und Gracchus winkte ihr mit der Schriftrolle über die Gleichnisse des Platon zu, welche er extra als Gesamtauflage, bis zum letzen Blatt komplettiert, aus Achaia hatte hierher gebracht, auf dass sie mit eigenen Augen der Schönheit der Worte, der Erhabenheit des Satzbaues, der Wahrhaftigkeit der Konstruktion und des unumstößlichen Glanzes der Wahrheit konnte habhaftig werden. In sich spürte Gracchus die leichte Aufregung, als würde er verbotenes tun, jene Aufregung, welche sein Herz die Dauer, welche ein Tropfen benötigte, um aus dem Kelch in das Wasserglas zu fallen, schneller schlagen ließ, und womöglich rührte dies daher, dass er tatsächlich in verbotenem Tun inbegriffen war, denn hatte nicht längstens Leontias Vater jener untersagt, ihre Nase all zu tief in theoretisches Schriftgut zu stecken? Dennoch, sie mochte nicht davon lassen, ebenso wenig wie Gracchus dies vermochte, wie er nicht vermochte von ihr zu lassen, von ihrem unberührten Geist und ihrem feinsinnigen Humor, wie der alte Sciurus nicht hatte vermocht von ihm zu lassen, so dass der Kreis sich mit ihr schließen mochte obgleich dies gar ebenso unmöglich war wie jenes zuvor. Mit freudigem Lächeln schwebte Leontia auf ihn zu. "Manius," hauchte sie in erfreuter Entzückung, breitete die Hände aus um ihn in einer Umarmung zu empfangen, zu begrüßen, und ein freudiges Lächeln kräuselte darum auch Gracchus' Lippen als er die Begrüßung erwidern wollte, seine Base jedoch an ihm vorbei schwebte. Die leichte Aufregung wandte sich in Furcht, der Gedanke an den bevorstehenden Tod drängte sich Gracchus' erneut auf, und genau wissend, was ihn würde erwarten, drehte er sich langsam um - womöglich stand auch er fest verwurzelt im Sand und nur die Welt um ihn herum, die Wüste in ihrer Gesamtheit schob sich - er folgte seiner Base mit dem Blick und kam darob nicht umhin, mit anzusehen, wie sie seinem Abbilde um den Hals fiel. "Wir werden Alexandria bestaunen, die große Bibliothek!" Aufgeregt funkelten ihre Augen. Auch Quintus' Augen funkelten, doch aus ihnen sprachen einzig Boshaftigkeit, Grausamkeit, Verderbtheit und devastative Sinne. "Ja, das werden wir." Gracchus hörte seine eigene Stimme ihr antworten, und doch war es nicht die seine, war es die seines Zwillings. Quintus Tullius umarmte Leontia, umfing sie mit seinen Klauen und lachte hämisch.
    "Nein! Leontia!"
    In einem Aufbäumen waghalsigen Mutes, dessen Gracchus kaum im wahrhaftigen Leben wäre je fähig, hechtete jener in einem gewagten Sprung nach vorn, um seine Base zu ergreifen, Leontia zu befreien, zu erretten aus den Klauen des Grauens. Doch Quintus und Leontia zerfielen zu Sand, lösten sich auf, so dass der leichte, aufkommende Wind die Körner ihrer Existenz mit sich hinfort trug. Verzweifelt fiel Gracchus auf die Knie, grub im Sand unter sich, vor sich, schob ihn bei Seite, durchwühlte ihn, doch es gab nur mehr Sand zu finden, unendlich viele winzige Steine und keine Spur von seiner Base. Heiß brannte die nicht vorhandene Sonne auf ihn hinunter und Schweiß lief ihm von der Stirne. Er würde in dieser Wüste sterben. Allein.

    ~~~

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Er schloss die Augen, berührte die Hand seiner Base, berührte die Realität, schloss die Türe und ließ seine Furcht zurück. Er wollte ihr geben, was sie ihm gegeben hatte, denn sie war die einzige, welche die Flamme in seinem Herzen hatte entzünden können, jene, welche seine Entschlossenheit zum Flackern hatte gebracht. Er hatte sie genommen und in sich getragen, doch als er nun in der Düsternis stand und nach ihr rief, kam niemand, um die Glut zu entflammen, niemand um sie zu retten. Er hoffte, alldem entkommen zu können, doch es gab kein anderswo, gab kein irgendwo in dieser Welt. So viel von all dem was gesagt wurde, war wahr, ebenso wahr wie der blasse Körper Leontias, eine epiphane Erscheinung nur Bruchteile eines digitus vor ihm. Niemals wieder würde er solch eine Stille finden, niemals wieder wollte er sie ziehen lassen, jenen halbgöttlichen und hungrigen Geist. Er sah in ihre Augen und sah eine Welt, welche nicht existierte, er sah in ihre Augen und sah in eine Welt, in welcher er leben wollte, denn niemals wieder würde er eine solche Stille finden wie in ihr. Doch er konnte nur durch sie hindurch blicken auf die Dinge, welche er nicht sehen konnte. Er horchte tief in sie hinein und konnte einen Traum hören, einen sterbenden Traum. Umhüllt vom Zorn eines unversöhnlichen Geistes flüchtete er in eine andere Zeit, in ein Land aus Nebel und Asche, ein Welt, die er sein eigen nannte, eine Welt, welche sich nicht nach Heimat anfühlte und doch gleichsam jene war, in einen sterbenden Traum, dorthin wo jeder flüchtete, wenn die Zukunft gestorben war. Alleine wandelte er auf gesichtslosen Straßen, bestieg die Tiefen desolater Höhen und sandte seine tonlosen Rufe aus in die karge Finsternis.

    ~~~


    Mehr noch als auf der Überfahrt von Ostia her hatte Gracchus auf der Rückreise das Gefühl, sich mehr und mehr der See anzugleichen, welche unbarmherzig die Ariadne in ihren Fängen hielt, das Schiff sanft auf seinen Wellen wiegte, was Gracchus jedoch mehr wie ein wildes Herumschaukeln erschien. Trübe waren seine Gedanken, wie die aufgewühlte See, kalt war ihm alsbald, wie das Wasser fern der Ufer, doch gleichsam begann er zu schwitzen, so dass sich ein salziger Film über seine Haut legte als hätte er im Sturm zu lange an der Reling gestanden. Hin und her warf er sich auf der schmalen Pritsche im Bauch des Schiffes, fiebrige Träume rissen ihn alsbald wieder und wieder in einen unruhigen Schlaf hinab, bald konnte er selbst jene wenigen wachen Momente der Realität nicht mehr von jenen des Traumes unterscheiden. Es drängte Sciurus alsbald, seinen Herrn an Land zu bringen, denn längst war dies mehr als das übliche Unwohlsein auf See, doch gerade erst kam die Küste Sicilias in Sicht und da das Schiff zwei Nächte zuvor auf hoher See durch einen Sturm ein wenig vom Kurs abgekommen war und so fast einen gesamten Tag hatte verloren, war der Kapitän nicht bereit, einen anderen Hafen anzulaufen denn seinen Heimathafen Ostia, wo die nächste Warenlieferung bereits auf ihn wartete. Sciurus jedoch, seinem Herrn treu ergeben, begann alsbald dem Kapitän zu drohen, gleichsam ihn mit den Verlockungen des Geldes zu ködern, so dass das Schiff schlussendlich den Hafen Misenums ansteuerte. Ob der glücklichen Fügung, dass eine der flavischen Villen nicht weit entfernt war gelegen, sandte Sciurus eine Botschaft dorthin und trug dafür Sorge, dass Gracchus zum Landsitz der Flavia bei Baiae gebracht wurde.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!