Die erste Nacht
„bonam noctem, domina!“ verabschiedete sich Arsinoe und ihr letzter Blick an der Türe fiel abwartend und mit ein bisschen Sorge auf die Herrin. Prisca stand noch immer an der selben Stelle, an der sie sich stumm und wie geistesabwesend entkleiden und in das Nachtgewand hatte helfen lassen. Einen Moment wartete die Sklavin, ob noch ein Wunsch oder eine Anweisung folgen würde, dann verließ sie das cubiculum und zog die Tür leise hinter sich zu. Prisca unterdessen hatte die Gegenwart der Sklavin gar nicht mehr wahr genommen. Ihr Kopf war leer und sie mochte auch an nichts mehr denken. Der Tod ihrer Mutter war tief in ihrem Inneren gegenwärtig doch die Trauer darüber war auf seltsame Art und Weise ebenso tief vergraben. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie ihre Mutter bereits seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, was den Tod und die Gefühle der Trauer in ihr nun so fremd und so weit entfernt erschienen ließen. Vielleicht war es aber auch nur die Angst, sich an die vielen schönen Dinge und Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit zu erinnern, die sie bisher nie so recht zu schätzen wusste.
Prisca selbst konnte sich darauf keine Antworten geben. Sie fühlte sich allein gelassen und überfordert mit den Dingen, denen sie sich wohl künftig selbst zu stellen hatte. Wie einfach war das Leben doch bisher immer gewesen, da ihr die Mutter stets alle Sorgen und Probleme abgenommen hatte. Sollte sich das wirklich mit einem Mal ändern? Prisca ging ein paar Schritte zum Fenster und zog die die Decke, welche die Sklavin ihr vorsorglich um die Schultern gelegte hatte, augenblicklich etwas vor ihrer Brust zusammen. Der kühle Nachtwind blies ihr entgegen und von draußen drangen die Stimmen der Nacht an ihr Ohr. Stumm blickte eine Weile auf die Dunkelheit dieser fremdartigen Welt und sah dann empor zum mondlosen Himmel, an dem die Sterne klar und hell herab funkelten. Prisca mochte den Anblick der Sterne, denn sie erinnerten immer an Edelsteine, besonders wertvoll und begehrenswert weil sie eben unerreichbar waren.
Heute Nacht war es jedoch nicht der verführerische Glanz der Sterne, der sie unablässig zu ihnen hinauf schauen ließ. Sie dachte an ihre verstorbene Mutter und auch an den Vater, den sie nie kennen lernen durfte. Seltsam das sie gerade jetzt daran denken musste, aber plötzlich fiel ihr wieder Etwas aus ihrer Kindheit ein. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte sie sich immer sehr vor dem Gott Pluto und den Geschichten über sein Totenreich gefürchtet. Und manchmal plagte sie die schreckliche Vorstellung, dass ihr Vater vielleicht nicht ins Elysium, sondern in eben diese Unterwelt gegangen sein könnte. Warum sie das tat wusste sie selbst nicht, aber sie weinte dann immer lange und bitterlich. Also erfand ihre Mutter eine einfache Geschichte und mit dieser gelang es ihr meistens, die kleine Tochter zu trösten wenn sie dabei gemeinsam zum Himmel auf sahen so wie jetzt:
Siehst du die vielen Sterne dort am Himmel leuchten Prisca? Immer wenn ein Mensch, den wir sehr lieben, von uns geht wandert ein Teil von ihm dort hinauf und er nimmt einen Platz zwischen ihnen ein. Und immer wenn sie sehen, das wir besonders traurig sind, dann nehmen sie einen von den Sternen und werfen ihn auf die Erde zurück damit wir wissen, dass es ihnen, dort wo sie sind, gut geht.
Damals hatte sie diese Geschichte geglaubt und es half die Tränen zu trocknen. Nun suchte sie gebannt, wie damals als kleines Kind, den Himmel nach einem dieser fallenden Sterne ab. Doch heute Nacht wollte sich kein Einziger am Himmel zeigen. Nach einer Weile, die sie so da gestanden und die Tränen unbemerkt den Stoff der Decke und ihres Nachtgewandes durchdrungen hatten, gab sie die Suche schließlich auf. Prisca presste enttäuscht die Lippen zusammen und ging zu ihrem Bett. Dort angekommen warf sich einfach darauf und weinte sich, so wie sie lag, in den Schlaf.