Ein Kreuz an der Via Appia


  • Es war ein strahlender Sommertag. Das Pflaster der Via Appia glänzte in der Sonne, die schon zu dieser frühen Vormittagsstunde heiß vom Himmel herunterbrannte, als wolle sie die liebliche Landschaft, die sich zu den Seiten der Straße erstreckte, ausdörren und versengen. Die Grabmäler entlang des Weges zeichneten sich eindrucksvoll gegen den leuchtendblauen Himmel ab, und warfen scharfumrissene Schatten.
    Pfeilgerade führte die Straße bis zum Horizont, und nur vereinzelt waren Menschen zu sehen, die sich langsam, träge durch die Hitze, dort entlang bewegten. Allgegenwärtig war das Lied der Zikaden, eintönig und schläfrig schwebte es über den lichtdurchfluteten Gefilden.
    Da näherte sich von Rom her eine größere Gruppe von Menschen. Auch eine Sänfte war dabei. Schon von weitem war auszumachen, dass einer der Männer ein Kreuz auf dem Rücken trug. Gebeugt und taumelnd schleppte er die schweren Balken, die ein großes T bildeten, umringt von anderen die ihn vorwärtstrieben.
    Zwei Bauernmädchen, die am Strick eine Ziege mit sich führten, blieben neugierig stehen und betrachteten den sich nähernden Zug, traten dann an den Straßenrand und bestaunten sein Vorüberziehen.


    Ketten rasselten bei jedem Schritt des Verurteilten. Es war ein sehr großer und breitschultriger Mann von wahrhaft barbarischem Aussehen, totenbleich, schmutzig und mager. Viele Narben trug er, und sein blondes Haar so wie sein Bart waren ganz verwildert. Schweißgebadet, das Gesicht starr wie eine Maske aus Stein, kämpfte er sich vorwärts. Immer wieder schienen die schweren Balken ihn zu Boden drücken zu wollen. Er hustete, wankte, schien zu fallen und fing sich doch wieder. Die Adern traten an seinen sehnigen Armen hervor und sein Atem ging keuchend, als er sich mühsam aufrecht hielt und das Kreuz weiter zerrte, Stück für Stück.
    Einige kräftige Männer folgten, sie trugen Knüppel in den Händen und trieben den Verurteilten weiter wenn es ihnen zu langsam ging. Auch sie schwitzten in der Sonne, und tauschten immer wieder Flüche über die Hitze aus, und über den verdammten Germanen wegen dessen Starrsinn sie sich die Mühe hier machen mussten - aber nur halblaut. Anscheinend wollten sie nicht, dass ihre Worte bis zu der Sänfte drangen, die einige Schritt hinter ihnen, auf den Schultern ihrer Träger ruhend, folgte.


    Beim Anblick dieses eleganten Fortbewegungsmittels machten die Bauernmädchen große Augen. Golden blitzte das Wappen mit dem Caduceus-Stab auf dem kostbaren Holz. Neugierig versuchten die Mädchen einen Blick ins Innere zu erhaschen, doch durch die edlen Vorhänge hindurch konnten sie nichts erkennen.
    So schlossen sich die beiden, in der Erwartung noch mehr zu sehen zu bekommen, der bunt gemischten Gruppe an, die sich an die Fersen des Zuges geheftet hatte - teils Schaulustige, die gespannt auf die Hinrichtung waren, teils Sklaven denen es, wie ihrem unzufriedenen Gemurmel zu entnehmen war, zu ihrem eigenen Besten befohlen worden war dabei zuzusehen.
    Schon tauchten in der Ferne zwischen den Pinien die Umrisse von Kreuzen auf. Stetig hielt der Zug darauf zu.

  • Es war heiß, und ich war heilfroh darüber, nicht laufen zu müssen - die Sänfte, in der ich mich befand, war allerdings auch nicht der beste Ort, um sich an einem heißen Tag aufzuhalten, trotz der dünnen, weißen und eigentlich gut luftdurchlässigen Stoffe, die mich vor neugierigen Blicken vom Straßenrand fernhalten sollten, fühlte ich mich, als wäre ich ein Stück Brotteig im Ofen, und würde langsam vor mich hin backen. Dennoch, gegen die Anstrengung, an einem solchen Ta das Kreuz tragen zu müssen, war dieses bequeme Sitzen in der Sänfte nichts.


    Dass ich fast den gesamten Sklavenhaushalt der Villa Flavia Felix mitgenommen hatte, um ihnen zu zeigen, wie ein Flavier mit Fehlverhalten umging, war schon längere Zeit nicht mehr vorgekommen, die wenigsten Sklaven landeten heute noch am Kreuz, es war eindeutig weniger aufwendig, ihnen die Kehle durchschneiden zu lassen oder etwas in dieser Art - aber gerade bei Rutger erschien mir eine solche drastische Maßnahme als angemessen, und es hatten genug andere Sklaven von seinen Taten erfahren, um deutlich machen zu müssen, dass seine Taten zu keinem guten Ende führen konnten. Vor Arrecina war das Datum der estrafung geheimgehalten worden, ich wollte sie nicht dadurch beschweren, dass sie eventuell mitkommen wollte, um ihren Geliebten sterben zu sehen, so wie ich sie kannte, hätte sie es gewollt.


    Die Via Appia war um diese Stunde fast ausgestorben, die meisten Reisenden, welche Italia kannten, suchten sich die kühleren Morgen- und Abendstunden für längere Wege aus, tagsüber wurde es im Sommer schnell unerträglich. Eine Weile lang verloren sich meine Gedanken im selbstvergessenen Zirpen der Zikaden, aber die Hitze und ein Schweißtropfen, der mir über die Stirn entlang bis zur Wange rann, brachte mich schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich fühlte mich elend, am letzten Abend hatte ich zuviel getrunken, um schlafen zu können, und war mit einem veritablen Kater und einem stark übersäuerten Magen aufgewacht - dass mir diese ganze Prozedur nicht behagte, durfte jedoch niemand wissen, es hätte auch kaum zu jenem Bild gepasst, welches wir Flavier für die Öffentlichkeit zu zeigen versuchten. Aufrechte, starke Römer, die nichts in ihrem Weg beirren konnte - was für eine Lüge, dachte ich mit einem grimmigen Schmunzeln auf den Lippen, denn eine Lüge war es und würde es immer bleiben.


    Ich wusste nur zu gut, wieviele Zweifel ein jeder von uns hegte, wieviele Schmerzen uns dieses Bild nach außen kostete, wieviele Dinge man dafür aufgeben musste. Energisch vertrieb ich das Bild eines ganz bestimmten Gesichtes aus meiner Erinnerung und blickte geradeaus, denn wir hatten den Ort der Bestimmung erreicht, die Kreuze waren schon erkennbar. Während der letzten Schritte war es in unserer kleinen Reisegruppe stiller geworden, denn die letzte Entscheidung zwischen Leben und Tod stand bevor. Der Aufseher trieb Rutger voran, ein elendes Stück Fleisch war er geworden, dessen aufsässige Seele anscheinend durch das bevorstehende Urteil gänzlich verloren gegangen war - aber ich verbat mir jegliche Gefühlsregung und bedachte die Träger meiner Sänfte mit einem leichten Wink, dass sie diese abstellen mochten.


    Die Kreuze trugen inzwischen längst keine Körper mehr, zumindest jene nicht, die wir erreicht hatten, und während ich mich aus der Sänfte schälte, suchte der Aufseher einen passenden Ort aus, an dem das Kreuz aufgestellt werden konnte. Die Schaulustigen wurden noch durch zwei grimmig blickende Haussklaven ferngehalten, während ich auf Rutger zuschritt und ihn, schwitzend und erschöpft wie er sein musste, betrachtete, ohne Triumphgefühl im Inneren. Es machte mich traurig, wie es gekommen war, und ich verbarg meine Trauer hinter einer steinernen Miene ohne jede Emotion.
    "So endet es," sagte ich und suchte seinen Blick. Irgendwo musste er sein, der Rutger, den ich kannte, den ich irgendwann einmal geschätzt hatte.

  • In Ketten hatte man ihn nach Rom gebracht, in Ketten verließ er die Stadt, um zu sterben. Die schweren Eisen umschlossen Handgelenke und Knöchel, sie schleiften und rasselten, knirschten und klirrten. Die Geräusche dröhnten in seinen Ohren, mischten sich mit dem Laut seines keuchenden Atems und seiner schweren, unregelmässigen Schritte auf dem Pflaster der Straße.
    Ausgezehrt durch die endlose Kerkerhaft, zermürbt durch den vernichtenden Fluch des Goden Flavius Gracchus, war Rutger schon längst am Ende seiner Kräfte, doch mit zusammengebissenen Zähnen schleppte er seine Last weiter, starrsinnig und verbissen. Vor den Römern durfte er nicht aufgeben, keine Schwäche zeigen. Es war das letzte was ihm noch blieb, den Skrälingen zu zeigen wie ein Sohn seines Volkes starb - aufrecht und furchtlos, sein Schicksal unerschüttert tragend. Unbeugsam! So musste es sein.
    Durch die Erschöpfung in eine Art von Trance gefallen, setzte er stur einen Fuß vor den anderen. Der Schweiß rann ihm in die Augen, und die Sonne blendete ihn. So lange hatte er nur Dunkelheit und Dämmerung gekannt. Kaum sah er seine Umgebung, und als sie schließlich ihr Ziel erreichten, musste der Aufseher ihm erst den Knüppel in die Seite stoßen, bevor er es wahrnahm.


    Er ließ das Kreuz von den Schultern gleiten. Krachend prallten die Balken, an den er bald sein Leben lassen sollte, auf das Pflaster. Rutger richtete sich auf, hustete, streckte dann seinen geschundenen Rücken. Sein Atem beruhigte sich langsam, er wischte sich mit den Händen über das schweißnasse Gesicht und sah, mit schmal zusammengekniffenen Augen auf die Kreuze, die hier an diesem Richtplatz am Rande der Straße standen. Ihr Holz war verwittert, manche standen schief oder waren schon umgestürzt, keine Spur war an ihnen geblieben von den Menschen, die daran gestorben waren. An einem in der Nähe sah man noch die großen Nägel aus dem Holz ragen, von rotem Rost überzogen.
    Beinahe körperlich drängte sich vor Rutgers Augen das Bild eines Gekreuzigten, den er einmal an einer Wegkreuzung in der Nähe von Colonia gesehen hatte... der Leib ganz bedeckt von einem Gewimmel von Krähen...als sie aufgeflogen waren, war da nur eine Masse von zerfetztem Fleisch gewesen. Ein Schwindel ergriff ihn, und auf einmal war da wieder dieser namenlose Schrecken den er doch im Carcer zurückgelassen glaubte, schnürte ihm die Kehle zu und wollte ihn in die Knie zwingen.
    Mit mahlenden Wangenknochen wandte Rutger sich ab. Warum konnte es nicht einfach schon vorbei sein?! Eine eisige Kälte kroch ihm in die Glieder.


    Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich ein Feld von Gerste. Da heftete er den Blick darauf. Das Korn leuchtete golden in der Sonne. Fruchtschwere Halme wiegten sich sacht, und am Randes des Feldes glomm rot der Klatschmohn. Schön.
    Dann stand auf einmal Aquilius vor ihm. Ja, so endete es...
    Das Rot erinnerte Rutger an den Tag als er zum ersten Mal einen Mann erschlagen hatte - einen Krieger der Hermunduren, dessen Blut war genauso rot gewesen, als Rutger es vergoss. Erinnerungen bestürmten ihn. Der Schatten einer Pinie, scharf und am Rande etwas bläulich, war wie die Schatten der Tannen auf der Lichtung, wo er einmal mit Sigmar nach der Jagd gerastet hatte... er schmeckte förmlich noch das frische Fleisch, dass sie damals gebraten hatten. Eine Frau unter den Zuschauern sah neugierig herüber und spielte dabei mit ihrem Zopf, genau wie die kleine Keltin, die er sich einmal bei einem Überfall gefangen hatte...
    All das endete jetzt. War vorbei und nichtig. Aquilius direkt vor ihm schien sehr weit weg zu sein. Sollte er ihn nicht anspringen, verfluchen, wenigstens versuchen ihn mit den Ketten zu erwürgen? Rutger war es, als stünde er neben sich, durch einen dumpfen Nebel von der Welt getrennt. Wozu noch kämpfen... alles endete hier. Ein Schatten von Trauer glitt über sein erstarrtes Gesicht, doch er antwortete mit rauher Kehle: "Was soll's!" , und zuckte hartgesotten die Schultern.

  • Mars war auch ein Todbringer, dachte ich, und dennoch, alles in meinem Inneren widerstrebte diesem Gedanken, nun mit einem einzigen Wort das Leben eines Menschen auszulöschen. Er hatte gegen das Gesetz verstoßen, er war geflohen, er hatte Arrecina entführt, sie wohl auch noch zur Frau gemacht, und ihre Liebe gewonnen hatte dieser unbeugsame Germane ebenso - und doch, ein winziger Teil in meinem Inneren war zurückgeblieben, der sich fragte, ob ich es nicht ebenso getan hätte, wäre ich an seiner Stelle gewesen. Ob ich auch geflohen wäre, hätten mich Germanen als Sklaven gefangen, ob ich jede Gelegenheit genutzt hätte zu entkommen? Ich wusste es nicht, vielleicht fehlte mir auch dieser unbeugsame Wille, mein Schicksal nicht zu akzeptieren, ich hatte so vieles schon akzeptiert und akzeptieren müssen ... die Lippen kurz aufeinander pressend, hörte ich seine trotzigen Worte und atmete tief ein.


    "Sage mir, wie willst Du bestattet werden, Rutger? Gibt es einen Ritus Deines Volkes dafür?" Ich wollte diesen einstmals so starken, kräftigen Leib nicht als Rabenfutter enden sehen, und ich hatte noch weniger Verlangen danach, von einem ruhelosen, rachsüchtigen Sklavengeist auf ewig verfolgt zu werden, weil diese Barbaren irgendein besonderes Todesritus hatten, das eingehalten werden musste - eine allerletzte Ehre, ein letztes Zugeständnis daran sollte er erhalten, dass er ein Mensch war und dass ich ihn nicht nur als meinen Besitz gesehen hatte, wie man ein Möbelstück betrachtete oder ein Tier bewertete. Er war ein Krieger gewesen, und wer, wenn nicht ein Priester des Mars, musste solches respektieren? Auch ein geschlagener Feind verdiente eine gewisse Ehre, auch wenn eine Begnadigung angesichts seiner Taten und seines sturen Trotzes nicht mehr in Frage kam, ohne mich lächerlich zu machen.
    Einer der Sklaven, die ich mitzugehen geheißen hatte, nahm ein Seil aus der Kiste heraus, die für Rutgers Körper bestimmt war, und auf meinen Wink hin knüpfte er eine Schlinge, um den langsamen, qualvollen Kreuzestod mit einem schnellen Ruck vorzuziehen, wenn es soweit war.


    Zwei andere Sklaven stellten, während ein dritter die Anweisungen gab, das auf den Boden gekrachte Kreuz halb auf, und ein weiterer holte Hammer und Nägel, blieb in meiner Nähe stehen, um meine Anweisungen abzuwarten. Ich würde den Sklaven des flavischen Haushaltes eine Rede halten müssen, und gleichzeitig hätte ich alles, was ich in den letzten Tagen getrunken hatte, auf den Boden speien können, so widerlich allein war mir der Gedanke an das Kommende. Einen Mann im Kampf zu töten war die eine Sache, aber jemanden zu einer solchen Qual verurteilen war etwas ganz anderes. Etwas, dessen Entscheidung ich niemandem wünschte und wünschen würde. Nicht einmal meinem ärgsten Feind, hätte ich denn einen gehabt.

  • Als ob sie so etwas nötig gehabt hätte! Ungnädig trottete Salambo hinter der Hinrichtungs-Prozession her. Sie, Sklavin in siebter Generation, Sprößling der stets treu ergebenen (nun gut, zuweilen dem Wahnsinn verfallenen) barkidischen Linie! Sie die doch nie im Traume daran denken würde, ihre Pflichten gegenüber dem edlen Geschlecht der Flavia zu vergessen, sie musste sich nun hier belehren lassen wie irgend ein Wildfang. Selbst ihr war die Hitze heute zu viel, obwohl sie ihre luftigste und leichteste Tunika gewählt hatte. Salambo seufzte leidig und beeilte sich, in die Nähe des Dominus Aquilius zu kommen, als die Prozession halt machte.


    Mit jener unaufdringlichen Dienstbeflissenheit, die ihr im Blute lag, wartete sie aufmerksam, ob er nicht irgendeinen Wunsch äußern oder auch nur andeuten würde. Sie war gut ausgerüstet, trug bei sich sowohl einen Schlauch verdünnten Weines als auch Wasser, Taschentücher, Obst und Knabbereien sowie einen großen Fächer aus Pfauenfedern. Vielleicht, so hoffte die Halb-Nubierin, konnte sie ja die Gelegenheit nutzen, sich bei dem Dominus ins rechte Licht zu setzen. Denn seit ihre Herrin auf die verbotene Reise gegangen war, war das Leben für das süße Kammerkätzchen nicht unbedingt einfacher geworden. Den verurteilten Germanen betrachtete Salambo ohne eine Spur von Mitleid. Genau wie Daphnus, diese nordischen Hünen, obschon zugegebenermaßen recht adrett - wenn sauber - waren einfach schlechte Sklaven, die ihren Platz nicht kannten.

  • Niemals hätte Rutger gedacht, dass der Flavier ihm das Zugeständnis einer Bestattung machen würde. Er wandte den Kopf, eine steile Falte des Mißtrauens zwischen den Brauen, und blickte Aquilius voll Unglauben an. War die Frage vielleicht nur wieder ein weiteres perfides römisches Spielchen? Seine schlimmste Angst war es, dass die Raben sein Herz in diesem fremden Land fressen würden, und er sich in einen ruhelosen Draug verwandeln würde, einen von Bosheit erfüllten Wiedergänger der den Lebenden nur Schaden wollte... Arrecina wußte das - hatte sie es Aquilius gesagt? Wollte der ihn bis zuletzt verhöhnen?
    Wehmütig dachte Rutger an den Julabend zurück an dem er Arrecina gebeten hatte seinen Leichnam zu verbrennen. Ungeheuer lebhaft erinnerte er sich an den Duft des Heus, das Gefühl ihrer heißen bloßen Haut auf der seinen, ihre wilden Pläne, Arrecinas verrücktes Versprechen, das ihn so gerührt hatte... alles vergangen, alles von der Realität eingeholt.


    "Feuer." , sagte er leise.
    Seine Kehle fühlte sich trocken und rauh wie ein Reibeisen an.
    Er schluckte und fuhr mit tonloser Stimme fort: "Laß mich verbrennen. Und die Asche in einen Fluß werfen. Oder in den Wind wenn er nach Norden weht."
    Er hoffte dass es ihm so gelänge den Weg in die Heimat zu finden, doch sicher war er nicht. Forschend sah er Aquilius in die Augen, suchte zu erkennen ob der das tatsächlich ernst meinte.
    Und einen seltsamen Moment lang fragte sich Rutger, ob er selbst in seiner Rache die Grausamkeit wohl mit ähnlichem Großmut paaren würde, gegenüber einem Feind, der eine Frau seiner Sippe geraubt hätte - oder gar seine Schwester Jorun - und kam zu dem Schluß, dass er so einen Neiding vor lauter Wut wahrscheinlich sehr viel schneller töten würde, dann aber dessen Aas eigenhändig den wilden Tieren vorwerfen würde!
    Es schoß ihm durch den Kopf, dass Arrecina zu dieser Überlegung bestimmt ungerührt sagen würde: "Da merkt man eben unsere kulturellen Unterschiede, Rutger." Ach Arrecina...
    Als die Sklaven sich an den Kreuz zu schaffen machten, irrte sein Blick unwillkürlich dorthin, dann zu der Schlinge, den Nägeln... ein Albtraum war das. Ein Albtraum der jetzt wahr wurde. Rutger spürte dass er bis ins Mark fror. Eine Ader pochte an seiner Schläfe und er schmeckte schal seine eigene Furcht. Die Ketten klirrten als er sich straffte, ganz aufrecht und stolz, und mühsam behielt er seine Ich-lache-dem-Tod-ins-Gesicht-Haltung bei.
    Doch immer schwerer fiel es ihm, diese Fassade unerschütterlichen Gleichmutes wenigsten einigermaßen zu wahren. Seit seiner Flucht hatte er schon oft in angsterfüllten Träumen diesen Moment erlebt, immer schrecklich, manchmal auch bizarr* - doch er war jedesmal aufgewacht bevor sie die Nägel in sein Fleisch schlugen. Diesmal gab es kein Erwachen.

  • An jedem anderen Tag hätte ich wohl für die reizvolle nubische (beziehungsweise halbnubische) Schönheit in der Sklavenkavalkade einen Blick übrig gehabt, und sicherlich nicht nur einen Blick alleine, doch heute war mein Magen übersäuert, ich fühlte mich verkatert bis in die Zehenspitzen und ich hätte, um es plebejisch auszudrücken, wohl einfach nur kotzen können angesichts des widerlichen Geschehens, das noch vor mir lag. Die Worte, die er nun sprach, konnte ich kaum vernehmen, auch wenn ihr Sinn sich in mein Innerstes meisselten, als müssten sie im Marmor meiner Empfindungen für alle Ewigkeiten bestehen, länger, als mein eigenes Leben währen würde. Hätte er doch anders gehandelt! Hätte er nicht die größten aller Dummheiten begangen, die man als Sklave begehen konnte, und wir müssten nicht hier sein. Doch nun durfte es kein Zaudern geben, kein Zagen, keinen Blick zurück, wenigstens ich musste handeln wie ein Patrizier, auch wenn der kleine Teil des plebejischen Aquilius, des Fischers, der ich für ein halbes Jahr gewesen war, am liebsten auf das Meer hinausgefahren wäre, um all diesen Dingen hier zu entfliehen. Der Patrizier Aquilius durfte nicht fliehen.


    "Feuer ..." sagte ich langsam. "Auch wir verbrennen unsere Toten." Seltsam, nach dieser langen Zeit eine Gemeinsamkeit zu entdecken, und glücklicherweise war es ein Wunsch, der sich erfüllen lassen würde, ohne dass es Gerede geben würde. Für eine längere Zeit sagte ich nichts, weil ich es nicht konnte, innerhalb weniger Augenblicke würde aus dem lebendigen Körper dieses Mannes nichts als eine schlaffe Erinnerung seiner Lebenskraft werden, und es war mein Wort ... ich blinzelte, kniff die Augen zusammen und vertrieb das Mitgefühl aus meinem Inneren. "Du wirst den Weg in Deine Heimat sicher finden, wenn Du die letzte Reise antrittst."


    Es war seltsam, einem Todgeweihten Hoffnung zu spenden, auch wenn er an unsere Götter nicht glaubte und nie glauben würde. Aber ich wusste auch, wieviel wenige Worte verändern konnten, wenn sie ernst gemeint waren. Dann nickte ich Rutger zu und trat zurück, um den Sklaven das Feld zu überlassen, die das Kreuz in seine Richtung schoben. Der Sklave mit den Nägeln näherte sich ebenso, und ein vierter Sklave begann die harte Arbeit, Rutgers Leib auf dem Kreuz festzubinden - Nägel waren eine Sache, aber sicher ist sicher. Selbst im Tod überließen wir Römer selten etwas dem Zufall. Ein milder Wind kam auf und trug den süßen Duft irgendwelcher Feldblumen mit sich, die kaum erblüht sein mochten und es doch verstanden, dieser Szenerie etwas surreales zu verleihen. Wärst Du nur nicht geflohen, dachte ich und schwieg. Wärst Du nur nicht geflohen.

  • Der leichte Wind kühlte Rutgers Stirn, und ließ sanfte Wellen durch das Getreidefeld laufen. Er roch den Duft von Sommerblumen, es erinnerte ihn an den Tag nach dem großen Unwetter, als er mit Arrecina in den Bergen gewesen war, in einem sonnendurchglühten Hochtal, sie schlief und er sah ihr dabei zu... das war kurz bevor Flavius Aristides sie einholte.
    Rutger hustete und sah starren Blickes in die Ferne. Dies waren die letzten Momente seines Lebens. Alles war weit weg und unwirklich, zugleich waren seine Sinne geschärft und ließen ihn seine Umgebung extrem intensiv wahrnehmen, als wolle er diesen Moment ganz tief in sich aufnehmen, ihn trinken und von ihm zehren in den Qualen und in der Leere, die ihn erwarteten. Die Welt war schön und sie würde ohne ihn weitergehen, genauso wie bisher.
    Am Rande nahm er wahr dass Aquilius ihm zunickte - und hatte er nicht soeben gar versucht ihm Trost zu spenden? Wie seltsam... Nebenbei fragte Rutger sich ob der Flavier das hier wohl gerne tat - er machte nicht den Eindruck. Vielleicht waren sie alle in einer Kette von Ereignissen gefangen, in der niemand eine Wahl hatte... und niemand jemals Schuld trug... ein wirrer Gedanke... er hatte für die Freiheit seines Volkes gekämpft, Aristides hatte sich an ihm für den Überfall gerächt, er hatte versucht seine Freiheit zurückzugewinnen, und Aquilius musste nun Arrecinas Ehre rächen, was den Tod für ihn bedeutete. Oder wahrscheinlich trug die Schuld einfach der, der unterlag.


    Es ging alles seinen Gang. Der gesittete Teil war wohl vorbei. Hände griffen nach ihm, zogen ihn zurück, drückten ihn hinunter auf das Kreuz. Er folgte mit hölzernen Bewegungen, als wäre das Leben schon aus ihm gewichen.
    Ich werde nicht schreien. Mein letzter Gedanke soll Arrecina gelten. Die Römer werden mich nicht schreien hören!
    Er lag auf den Balken, spürte wie die Ketten gelöst wurden. Ein letztes mal aufklirrend fielen sie zu Boden. Seine Arme wurden ausgebreitet, von kräftigen Händen auf den Querbalken gedrückt und festgehalten. Über ihm war der Himmel unglaublich blau. Die Sonne blendete. Ein Sklave begann, seinen rechten Arm mit einem groben Strick an den Balken zu fesseln. Auf einmal stieg eine Welle von Panik in ihm auf - dies war das Ende, er würde jetzt grausam krepieren, sie würden ihn vernichten, auslöschen, keine Spur würde von ihm bleiben...
    Rutger überlief ein eiskaltes Schaudern, er presste die Kiefer zusammen und versuchte ruhig zu atmen, ganz ruhig.
    Ich werde nicht schreien. Jeder Schmerz ist endlich. Ich bin ein Hallvardunge. Ich muss standhaft sein.
    Die Stimmen der Menschen um ihn herum verschwammen ineinander, wurden zu einem einzigen Murmeln und Summen in seinen Ohren. Ein Tropfen von kaltem Schweiß floss über seine bleiche Stirn.
    Zu seiner linken näherte sich der Sklave mit den Nägeln, er beugte sich herunter und ließ sich vom Aufseher leise erklären wo er sie ansetzen musste, damit sie gut hielten und das Fleisch nicht etwa ausriss. Einen der langen hässlichen Metallstifte setzte er an Rutgers Unterarm, suchte wohl die rechte Stelle und sah fragend zum Ausseher hinauf, der nickte bestätigend...


    Als die kalte Eisenspitze Rutgers Haut berührte und sich, wenn auch nur ganz leicht, da hineindrückte, war es um ihn geschehen. Genau wie in seinen Albträumen war das, und dieser letzte kleine Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen - als wäre ein Damm gebrochen griff das blanke, nackte Entsetzen nach ihm, und tilgte restlos die Apathie, die ihn bisher geschützt hatte. Triumphierend starrte ihn der Abgrund an, die Kälte, das Vergehen, das gierige Nichts, dem er schon einmal nur um Haaresbreite entronnen war.
    "Nein...!", keuchte Rutger und bäumte sich unvermittelt auf. Seine letzten Kräfte flossen in dieses letzte Aufbegehren, und wie ein Tobsüchtiger entriss er sich den halbgeknüpften Fesseln und den haltenden Händen der Sklaven, die, nachdem er so lange fügsam gewesen war, gerade kaum damit rechneten.
    Alles geschah rasendschnell. Rutger packte den Nagel, schloss die Faust darum und schmetterte sie dem Sklaven zu seiner linken ins Gesicht. Es knirschte und der Mann fuhr zurück, griff benommen nach seiner Nase aus der das Blut schoss. Ein Sklave fasste Rutgers Schultern, versuchte ihn niederzuringen, ein anderer suchte seine Hände zu umklammern, doch der Germane kämpfte um sein Leben wie ein wildes Tier, biss, entwand sich, und kam auf die Füße. Als wäre die Welt zu einem Bild erstarrt sah er manche Gesichter der Umstehenden - Erschrecken stand darin, Überraschung oder Zorn.
    Fort, nur fort! Er dachte nicht, überließ sich blind der Wolfswut die ihn da gepackt hatte, und stürzte sich ohne Zögern auf den nächsten, der zwischen ihm und dem Entkommen stand - ein eher schmaler Haussklave war das, der erschrocken einen Schritt zur Seite machte.
    Doch im selben Moment schwang einer der Männer, ein stämmiger Glatzkopf, seine Keule. Ein wuchtiger Schlag traf Rutgers Rücken und Schulter, riss ihn von den Füßen und schmetterte ihn zu Boden.


    Das trockene Gras war plötzlich ganz nah vor Rutgers Augen. Er blinzelte benommen, schwarze Punkte tanzten um ihn. Mit einem Keuchen sog er die Luft ein, krallte die Hände in den Boden und versuchte sich wieder hoch zu stemmen. Ein dumpfer Schmerz pochte in seiner Schulter, und nur verschwommen sah er die Silhouetten von Menschen, schwarz vor der gleißenden Sonne... wie der Traum, genau wie der Traum.
    Rutger schloß die Augen und flüsterte leise etwas in der Sprache seines Volkes, dann waren da wieder viele Hände die ihn packten, ihn eisern und unnachgiebig zurück zum Kreuz ziehen wollten. Da zerbrach etwas in ihm. Langsam hob er den Kopf, sah mit leeren Augen zu Aquilius auf, und verzweifelt brachen die Worte aus ihm hervor:
    "Gnade. Lass mich leben!"

  • Eben noch lauschte ich dem entfernten Zirpen der Zikaden, die, ohne von Leid und Not dieser Welt irgend etwas zu wissen, ihr ewiges Lied sangen, dann verblasste diese Welt innerhalb weniger Lidschläge, holte mich in die Gegenwart zurück, zwang meine müden Sinne, mich auf das Geschehen zu konzentrieren, das direkt vor meiner Nase stattfand und mich daran erinnerte, wieviel Kraft doch immernoch in der sturen Seele meines Sklaven zu schlummern schien. Glücklicherweise wurde er durch einen der Haussklaven mit einer angemessen großen Keule wieder unter Kontrolle gebracht - ich hatte Rutger unterschätzt, aber die Unaufmerksamkeit der Sklaven hatten sie sich selbst zuzuschreiben, in sofern würde es von mir für den Mann mit der gebrochenen Nase sicherlich keine tröstenden Worte geben. Wer nicht auf einen Gefangenen achtete, war selbst schuld, und wäre ich an Rutgers Stelle gewesen, hätte ich jede Gelegenheit genutzt, dem Kreuz doch noch irgendwie zu entkommen.


    Das Rad drehte sich weiter, er wurde wieder gebunden, diesmal waren sie aufmerksam genug, ihn gleich zu mehreren zu bewachen und zu binden, wer hatte auch jemals behauptet, Sklaven seien nicht lernfähig? Mir war nicht nach Schmunzeln zumute, aber irgendwo in mir schmunzelte ein zynischer, abgestumpfter Teil des Patriziers Aquilius doch. Irgendwann hatte man einfach zuviel Schmutz gesehen, und irgendwann verging einem auch das Lachen, bevor man gänzlich in der Miserabilität des Lebens versank.
    "Er bettelt um Gnade!" spöttelte einer der Sklaven in gebrochenem Latein rauh und schüttelte den Kopf, während eine achaisch anmutende, sehr junge und ausgesprochen reizlose Haussklavin erschüttert den Blick von Rutger abwandte und das Gesicht in den Händen vergrub. Wen er angesprochen hatte, war mir sehr wohl bewusst, aber ich ließ sie erst einmal spotten, den ein oder anderen verachtungsvollen Blick auf Rutger werfen, denn er musste wissen, wie kurz er davon entfernt war, diese Welt auf ewig zu verlassen. Es gab für sein Handeln keinerlei Gnade, es durfte keine Gnade geben.


    Und doch ... diesmal begegnete ich seinem Blick, nach einer gefühlten Ewigkeit, sah die Furcht, die Verzweiflung, zum ersten Mal keinen Hass, wie er ihn mich immer hatte sehen lassen. Zum ersten Mal sah ich den Menschen hinter der Maske. Warum erst jetzt? Warum war er geflohen, warum hatte er nur bei Arrecina liegen müssen, warum waren seine Wege in solch eine falsche Richtung gegangen? Rutger musste sterben, es gab keinen anderen Weg, nicht nach diesem Aufmarsch hier, der den Sklaven der Villa eine Lektion hätte sein sollen. Lass mich leben. Nie hatte er um etwas gebeten, hatte sich mit seiner harschen, widerspenstigen Art alles verschenkt, was er hätte haben können, von seiner Freiheit abgesehen.
    "Geht beiseite," sagte ich und gab den Sklaven einen Wink, den sie nur mit ungläubigen Blicken in meine Richtung befolgten. Ich musste in ihren Augen durchgedreht wirken, wie ein Verrückter, der mit der Gefahr spielte, aber ich konnte nicht anders. Als sie einige Schritte abseits standen, neigte ich mich vor, in Rutgers Richtung, und sprach leise zu ihm, leise genug, dass meine Worte in den Geräuschen der Umgebung untergehen mussten, wenn man nicht direkt neben uns stand.


    "Warum sollte ich Dir Gnade erweisen? Warum sollte ich Dich leben lassen, Rutger, der Du voller Hass bist, der so wenig Einsicht bewiesen hat, der stets meine ausgestreckte Hand ausgeschlagen hat? Sage mir, wieso sollte ich Dich leben lassen, welchen Grund sollte ich dazu haben? Denn was Du getan hast, verdient den Topd, und ich zweifle nicht, dass Dein Volk einen Mann längst getötet hätte, der so gehandelt hat, wie Du es tatest." Ernst blickte ich ihm in die Augen, und wieder schien die Welt hinter mir zu verblassen, während ich auf seine Antwort wartete.

  • Sie schleiften ihn zurück und legten ihn erneut in Fesseln, diesmal so fest, dass er kein Glied mehr rühren konnte. Doch die Raserei seines letzten Aufbäumens hatte Rutgers Kräfte ohnehin vollends erschöpft, er setzte sich nicht mehr zur Wehr, kniete schwer atmend auf dem Gras, von seinen Bewachern fest- und zugleich aufrecht gehalten. Ein feuchtes Husten drang tief aus seinem Brustkorb. Wie von weit her hörte er Spott, spürte er auf sich hämisch die Blicke der Sklaven der Flavia, denen er früher seine Verachtung für sie, als feige Speichellecker der Römer, deutlich bezeugt hatte. Nun hatten sie ihrerseits Grund auf ihn herabzusehen, doch Rutger, an einem Punkt angelangt, an dem ihm sein zerfasertes und zerfranstes Selbst zu entgleiten und sich in Nichts aufzulösen drohte, war jenseits der Sorge sein Gesicht zu wahren, und es kümmerte ihn kaum. Er wollte einfach nur – leben! Existieren!
    Nach langer Zeit trat Aquilius an ihn heran. Die Hände der Bewacher lösten sich von Rutger, der ein Stück in sich zusammensank, dann wieder das schweißnasse und von Qual verzerrte Gesicht zu dem Flavier hob, als dieser die Frage stellte: Warum?


    Darauf wußte Rutger keine Antwort. Es hätte wohl der Beredsamkeit des Rabengottes selbst bedurft, um überzeugend zu leugnen was er getan hatte, doch dieser stand ihm nicht bei, ebensowenig wie bei Rutgers letztem Kampf. Er suchte mühsam nach Worten, formulierte sie schleppend mit ausgedörrter Kehle.
    "Ich wollte...", sagte er dumpf, "bei allem was ich getan habe... ich wollte doch immer nur frei sein.... Das ist kein Mann von Ehre, der nicht versucht das wiederzugewinnen was ihm geraubt wurde... sondern nur ein Hund, der die Hand seines Kerkermeisters leckt. Und Deine Leute stahlen mir das wertvollste von allem. Ich aber war der Sohn eines Rich, und ich habe immer gekämpft...."
    Ein schwerer Atemzug hob seine Brust. Er senkte zerrüttet den Kopf, und als er weitersprach war seine Stimme kaum noch lauter als das Lied der Zikaden.
    "Aber ich kann nicht mehr. Ich habe meinen Schild verloren. Ihr habt mir alles genommen Stück für Stück... ich bin hohl und leer... Aber ich will immer noch leben, Flavius Aquilius, ich weiß nicht warum... - Was nützt Dir denn schon mein Tod - eure Sklaven sind doch ohnehin in Angst und Schrecken vor euch, und haben nicht den Mut sich aufzulehnen. Doch wenn Du mir mein Leben gewährst, werde ich Dir ein treuer Kämpfer sein. Und das ist mehr wert für Dich... mehr als das hier wert sein kann..."
    Mit einer abgehackten Kopfbewegung bezeichnete Rutger bei diesen Worten das Kreuz, dann irrte sein Blick wieder zu Aquilius und heftete sich mit fiebriger Intensität auf ihn – Panik flackerte in den graugrünen Augen, bodenlose Verzweiflung und zugleich doch ein Funken wahnsinniger Hoffnung dem ausweglosen Netz der Nornen und seinem Untergan doch noch irgendwie zu entkommen, und sei es durch so etwas absurdes, widersinniges und niemals dagewesenes wie die Gnade eines Römers...

  • Die kleine Gruppe Sklaven blieb abseits stehen, und doch erhoben sich die ein oder anderen gemurmelten Unterhaltungen - dass sich einer der Herren die Mühe machte, mit einem Verurteilten noch zu sprechen, war selten genug, und dass sie es auch noch so leise taten, dass man ihre Worte nicht unbedingt vernehmen konnte, war noch seltener, und ausgesprochen unfair! Lucius, einer der Küchensklaven, nutzte indes die Gelegenheit, sich nahe Salambo aufzustellen, dieser rassigen Schönheit, auf die er schon lange nicht nur ein Auge geworfen hatte. Wie konnte sie einem auch entgehen, für so etwas hätte ein Mann schon blind, taub und blöd sein müssen. Leider kam sie nicht oft in die culina, ein Umstand, den nicht nur Lucius bedauerte. "Der Germane hat es verdient, am Kreuz zu landen, findest Du nicht auch? Er gibt sich viel zu viel Mühe mit diesem Kerl," sprach er Salambo einfach an und grinste zahnlückig.


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    Ich bemerkte das Geschwätz der Sklaven nicht, und selbst wenn ich es bemerkt hätte, es wäre mir gleich gewesen. Dies war der Augenblick, auf den ich lange gewartet hatte, vielleicht zu lange, denn es war wirklich der allerletzte Moment für Rutger, sich mir als Mensch zu offenbaren, die Maske des Hasses war gefallen, geblieben war der Lebenswille.
    "Über den Begriff der Freiheit streiten die Philosophen seit Jahrhunderten, und die wenigstzen finden eine wirkliche Definition dessen, wann ein Mensch wirklich frei ist. Einige behaupten gar, selbst wenn Du niemandem gehörst, wenn niemand Dir einen Befehl geben oder Dein Leben irgendwie beeinflussen darf, bist Du nicht frei in Deinen Entscheidungen, denn woher Du stammst, was Du bist, setzt Dich in den Käfig eines Entscheidungshorizontes, den Du nicht verlassen kannst. Was bedeutet, es gibt immer deutlich mehr Möglichkeiten, sich für eine Sache zu entscheiden, eine Handlung auszuführen, als die, die man selbst sieht. Du entscheidest als germanischer Krieger, ich entscheide als römischer Patrizier, ein Haussklave entscheidet als ein Mensch, der sich vielleicht sogar mit seinem Schicksal abfindet, weil es ihn vieler Sorgen ledig macht. Frei musst Du im Geist sein, Rutger, dann ist jede andere Fessel, die Dich bindet, ob Du sie siehst oder nicht, bedeutungslos. Hattest Du jemals eine andere Wahl, als unser Volk zu hassen? Du forderst von mir die Wahl, Dich und Dein Volk nicht zu hassen, mich dafür zu entscheiden, dass Du überlebst."


    Es war im Grunde absurd, neben einem fertiggestellten Kreuz an der via Appia mit einem zum Tode verurteilten Sklaven über Freiheit zu diskutieren, aber wenn nicht jetzt, wann dann? Er musste verstehen, dass die Fessel, die er zu sehen glaubte, weit weniger drückend war als es vielleicht den Anschein machte.
    "Nicht jeder Kampf lässt sich dadurch gewinnen, dass man mit der Waffe in der Hand und laut brüllend auf den Feind zustürmt. Ist der Feind kein vollkommener Idiot, hat er Bogenschützen, die Dich längst niedergeschossen haben, bevor Du überhaupt das Weiße in den Augen Deines Feindes siehst. Nichts anderes hast Du getan, Du hast den direkten, aber falschen Weg gewählt. Der Krieger Rutger von den Germanen, der Du noch immer bist, dieser Mann hat Verbrechen begangen, für die er sterben muss, so lautet das Gesetz. Ich werde mich nicht gegen dieses Gesetz stellen, soviel solltest Du von mir inzwischen mitbekommen haben - aber es gibt vielleicht eine Möglichkeit, dass Dein Leben nicht aus Dir weichen muss. Rutger aber, der Krieger, der Aufsässige, der Entführer, der Schänder meiner Nichte, dieser Mann muss sterben."


    Ich richtete mich auf, und winkte einen der Sklaven zu mir, jenen, der das Band trug, mit dem er Rutger vor dem Kreuzestod hätte erdrosseln sollen, und ließ es mir aushändigen, dann rief ich die restlichen Sklaven zu mir und bedeutete ihnen, neben uns stehenzubleiben. Während ich fühlte, dass mich der Blick Rutgers verfolgte, umrundete ich das Kreuz, sodass ich das Band schließlich um den Hals meines Sklaven legen konnte, und zog langsam, aber sicher zu.
    "Dieser Mann hat Verbrechen begangen, die mit dem Tode gesühnt werden müssen. Rutger, Krieger von den Germanen, Sklave meiner Person, wird in diesem Augenblick sterben." Ich versinnbildlichte diese Worte mit einem weiteren Ruck, der ihm den Atem eng werden lassen musste, doch war er gebunden, und erhielt somit keine Gelegenheit, sich zu wehren, vielleicht noch einmal aufzubegehren - es machte den Augenblick perfekt, dieses Zucken seines Leibes. Ich hielt ihn eine Weile so, achtete darauf, dass ihm noch genug Luft blieb, um mir nicht unter den Händen zu verrecken, und als seine Augen sich weiteten, ließ ich los, ließ den köstlichen frischen Atem wieder in seine Lungen strömen, beobachtete das Heben und Senken der Brust, die mir bedeuteten, dass ich ihn nahe an das Ende, aber nicht darüber hinaus geführt hatte.
    "Bindet ihn los, meinen neuen Sklaven und Leibwächter, der fortan den Namen Severus tragen wird. Rutger ist fortan tot und soll den Riten entsprechend als Toter gelten, und Severus wird leben."

  • Rutger, der von Philosophie etwa soviel verstand wie der sprichwörtliche Germane, wußte nicht was ein "Entscheidungshorizont" war, doch es wunderte ihn gar nicht, dass die Römer derart beredte Wortklaubereien entworfen hatten, um - typisch für dieses schlangenzüngige Volk - alles zu verdrehen und am Ende gar behaupten zu können, ein Sklave sei genauso frei wie ein Patrizier!
    Er kniff unwillig die Augen zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf, als Aquilius meinte, frei müsse er im Geist sein, und er habe den falschen Weg gewählt. Jedes Kind wußte doch, dass man gegen Bogenschützen keinen Sturmangriff führte! Nein, an die pirschte man sich ran und metzelte sie überraschend nieder!
    Und nein, Rutger war sich sicher dass Freiheit keine Geisteshaltung war, es war das Recht Waffen zu tragen und dahin zu gehen wo man wollte, seine Stimme im Rat zu erheben und dem Gefolgschaft zu leisten der würdig war und am meisten Beute versprach. Und er wußte auch ganz genau, dass er mit seiner Flucht schon das Richtige getan hatte, das was ein Mann von Ehre tun musste. Er war nur nicht konsequent genug gewesen, ein wenig unüberlegt vielleicht auch, und vor allem hatte er den Fehler gemacht Arrecina zu verfallen und so am Ende zu unterliegen... Aber wenigsten hatte er es versucht!
    "Frei ist man in der Welt.", murmelte er leise. "Nur dann auch innendrin. Als Sklave niemals..."


    Das Gesetz. Rutger biss die Zähne aufeinander. Wie im Carcer, so viele klingende Worte, nur um am Ende zu sagen: Du musst sterben. Keine Gnade.
    Seine Wangenknochen mahlten. Er wünschte, er hätte die Nerven behalten! Aber was machte es noch aus, jetzt wo alles gleich vorbei sein würde. Starr folgte sein Blick Aquilius, dem Riemen in seinen Händen. Das Bild brannte sich in ihn hinein. Die Sklaven kamen näher, eine gesichtslose Masse.
    Aquilius würde ihn erdrosseln. Das war, verglichen mit dem Kreuz, doch eine Art Gnade, dachte Rutger noch, und schon spürte er wie das Band sich um seinen Hals legte. Und enger wurde. Seine Halsmuskeln spannten sich an, er rang nach Luft. Es rauschte in seinen Ohren, schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Sein Herz hämmerte. Wieder diese schreckliche Kälte...
    Ruckartig schnürte es ihm fest die Kehle zu, und panisch stemmte Rutger sich gegen die Fesseln, wand sich in verzweifeltem Todeskampf. Die Adern traten in seinem Gesicht hervor, das sich rot färbte, dann blau, kleine Blutäderchen platzten und übergossen das Weiß in seinen hervortretenden Augen mit blutigroten Flecken. Seine Glieder zuckten. Schwärze verschlang ihn. Rutger glaubte zu fallen, und hörte von fern sein eigenes Röcheln. Immer weiter fort. Immer leiser. Sein Leben zerrann. Dann war da nur noch Dunkelheit und Kälte.


    Für uns ist er schon lange gestorben.
    Du wirst am Kreuz verrecken.
    Rutger ist fortan tot.


    Und dann bekam er auf einmal wieder Luft. Gierig sog sein Körper sie ein, pfeifend strömte sie durch seine gequetschte Kehle, und fachte aufs neue den Funken seines beinahe verloschenen Lebensfeuers an.


    Severus wird leben.


    Wild sah der Germane um sich, in den weitaufgerissenen Augen den Irrsinn und das blanke Entsetzen. Und einen Augenblick lang war es, als würde der Abgrund den er gesehen hatte, den Zuschauern selbst aus dieses Augen entgegen starren, hungrig, grauenvoll - und geduldig, in dem Wissen dass am Ende keiner von ihnen ihm würde entrinnen können. Dann legte sich ein Schleier darüber, der Blick flackerte ins Leere, und ein dumpfes Stöhnen entrang sich der Brust des Germanen, der nun Severus sein sollte.
    Sie banden ihn los und zogen ihn hoch, doch er wurde aschgrau im Gesicht, hielt sich nicht auf den Beinen, und knickte einfach zusammen wie eine Marionette deren Fäden zerrissen sind. Und so mussten die Wächter ihn, als sich die ganze Karawane nun wieder auf den Rückweg machte, zu ihrem großen Ärger auch noch tragen. Worüber sie sich mit derben Flüchen austauschten, jedoch in gedämpftem Tonfall. Denn schließlich wollten sie nicht den Unmut des Herrn erwecken.

  • Gespannt verfolgte Salambo den Ablauf der Ereignisse, die sich unerwartet abwechslungsreich gestalteten. Doch leider, obwohl sie ihre Ohren spitzte und angestrengt lauschte, konnte sie nicht verstehen, was der Dominus mit seinem verbrecherischem Sklaven noch zu bereden hatte bevor er ihn ins Jenseits schickte. So wartete sie neugierig ab, fächelte sich derweil ob der furchtbaren Hitze mit dem Pfauenfeder-Wedel selbst ein wenig Luft zu und dachte darüber nach dass sie dringend das Lippenlesen erlernen sollte.


    Sie nickte voll Überzeugung als Lucius ihr seine Meinung kundtat und antwortete leise aber vehement: "Oh ja, er hat es ohne Zweifel verdient! Diese Wilden glauben ja sie können machen was sie wollen! Ich verstehe einfach nicht, warum dieser nordische Schlag bei den Herrschaften noch immer so in Mode ist, sie sind doch allesamt tumb, unverschämt, und womöglich gefährlich, nicht wahr?" Der Groll gegen "Goldlöckchen" Daphnus, der versucht hatte, ihre Position zu usurpieren, und gegen "Alekto" Nortruna, die Furie, die es gewagt hatte sie herauszufordern, sprach aus ihr, ganz natürlich schloß sie auch Rutger darin ein und fixierte ihn mit gifttriefendem Blick. Sollte er doch leiden, sollten die Flavier sich doch endlich darauf besinnen, wer ihre wahren treuen Diener waren.


    "Aber es ist nicht an uns, über das Tun der Herrschaften zu urteilen.", setzte sie geschmeidig hinterher und schenkte Lucius ein blitzendes Lächeln. "Ich bin ganz sicher, der Dominus hat das alles genau geplant. Wozu sonst unsere Anwesenheit? Nein, nein, er wird ihn auf jeden Fall töten lassen. Ganz sicher." Überlegen lächelnd fügte sie hinzu: "Sonst mache ich eine Woche freiwillig Spüldienst!"


    Erwartungsvoll trat sie näher, als es ans Erdrosseln ging, hörte mit Genugtuung die Worte des Dominus von Verbrechen und Sühne, und betrachtete ganz genau, und ohne mit der Wimper zu zucken, die Agonie des Germanen. Salambo hielt sich nicht für grausam, doch sie war bewegt - tief bewegt wieder einmal zu sehen, wie im Hause der Flavia am Ende doch ein jeder das bekam was er verdiente. Umso größeres Erstaunen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als der Dominus das Werk nicht vollendete. Nanu? Kam jetzt doch die Kreuzigung? Richtig unbehaglich wurde es ihr gar, als sie sich von dem seltsamen, entrückten Blick des halbtoten Verurteilten getroffen fühlte. Das war unheimlich. Verunsichert drehte sie den Fächer in den Händen, sah zur Seite und zu Lucius rüber. Das mit dem Spülen hatte sie doch nur so dahergesagt! Doch als der Dominus den neuen Namen des Germanen nannte, und Salambo verstand, was da vor sich ging, breitete sich langsam ein bewunderndes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ihren Lippen entschlüpfte unwillkürlich ein einziges Wort: "Genial."


    Darauf konnte nur ein Flavier kommen, dachte Salambo andächtig, seinen Sklaven rechtmäßig zu töten, und ihn zugleich als wertvollen Leibwächter zu behalten. Flink befeuchtete sie ein Tuch mit klarem Wasser, und trat geschmeidig zu dem Dominus, darauf spekulierend, dass er sich bestimmt die Hände säubern wollte, nachdem er mit dem schmutzigen Verurteilten in Berührung gekommen war. Anmutig neigte die Sklavin den Lockenkopf und bot ihm das blütenweiße Linnen mit unaufdringlicher Unterwürfigkeit dar.

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