[Mons Palatinus] mundus Cereris - Die Pforte zur Unterwelt

  • Früh am Morgen noch war es, trübes Dämmerlicht hüllte die Stadt in einen wabernden Schleier aus Nebel uns Dunst, ein eisig kalter Hauch umwehte die sieben Hügel, fuhr hindurch zwischen den Laubresten an kahlen Ästen, ließ das marode Blattwerk am Boden leise Rascheln, dem schrillen Flüstern der unterirdischen Geister gleich. Schwarzfarbene Raben und Krähenvögel umkreisten die Schatten der prachtvollen Gebäude, ließen sich treiben auf den säuselnden Winden als lauschten sie ihrem Klang, krächzten alsbald als antworteten sie auf unhörbare Fragen oder verfielen in gemeinschaftliches Krakeelen als lachten sie über die Vorsicht der Welt. Verriegelt waren die Türen in allen Gassen, kein Geschäft wurde getätigt an diesem Tage, wer sich es leisten konnte, würde zuhause bleiben, die Sicherheit der heimischen Räumlichkeiten nicht verlassen, oder aber nur darum, um sein Opfer darzubringen den inferiores. Es war dies der Tag, an welchem der lapis manalis entfernt wurde um jene Ritualgrube zu öffnen, welche oben auf dem Palatin sonstig unter ihm verborgen lag, den mundus Cereris. Einst war jener Stein, der lapis manalis, in einem Tempel des Mars außerhalb der Porta Capena aufbewahrt und in Zeiten trockener Dürre durch die Straßen Roms getragen worden, um durch diesen Ritus die Götter dazu zu bewegen, lebenspendenden Regen zu senden. Dieser Tage jedoch lag der sakrale Stein nicht mehr in einem Tempel, sondern bedeckte über das Jahr hinweg jene Grube, welche als Pforte zur Unterwelt in Rom galt, den mundus Cereris. Nur an drei Tagen im Jahr wurde der Stein entfernt, die Pforte geöffnet, an jenen Tagen, an welchen ohnehin die Welten sich nahe standen, um Früchte dort hinab zu werfen, den Unterirdischen zu opfern, auf dass sie mit ihrer Bosheit und Arglist die Lebenden würden verschonen. Leicht war es für die rachsüchtigen Manen an diesen Tagen, ihrem Reich zu entkommen, ungehindert durchstreiften sie die Straßen Roms - es war ein Tag schlechter Vorzeichen.

  • Die Pontifices waren es, welche an diesem Tage Wacht halten mussten am mundus cereris, Gracchus einer von jenen drei, welchen früh am Morgen die Pflicht oblag, die Öffnung der Grube zu beaufsichtigen. Ein kalter Schauer wanderte von seinem Nacken ausgehend die Wirbelsäule hinab, verging jedoch nicht, sondern setzte sich hartnäckig auf seiner Haut fest, als er auf dem palatinischen Hügel der Sänfte entstieg. Gewohnt war er, früh aufzustehen, mit oder gar vor dem Emporsteigen der Sonne noch, doch dieser Tag war einer jener, welche man besser würde verschlafen vom Anbeginn bis zum bitteren Ende. Obgleich der mundus noch war verschlossen, wirbelte bereits das braunfarbene Laub über das Pflaster der Straße als würden die Manen wie Kinder in ihm toben, es empor werfen und darin tanzen. Eiligen Schrittes trat Gracchus zu seinen Amtskollegen hin, den Pontifices Fabius und Sulpicius, beide bereits seit vielen Jahren im Collegium Pontificium tätig und sicherlich auch versiert im Umgang mit den Manen, was Gracchus von sich selbst mitnichten behaupten wollte und konnte. Förmlich konnte er seine Furcht um sich herum spüren, würde irgendwer versuchen, ihn zu berühren, so glaubte er, müsse jener an der unsichtbaren Wand seiner Beklemmung scheitern. Zu deplorabel indes war es, dass die inferiores solcherlei Barriere kaum würde abhalten, gegenteilig, Furcht mochte sie geradezu herbei locken.
    "Salvete,"
    grüßte Gracchus die Pontifices und bemühte sich dabei, das leise Zittern aus seiner Kehle zu verdrängen, was nicht gänzlich ihm wollte gelingen.
    "Salve, Flavius. Bist du bereit?"
    Er war es nicht. Nie gewesen. Würde es niemals sein. Mochten viele seines Standes dem alten Glauben tief verbunden sein, so einerseits aus Tradition, andererseits aus dem Grunde, da der Glaube das Volk zu lenken vermochte. Gracchus indes suchte nicht nur die Welt hinter der Welt zu ergründen, er respektierte nicht nur, was hinter der Welt lag, er war zudem weitaus abergläubischer als dies bisweilen angebracht und angemessen war.
    "Das bin ich."
    Davon abgesehen, dass dies eine abominabel Lüge war, entsprach es ganz und gar nicht der Wahrheit, doch was blieb ihm, der er geschworen hatte, seine Pflichten mit all seiner Schaffenskraft auszufüllen, auch jene, die inferiores oder Verstorbene betreffend. Ohne weitere Worte, stumm und ernsthaft traten die drei Pontifices von der Straße hinunter, zu dem großen, ovalrunden Stein hin, welcher sonstig unbeachtet blieb, da ohnehin niemand sich außerhalb der Notwendigkeit mit solcherlei wollte befassen, gefolgt von Sklaven des Cultus Deorum, welche den schweren Stein würden von der Öffnung heben - immerhin würde Gracchus nicht das kalte Grau berühren müssen - und jenen, welche die Opfergaben trugen. An der noch verschlossenen Pforte zur Unterwelt angelangt, hielten sie einige Herzschläge lang inne, fast schien es, die Zeit würde stehen bleiben, unbewegt, still, inexistent, und Gracchus fragte sich, ob wahrhaftig es würde möglich sein, dem Orpheus gleich hinab zu steigen in das Reich der Dunkelheit, eine tote Seele daraus zurück zu holen. Augenblicke darauf zog einer der Sklaven in völlig profaner, dem Leben anhaftender Weise laut seine Nase hinauf, die Welt geriet wieder in Bewegung, Gracchus schalt sich selbst ob seiner unsinnigen Gedanken und der Ritus nahm seinen Anfang. Auf einen Wink des Sulpicius hin beugten sich die Sklaven hinab, hoben den schweren Stein und hievten ihn zur Seite hin, wo sie ihn aufstellten. Augenblicklich setzte der Pontifex an.
    "Dii inferiores, haltet im Zaume, was Eurem Reiche zu Entkommen sucht, mäßigt die Euren, die an diesem Tage Einzug halten in unsere Welt, wie Eure Pflicht dies ist. Darum wollen wir, wie unsere Pflicht, Euch Gaben spenden, auf dass Ihr besänftigt, dii inferiores, die Euren, auf dass sie tatenlos mögen zurückkehren wie es geboten ist, nach ihrem Wandel in unserer Welt."
    Eine Kanne wurde dem Pontifex dargereicht, welcher routiniert aus ihr weißfarbene Milch in den Schlund der Welt hinab goss. In eben solch firmer Art und Weise nahm auch Fabius eine Kanne von einem der Sklaven entgegen, goss daraus honigfarbenen mulsum in die Grube und intonierte dazu.
    "Dii inferiores, haltet im Zaume, was Eurem Reiche zu Entkommen sucht, mäßigt die Euren, die an diesem Tage Einzug halten in unsere Welt, wie Eure Pflicht dies ist. Darum wollen wir, wie unsere Pflicht, Euch Gaben spenden, auf dass Ihr besänftigt, dii inferiores, die Euren, auf dass sie tatenlos mögen zurückkehren wie es geboten ist, nach ihrem Wandel in unserer Welt."
    Im Ansinnen nicht weniger versiert, doch bei genauer Betrachtung mit ein wenig zittrigen Händen - der frische Wind hatte seine Finger erkalten lassen - nahm Gracchus die letzte der drei Kannen.
    "Dii inferiores, haltet im Zaume, was Eurem Reiche zu Entkommen sucht, mäßigt die Euren, die an diesem Tage Einzug halten in unsere Welt, wie Eure Pflicht dies ist. Darum wollen wir, wie unsere Pflicht, Euch Gaben spenden, auf dass Ihr besänftigt, dii inferiores, die Euren, auf dass sie tatenlos mögen zurückkehren wie es geboten ist, nach ihrem Wandel in unserer Welt."
    Behutsam goss er den Inhalt des Gefäßes - gülden schimmerndes Öl - in den mundus hinab und versuchte dabei, einen unauffälligen Blick hinein zu werfen in die Tiefe, eine Ende der Schwärze zu erahnen, doch mehr als indifferente Dunkelheit war nicht auszumachen. Fabius ließ einen wollenen Mantel sich um die Schulter drapieren, Sulpicius sich den seinen reichen, und sie stellten sich neben die Grube hin. An der Straße warteten bereits die ersten Bürger, um ihre Opfergaben hinab in den Schlund der Unterwelt zu werfen.
    "Und nun?"
    fragte Gracchus ein wenig unschlüssig, was weiter würde geschehen.
    "Nun warten wir auf die Ablösung."
    Unübersehbar zog sich Gracchus' rechte Augenbraue in die Höhe.
    "Und geben Acht, dass niemand hinein fällt,"
    ergänzte Sulpicius mit marginal spöttischem Lächeln. Natürlich war Gracchus dies angekündigt worden, doch recht glauben wollen hatte er es indes nicht. Schicksalsergeben ließ auch er seinen Mantel sich aus der Sänfte bringen, kalkulierte, in welchem Zeitraum unter Beachtung der Gesamtzahl der Pontifices und der derzeitigen Tageslänge bei je drei Hütern pro Einheit mit den nächsten Pontifices zu rechen war und wachte gemeinsam mit Sulpicius und Fabius am Rande zur Unterwelt, während die Bürger Roms ihre Gaben den inferiores darboten. Es war nicht immer leicht, ein Pontifex zu sein.

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  • Zu einer weitaus besseren Zeit - nämlich am Vormittag nach der Salutatio - erschien auch die kleine tiberische Sänfte. Das dunkle Holz passte hervorragend zu der düsteren Stimmung des Tages und die weinroten Vorhänge wogten im kalten Wind hin und her. Der Sänfte folgten zwei weitere, denn die drei Pontifices, die Gracchus, Fabius und Sulpicius ablösten, hatten sich unten auf dem Forum getroffen, sodass man die Wache gemeinsam beginnen konnte.


    Der Tiberier hatte vor sich einen Korb mit Äpfeln stehen, die er extra aus Misenum hatte einführen lassen. Den Göttern der Unterwelt wollte er das beste zukommen lassen und das war nunmal sein eigenes Obst. Doch dieser Tag war besonders unheimlich, und obwohl Durus die Götter normalerweise mehr verehrte, als dass er persönlich an sie glaubte, fröstelte ihm in seinem warmen Mantel, als er das Krächzen eines Raben hörte. Aus seiner auguralen Vergangenheit wusste er, dass dies kein gutes Vorzeichen war.


    Als er der Sänfte entstieg, waren noch immer Männer dabei, ihre Opfer in das dunkle Loch zu werfen, das der Sage nach direkt in die Unterwelt führte. Mit einem leichten Nicken grüßte er die drei Pontifices, die bereit standen. Einen Sklaven hinter sich trat er jedoch zuerst zu dem Loch, in das er einen neugierigen Blick warf, ohne jedoch irgendetwas erkennen zu können.
    Mit Hilfe des Sklaven sprach er dann das traditionelle Gebet des Tages und warf die Äpfel in den Abgrund, hoffend, dass seine Ahnen nicht wütend waren und herauskommen würden.


    "Dii inferiores, haltet im Zaume, was Eurem Reiche zu Entkommen sucht, mäßigt die Euren, die an diesem Tage Einzug halten in unsere Welt, wie Eure Pflicht dies ist. Darum wollen wir, wie unsere Pflicht, Euch Gaben spenden, auf dass Ihr besänftigt, dii inferiores, die Euren, auf dass sie tatenlos mögen zurückkehren wie es geboten ist, nach ihrem Wandel in unserer Welt."


    Während dann die anderen beiden Pontifices ihr Opfer gaben, ging der Tiberier zu den drei Abzulösenden und grüßte sie explizit


    "Salvete!"

  • Allmählich gegen Mitte der zweiten Stunde der Wacht hatte Gracchus das Gefühl in seinen Füßen verloren, wer auch hätte können erahnen, dass dieser Tag eine solche Kälte würde bringen? Während die Hände er noch konnte aneinander oder am Mantel reiben, so sah es äußerst ungebührlich aus, auf der Stelle zu tänzeln, um die Füße zu wärmen, und nur die Zehen in fortwährender Auf- und Abbewegung zu halten, hatte nicht viel genutzt. In stoischer Gelassenheit hatte letztlich er sich mit jener desolaten Situation abgefunden, ohnehin, was blieb ihm übrig, zumal viel mehr als kalte Glieder ihn noch immer die Nähe zur Welt der inferiores beunruhigte. Verhältnismäßig viele Menschen kamen, um den Unterirdischen ihre Gaben zu opfern, und während Äpfel, Birnen und Trauben, aber auch Getreide und selbst Münzen in den gierigen Schlund hinein entschwanden, grübelte Gracchus - verlegen um sonstiges Tun, da die Wacht doch eher symbolisch war, denn tatsächliches Einschreiten zu bedingen - weiterhin darüber, ob es einem Menschen wahrhaftig würde möglich sein, in diesem Loch zu verschwinden, ob er je wieder würde emporsteigen können und ob womöglich dies bereits einmal jemand gegen jeglichen Verstand hatte gewagt. Beizeiten, so nahm Gracchus sich vor, würde er in den Archiven der Pontifices nach solcherlei fahnden. Mit Emporsteigen des Himmelsrundes schien es, als erwache gleichsam die Welt der Toten tatsächlich, wieder und wieder strich der perniziöse Hauch des Windes über den Hügel, ließ Laub rascheln und tanzen, trug Scharen von Raben durch die Luft und schlug in beständigem Klackern den nur unzulänglich geschlossenen Laden eines fernen Gebäudes an dessen Wand, und auch die Ödnis der Straßen, die Leere und Stille, welche über die sonstig so umtriebige Stadt sich hatte gelegt, trug ihr übriges bei, dass die Menschen sich eilten ihr Opfer darzubringen und hernach sputeten, zurück in die heimische Sicherheit zu gelangen. Jegliches Zeitgefühl war schlussendlich aus Gracchus gewichen, als endlich die ersehnte Ablösung in Form dreier Pontifices eintraf. Endlos schien die Zeit hernach sich zu dehnen, in zähflüssigem Strome dahin zu ziehen als die Priester ihr Opfer darbrachten, denn seit ihrem Nahen spürte Gracchus nun endlich wieder sein Füße, auf äußerst unangenehme und peinvolle Art jedoch, schien es ihm, als würden sie jeden Moment wie ein fallender Eiszapfen in tausende Splitter zerspringen müssen, so er noch länger als notwendig würde verweilen.
    "Salvete"
    , grüßte er dennoch, als würde all dies ihn nicht tangieren, als wäre nichts agreabler an diesem Tage, als neben dem Schlunde der Hölle in der Kälte zu stehen und jedem emporsteigenden Geiste persönlich die Hand zu schütteln. Pontifex Fabius sprach leise mit den Pontifices, welche die Wacht übernahmen, vermutlich nur Worte, dass nichts von besonderem Vorkommnisse sich ereignet habe, sodann verabschiedete sich die erste Wache, um jene zweite ihrer Aufgabe zu überlassen. Schwer fiel es Gracchus, Gravitas und Dignitas zu wahren, nicht springenden Schrittes auf die unendlich fern scheinende Sänfte hinzu zu eilen und sich mit die Träger anspornendem Rufe dort hinein zu stürzen. Erst verborgen in jenem Fortbewegungsmittel gestattete er ein Aufstöhnen sich, dazu ein Zittern durch den gesamten Körper, sodann öffnete er noch einmal die Vorhänge marginal und flüsterte eindringlich zu seinem Sklaven.
    "Eile dich, Sciurus, laufe nach Hause und lasse ein heißes Bad mir bereiten, kochend heiß! Spute dich!"
    Wahrlich, es war nicht immer leicht, ein Pontifex zu sein.

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