hortus | Sisennas Spiel

  • Abgeschoben in den Garten



    Ihr Blick war auf den Boden gerichtet, als Maron sie einholte, und er blieb es auch, als sie gemeinsam in Richtung Hortus liefen. Wieder hatten sie Gedanken eingeholt, die sie sonst mit aller Macht zur Seite schob. Vielleicht lag es ja doch an ihr, dass Papa die Familie verlassen hatte, wenn sich nun auch Cotta nicht wie versprochen um sie kümmern wollte. Was aber war an ihr falsch? Langsam zweifelte sie daran, liebenswert zu sein, dabei gab sie sich solche Mühe.


    Sie wünschte sich, dass jemand für sie da war, und Onkel Cotta hatte ihr gut gefallen. In ihren Träumen begegnete ihr oft ein Papa, der ganz alleine für sie da war, der kein anderes Kind beachtete, der ihr immer zuhörte, sie verstand, oft lobte, sie drückte, aber die Wirklichkeit sah anders aus. Inzwischen sah sie bereits in Vertröstungen eine Ablehnung, in Schweigsamkeit eine Zurückweisung, in der Einsamkeit eine Strafe. Dabei brauchte sie Beständigkeit, Fürsorge und das Gefühl, für jemanden wichtig zu sein - vor allem wollte sie für jemanden wichtig sein.
    Wenn sie gefragt wurde, sagte sie jedoch stets mit Bestimmtheit, sie bräuchte keinen Papa. Es lebe sich viel besser, wenn keiner da ist, der viel verbieten kann.


    Als sie schließlich den Kopf hob, drückte ihr Gesicht weder Traurigkeit noch Freude aus. Eine emotionslose Maske, die sie aufzusetzen gelernt hatte.


    „Es ist mir egal, dass du nicht singen kannst“, erwiderte sie, ohne Maron anzublicken.

  • Also gut, ich musste einsehen: Mein Siegerlächeln hatte hier nicht verfangen. Domina Sisenna ging zwar mit mir in den Garten, war aber - um es vorsichtig zu sagen - nicht zu Scherzen aufgelegt. Eine kleine Patrizier-Domina war wohl eben doch etwas anderes als eine Küchensklavin oder ein Marktweib.
    Außerdem war sie ja traurig, und ich sah wohl ein, dass sie dazu allen Grund hatte. Deshalb überlegte ich mir, womit ich sie aufheitern könnte, bis Aurelius Cotta selbst kommen würde.


    Zunächst aber war ich einfach überwältigt von dem, was sie hier ihren "Hortus" nannten: Es war ein richtiger Park. Ich hatte ja schon so einiges über die großen Villen in Roma gehört, aber das hatte ich mir denn doch nicht träumen lassen. Einen Moment lang stand ich mir offenem Mund da, und so etwas passierte mir nicht oft; dann aber fiel mir wieder mein Auftrag ein, oder vielmehr das, was ich dafür hielt, denn mein Dominus hatte ja soviel gar nicht dazu gesagt.


    Ich sah mich um und entdeckte eine Marmorbank, die für meinen Geschmack ein bisschen zugewuchert war - so ganz im Griff hatte dieser Leone seine Leute also wohl doch nicht gehabt. Na, wunderte mich nicht, sollte aber auch nicht mein Problem sein. Jedenfalls führte ich das Kind zu dieser Bank und begann zu erzählen. "Da bin ich froh, Herrin, dass Du mir die Aufgabe erlässt, Dir jetzt ein Ständchen zu bringen! Obwohl Dich das wahrscheinlich sehr zum Lachen gebracht hätte - aber lassen wir das lieber. Ich frage mich gerade, ob wohl Odysseus singen konnte - den kennst Du doch? - oder Penelope, seine Frau, die auf ihn gewartet hat all die Jahre, die er mit seinem Schiff unterwegs war. Eine schöne Frau - gute Götter! - und viele Verehrer wollten sie heiraten, weil ja alle glaubten, Odysseus sei tot. Einzig Penelope hat immer darauf vertraut, dass er eines Tages wiederkommen würde. Deshalb wollte sie auch keinen der anderen Männer heiraten."


    Mit meiner rechten Hand wischte ich ein vertrocknetes Blatt von der Marmorbank; die Hitze des Sommers forderte ihren Tribut. Aber ich war ja noch nicht fertig mit meiner Geschichte. "Und um die Verehrer hinzuhalten und Zeit zu gewinnen - na, was hat sie gemacht? Sie hat ihnen allen erzählt, sie müsste erst noch ein Totentuch für ihren Schwiegervater Laertes weben. Das hat sie ja auch gemacht, aber dann nachts immer alles wieder aufgetrennt, was sie am Tage gewebt hatte. So hatte sie vor den anderen Männern Ruh'. Doch weißt du was? Ich sage, wenn sie schlau gewesen wäre, dann hätte sie lieber eine Ziegenherde gekauft, wäre Ziegenhirtin geworden und weggegangen. Denn Odysseus kam zwar wieder, aber der hat sie nicht verdient."


    Ich war gespannt auf die Reaktion der Herrin Sisenna, doch in diesem Augenblick hörte ich Schritte, die sich näherten, und die ich, ohne hinsehen zu müssen, als die Schritte meines Dominus erkannte.

  • Wenn ich ehrlich war, war es für mich immer etwas Selbstverständliches gewesen, in großzügigen, großräumigen Verhältnissen zu leben und zu wohnen. Patrizier wie ich wuchsen nun einmal in Villen auf und nicht in Insula-Wohnvierteln, und das war gut so. Am heutigen Tage aber verfluchte ich innerlich den langen Weg, den ich vom Officium des Corvinus bis zum Hortus in dieser riesigen Villa zurückzulegen hatte. Und noch viel schlimmer, dachte ich, musste es für Sisenna in den vergangenen Wochen gewesen sein, als sie ganz allein - von den Sklaven nicht zu reden - in den Zimmerfluchten hatte zubringen müssen, umringt von stummen Marmorbüsten und bewegungslosen Wandmalereien.


    Curiatia Icela verstorben, Cicero verschwunden, Helena in Germanien - diese Trias wurde für mich eine Art Kehrvers, der mir bei jedem Schritt in den Ohren hämmerte. Dieses Kind war wirklich ganz allein gewesen, sogar seine Schwester - von der man ja wenigstens wusste, wo sie war - weilte nicht bei ihm, sondern weit fort, getrennt durch ein hohes Gebirge. Ich musste schlucken und hätte Sisenna in jenen Wochen eher gewünscht, in einer einfachen Casa oder eben doch in einem Insula-Viertel zu wohnen. Dort hätte sie wenigstens andere Kinder gehabt, Abwechslung, Leben. Und wohl auch Wahrheit, denn dort hätte man all die traurigen Nachrichten wohl nicht lange geheim halten können, so stellte ich mir das jedenfalls vor. Hier aber hatte niemand ihre unausgesprochenen Fragen beantwortet, und ich stand nun ganz allein mit ihr. Ich würde ihr jetzt, jetzt alles sagen, egal wie schwer es für uns beide werden würde.


    Mittlerweile hatte ich endlich den Hortus erreicht, und schon nach kurzer Zeit sah ich Sisenna mit Maron auf einer Marmorbank. Mein Sklave erzählte ihr gerade irgendetwas, hörte aber auf, als er mein Kommen bemerkte. Ohne dass es eines Winks von mir bedurft hätte, entfernte er sich, sah mich aber teilnahmsvoll an. Behutsam näherte ich mich der Bank und nahm darauf Platz. Ich hatte mich entschieden, alle Floskeln beiseite zu lassen; vielleicht war das wieder falsch, aber in diesem Moment wusste ich es einfach nicht besser zu machen.


    "Sisenna, ich habe gesehen, wieviel Kummer ich dir gerade gemacht habe, als ich dich schon wieder alleine ließ. Das tut mir sehr Leid! Ich habe mich noch kurz mit dem Sklaven Leone unterhalten, und, ich will ehrlich zu dir sein, ich wollte nicht, dass du dabei bist. Denn ich wusste, dass er mir etwas Trauriges zu sagen hätte, und das wollte ich erst alleine hören."


    Nun gelang es mir doch nicht, in einem durch zu sprechen. Ich musste nach Luft schnappen und sah zum Himmel, der wie zum Hohn azurblau und ungetrübt strahlte. Obwohl ich mir darüber bewusst war, Sisenna eben ungewollt enttäuscht zu haben, als ich sie in den Hortus geschickt hatte, streckte ich jetzt wieder meine Hand aus - und überließ es ganz ihr, sie zu ergreifen. Ich befürchtete, das würde sie jetzt tun, denn nun ...


    "Du weißt, dass ich lange in Achaia gewesen bin, darüber kann ich dir auch noch viel erzählen. Gerade heute bin ich in Rom angekommen und war von vielem hier ganz überrascht. Zum Beispiel davon, dass du hier bist - und dass du hier alleine bist. Sicher weißt du, dass deine Schwester Helena im Moment in Germanien bei Corvinus ist; ich denke aber, dass sie in einigen Wochen wieder hier sein wird. Anders ist es mit deinen Eltern ...."


    Ich sah das Mädchen an und wünschte mir nur, Sisenna Kraft geben zu können.


    "Leone hat mir gerade etwas sehr Trauriges erzählt, was ich vorher nicht wusste. Dein Vater ist vor einiger Zeit abgereist, und wir alle wissen nicht, wohin und ob er wieder kommt. Und deine Mutter, Sisenna, ist vor kurzem gestorben."


    Ich schwieg, um dem Mädchen nun den Raum zu lassen, den es brauchen würde - wofür auch immer.

  • Das kleine Mädchen hob sein Knie auf die Sitzfläche der Bank, stieß sich vom Boden ab, landete auf dem Po und legte Wert darauf, ohne fremde Hilfe sich zurechtzurutschen. Sie legte die Hände in den Schoß und hörte anfangs den Erzählungen Marons nur mit halbem Ohr zu. Bald jedoch beschäftigten sich ihre Gedanken mit Odysseus und Penelope.


    „Meinst du, mein Papa wird eines Tages auch wiederkommen?“
    Bei diesen Worten blickte sie ihn hoffnungsvoll an. Auch als er fortfuhr, wandte sie den Blick nicht mehr. Man konnte ihr ansehen, dass es hinter ihrer Stirn arbeitete, weil die Augen zeitweise in nahe Baumwipfel blickten, um sodann einen Bogen zu beschreiben, ohne jedoch aufzunehmen, was sie dabei sah.
    Sisenna hatte Frauen stets als lieb erlebt, aber Männer nur als unzuverlässig. Auch Penelope passte in dieses Bild. Warum Odysseus sie nicht verdient hatte, wo er doch wenigstens zurückkam, konnte sie nicht mehr erfragen, weil Onkel Cotta eintraf. Er tauschte den Platz mit Maron und sie lauschte, ohne ihn anzublicken. Er entschuldigte sich, das war neu. Gab er sich etwa Mühe, sie zu verstehen? Schließlich reichte er ihr wieder seine Hand, die Sisenna aber dieses Mal nicht ergriff, ganz so schnell verzieh sie nicht.


    Dass sich auch Helena nicht um sie kümmerte, verdrängte sie, als Cotta ihren Aufenthalt in Germania erwähnte. Frauen waren gut, er sollte ihr Bild nicht zerstören. Oder irrte sie in diesem Punkt? War im Grunde wirklich niemand gut und zuverlässig und treu und...und…?
    Sie begann, nervös mit den Beinen zu schaukeln, als er ihre Eltern erwähnte und kurz darauf stockte. Sie selbst kam auch oft ins Stocken, wenn sie versuchte zu schummeln. Ob er jetzt log? Ihre Augen richteten sich in einer langsamen Kopfbewegung auf ihn, musterten ihn. Nein, er sprach die Wahrheit.


    „Ich weiß, dass uns Papa verlassen hat. Alle Männer sind so“, erwiderte sie trotz der leisen Stimme mit Bestimmtheit. Nichts und niemand konnte sie vom Gegenteil überzeugen, wobei sie immer wieder grübelte, warum sie ihn vergrault hatte. Ja, sie war nicht immer lieb gewesen, hatte manchmal nicht gehört, wenn er gerufen hatte, war auch mitunter trotzig gewesen, wenn sie den Willen nicht bekommen hatte, ihre Kleider waren nicht immer sauber geblieben, sie war nachts aufgestanden, als sie schlafen sollte. Jetzt wünschte sie sich, sie wäre wie ein Püppchen gewesen und still sitzen geblieben, wo auch immer man sie hingesetzt hätte.


    Über die Nachricht wegen ihrer Mama schwieg Sisenna, weil sie sie nicht verstand. Ihr Blick, mit dem sie Cotta betrachtete, drückte Unwissenheit und gleichzeitig Abwehr aus. Sie wollte nicht, dass er etwas Böses über ihre Mama sagte. Sie war lieb, sie hatte sich stets um Sisenna gesorgt. Nur eben jetzt war sie…krank.

  • Nachdem ich Sisenna endlich die traurige Wahrheit über ihre Eltern gesagt hatte, hatte ich mit allem Möglichen gerechnet - womit eigentlich genau, wusste ich selber nicht. Vielleicht mit Schreien, mit Weinen, damit, dass sie weglief oder mich angriff und mit ihren kleinen Kinderfäustchen auf mich einschlagen würde; meine ausgestreckte Hand hatte sie einstweilen ja nicht genommen, und ich konnte sie verstehen.


    Nun aber blieb dieses Mädchen ganz ruhig und sagte fast nichts; ihre Bemerkung über Männer brachte in meinen Augen nur zum Ausdruck, wie sehr sie von bestimmten männlichen Mitgliedern unserer Gens bereits enttäuscht worden war. Dass sie aber gar nichts zum Tode ihrer Mutter sagte, verwunderte mich sehr - und auch wieder nicht. Ich erinnerte mich an meine eigene Kindheit, als mein Vater so früh von uns gegangen war. Damals hatte ich das gar nicht richtig wahrgenommen, vielleicht auch nicht wahrhaben wollen. Und dann war soviel passiert, zuletzt die Jahre in Achaia; ich hatte mich damit gar nicht mehr beschäftigt, war abgelenkt. Als ich jetzt aber die Waise vor mir sitzen sah, kamen alte Gefühle von Einsamkeit in mir hoch, und ich wurde mir bewusst, wie allein ich jetzt auch hier in Roma war. Wie gut wäre es doch, noch einen anderen Verwandten bei mir zu haben! Bei uns zu haben. Denn meine größte Aufmerksamkeit hatte nun natürlich Sisenna zu gelten.


    Und die schien mich entweder nicht verstanden zu haben oder wollte es noch nicht wahrhaben, dass ihre Mutter verstorben war. Da ich mich nun aber in den Hortus begeben hatte, um der Kleinen ein für allemal die Wahrheit zu sagen und ihr nichts mehr vorzumachen, sah ich sie noch einmal eindringlich an:


    "Sisenna, bitte, hör mir jetzt genau zu! Leider weiß ich nicht, was mit deinem Vater passiert ist. Aber deine Mutter kommt nicht wieder, nie mehr. Sie ist tot."


    Diese Worte ließ ich eine Weile wirken, untermalt von dem ewigen, arglosen Gezwitscher der Vögel, die in unseren Bäumen und Sträuchern nisteten und denen es das Schicksal ersparte, solche Trauer durchzumachen, wie sie Sisenna nun bevorstand. Währenddessen suchte ich in meinem Geist schon wieder nach Worten, um das Mädchen meiner Hilfe zu versichern; ich fand nur diese hier:


    "Ich bin jetzt für dich da. Ich bin gerade hier in Roma angekommen und werde auch einiges alleine erledigen müssen, aber wenn du mir deine bemalte Truhe zeigen willst, dann freue ich mich, und wenn du gleich etwas essen willst, dann esse ich mit dir. Und wenn du traurig bist, dann kommst du zu mir."


    Ich konnte mich kaum an mich halten, denn ich hätte die Kleine in diesem Moment so schrecklich gerne an mich gedrückt, wollte mich aber nicht aufdrängen; und bestimmt brauchte sie noch Zeit. Da knurrte mit unangemeldeter Aufdringlichkeit mein Magen.

  • Sisenna bekam Angst, als der Onkel sie so eindringlich ansah. Ihr Kopf kroch zwischen die Schultern und sie schaute ihn mit großen Augen an, als er sprach. Und er erzählte böse Sachen ... Ihre Hände pressten sich irgendwann gegen die Ohren, denn sie wollte es nicht mehr hören, was er noch zu sagen hatte. Warum sprach er so böse über ihre Mama? Warum sagte er, sie würde nicht wiederkommen. Mama war immer da gewesen, nur der Papa nicht.


    Ihr Blick streifte nach kurzem über Cottas Gesicht, wanderte zu Boden, um ihm dann doch wieder in die Augen zu schauen.


    „Mama kommt ganz bestimmt wieder“, sagte sie mit Überzeugung, nachdem sie die Hände neben sich auf die Bank gestützt hatte. Dann sprang sie auf und rannte ein Stück fort. Nach wenigen Doppelschritten hielt sie an, wendete sich um und neigte den Kopf seitlich zur linken Schulter. „Kommst du spielen?“

  • Der knurrende Magen war schnell vergessen, als ich nun sah, dass mein zweiter Versuch, Sisenna mit dem Tod ihrer Mutter vertraut zu machen, zu ihr durchgedrungen war. Daran ließ ihr Verhalten keinen Zweifel: Sie starrte mich an - böse -, zog sich zusammen, hielt sich am Ende gar die Ohren zu und behauptete mit Überzeugung, dass ihre Mutter doch wiederkommen werde.


    Was ich sah, schnitt mir ins Herz, aber ich ahnte, dass ich für den Moment nichts weiter für sie tun konnte. Ich hatte ihr gesagt, was zu sagen war, und ich würde an ihrer Seite stehen; die Einsicht in den Verlust und die Trauer aber würde ihr niemand auf der Welt abnehmen können. Sie würde sicher viel Zeit dazu brauchen, aber ihre Zukunft konnte nach diesen Schicksalsschlägen eigentlich auch nur noch besser werden.


    Ich seufzte tief und blickte Sisenna nach, die in ihrer Rebellion gegen die von mir verkündeten Wahrheiten von der Bank aufgestanden und davongelaufen war, nach wenigen Schritten aber schon wieder stehen blieb und sich nach mir umdrehte. Mit einer Stimme, die klang, als ob nichts passiert wäre, fragte sich mich, ob ich spielen komme. Ich stutzte, mit einem solchen Stimmungsumschwung hatte ich nun doch nicht gerechnet. Aber wahrscheinlich gehörte auch das zu der Zeit, die sie brauchen würde, um alles das zu verstehen, was um sie herum in den letzten Wochen passiert war.


    Energisch drängte ich mein Hungergefühl beiseite - hatten wir nicht in Athen soviel darüber gesprochen, die Begierden zu beherrschen? -, stand auch selber von der Marmorbank auf und lächelte Sisenna zu. Noch ein wenig mitgenommen von allem, was geschehen war, trottete ich zu ihr hin und war gespannt, was sie mir als erstes zeigen würde.


    "Auf geht's!"

  • Sisennas Hand griff nach der - aus ihrer Sicht - großen Pranke Cottas. Sie legte ihr ganzes Gewicht in den Zug und erhoffte sich, dadurch Cotta von der Stelle zu bekommen. Sie wollte ihm ihr kleines Schneckenparadies zeigen. In Ermangelung von Spielkameraden hatte sie Schnecken mit Haus gesammelt, ihnen einen Miniaturgarten gebaut und sie jeden Morgen mühsam wieder zusammengetragen, weil ihre Zöglinge nachts auf Wanderschaft gegangen waren. Wunderschöne Exemplare hatte sie bereits gefunden. Besonders diejenigen in reinem Gelb und Rot hatten ihr es angetan. Aber es gab auch eine Vielzahl an getreiften, die in ihrer Vorstellung die Sklaven der anderen waren. Manche der Sklavenschnecken besaßen Kinder, die roten und gelben hingegen waren kinderlos. Sisenna fand, Herrschaften sollten keine Kinder in die Welt setzen, weil sie sich ohnehin nicht um sie kümmerten. Die einfachen Frauen, die Sisenna nur von weitem betrachten durfte, führten oft Kinder an der Hand und neben ihnen ging ein Mann. Manchmal wünschte sie sich, das Kind einer Bürgerlosen zu sein, nur damit sie eine Mama und einen Papa hatte.


    Sie näherten sich der Gegend, in denen Sisenna ihre Schätze verbarg. Es war der wohl am dichtesten bewachsene Teil des aurelischen Gartens.


    „Es ist ein Geheimnis, du darfst es niemanden verraten“, beschwor sie ihn während des Laufens.


    Hoffentlich war Onkel Cotta zuverlässig und verriet sie nicht an jemanden, der ihr dieses Spiel verbot. Sie warf ihm noch einmal einen nachdenklichen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie auch das Richtige tat, dann zog sie ihn in das Gebüsch, ohne darüber nachzudenken, dass er erheblich größer als sie war und demzufolge nicht ohne weiteres in den niedrigen Gebüschtunnel passte.

  • Meine anfängliche Abwehr gegen das allzu plötzliche Kinderspiel verflog schnell, als ich von Sisenna im wahrsten Sinne des Wortes "mitgerissen" wurde. Denn nun fasste sie doch nach meiner Hand und veranlasste mich auf diese Weise dazu, ihr mit schnelleren Schritten zu folgen. Und das tat ich: Auch wenn ich in diesem Moment barfuß über Scherben hätte laufen müssen, nichts hätte mich davon abhalten können, Sisenna nun eine Freude zu machen, noch dazu, wo sie jetzt also meine Hand genommen hatte.


    Sie führte mich in einen Teil unseres Hortus, der leider meine Befürchtungen erfüllte, die ich hegte, seitdem mir Leone an der Porta mitgeteilt hatte, dass in der Villa Aurelia in den vergangenen Wochen nur wenige Sklaven für Ordnung gesorgt hatten: Hier musste dringend zurückgeschnitten werden. Andererseits konnte ich mir natürlich vorstellen, dass für ein Kind wie Sisenna gerade dieser Wildwuchs reizvoll zum Spielen war.


    Und auch darin sollte ich mich nicht täuschen, denn es war selbstverständlich ein Gebüsch, in das sie mich jetzt ziehen wollte. Dabei sagte sie mir eindringlich, dass sie mir jetzt ein Geheimnis zeigen werde, dass ich niemandem verraten dürfe. Diese Worte nahm ich sehr ernst; ich war selbst, so erzählten meine Verwandten, aber auch meine eigene Erinnerung, ein sehr nachdenkliches und ernstes Kind gewesen und konnte mich gut daran erinnern, wie viel auch mir in jenem Alter solche Geheimnisse bedeutet hatten. So fiel es mir nicht schwer, Sisenna zu versichern:


    "Nein, ich erzähle keine Geheimnisse weiter."


    Nun aber ging es ins Gebüsch. Sisenna, klein, geübt und quirrlig, fuhr durch das Gebüsch wie ein warmes Messer durch Butter. Ich bückte mich und versuchte ihr, so gut es ging, zu folgen. Anfangs war ich sogar überrascht, wie gut ich vorwärts kam, dann aber peitschte mir plötzlich ein elastischer Zweig ins Gesicht, den ich im Dämmerlicht des Busches zu spät gesehen hatte. Ich rieb mir die schmerzende Wange und wischte den Zweig weg, ohne dabei darauf zu achten, dass dieser sich nun am Kragen meiner neuen, eigens für meine Ankunft in Roma angefertigten Tunika verhakte. Ich schritt also weiter und durfte dann kurze Zeit später einem "Ritsch" in der Nähe meines Ohres lauschen: Der Kragen war eingerissen. Ich konnte mich nicht enthalten aufzustöhnen und blieb kurz stehen; aber was war schon an einem solchen Tage eine Tunika, sagte ich mir, und folgte meiner lieben kleinen Verwandten unverdrossen weiter, gespannt, ob mich das, was sie mir zeigen würde, entschädigen würde für den ergangenen Verlust. :)

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!