Das ewige Sonnenrad hatte unlängst das letzte Drittel seiner täglichen Pflicht erfüllt und die blassgoldene Scheibe begann bereits orangerötliche Feuerspuren auf die wenigen Schleierwolken zu malen, die sie wie dunklere Schemen umschwärmten, sich bewusst, dass sie letztendlich siegreich sein und das Licht des Lebens mit sich in den Abgrund des Horizonts reißen würden, nur damit der immerwährende Reigen von Neuem beginnen konnte. Die unzähligen Ecken, Winkel und kleinen Schluchten Roms wandelten sich zu tiefen, schwarzen Abgründen, die in vollstem Gegensatz standen zu den wie strahlende Fackeln erleuchteten Spitzen, Dächern und Höhen, die der letzte Kuss der niedersinkenden Strahlen stets besonders feurig traf. Mit dem sich stetig dichter verwebenden Netz schwarzer Gespenster, die aus der Enge und Lichtlosigkeit hervorkrochen und sich ausbreiteten, schien sich der ohnehin zu jeder Zeit wirre, ineinander vermengte Strom von Menschen, Tieren und Gefährten noch einmal einem anderen, schnelleren Rhythmus zu unterwerfen, als pflanzte sich eine ansteckende Krankheit durch die Luft von einem Lebewesen zum nächsten fort, verbreitete Unruhe und legte sich über schlagende Herzen, um sie noch stärker vorwärtszutreiben, dem Ziel entgegen und fort von der Welt jenseits des Lichtes. Bewusst wurde dieses mysteriöse Leiden von kaum einem Geschöpf wahrgenommen, war es doch schon zu allumfassend im inneren Reich eines jeden verknüpft und verkettet. Motten gleich suchten sie das Helle, züchteten es, umwarben und pflegten, wohl wissend, was außerhalb des kleinen, imaginären Schutzkreises lauerte. Dabei hatten sie die dort lauernden Gestalten oft genug selbst geboren, trugen Schuld an durchbohrenden Augen, gefletschten Zähnen und blutgierigen Gedanken, die dort schweigsam und geduldig warteten, abgehalten nur von überzogenem Gelächter, zu lauter Musik und erzwungener Geselligkeit. Und doch waren sie bereits in deren Mitte, in den verschlossenen Abgründen ihrer Gedanken, den verschwommenen Gestalten in weiter Ferne, deren Entfernung so trügerisch war. Nur ein kurzes Aufflackern, ein Wort, eine Erinnerung war nötig, um sie anzulocken und ihren Griff zu spüren, dort, wo es am meisten schmerzte. Das Gewissen war vielleicht der ärgste, der grausamste Feind; nicht zu töten, nicht zu bekämpfen, nicht zu verlassen.
Jener deutende Zeigefinger, lähmender Stich im Herzen, erstarrende Atemlosigkeit - und die Einsamkeit, die trennende, unerklimmbare Mauer des Geheimnisses, die umschließt. Ausschließt, vereinsamen lässt, isoliert, selbst in die Umarmung ganz gleich wie vieler Körper. Die Abendstunden bilden eine triste, mahnende Melodie, welche die ersten Schauder herabregnen lässt auf jene, die in Unwissen schlecht gekleidetes Wissen in sich tragen. Und welche die sich ankündigende Nacht bereits kennen durch die Bekanntschaft ihrer verstorbener dunkler Schwestern, deren unerträglicher Stille, einzig durchdrungen von eigenem, anschwellendem Herzpochen, dem man ebenso wenig entfliehen kann wie den sich niedersenkenden Gedanken, den verräterischen, quälenden, die stechende Bilder unter die zugepressten Lider schieben und bekannte Stimmen in zermürbender Kakophonie in den Ohren hallen lässt, gleich wie sehr man sie zu überhören versucht. Die Geister der Schuld lauern im Nächtlichen und nehmen den Platz der Welt ein, wenn jene in nebliger Schwärze versunken ist.
~~~
Bei Mars, sie hatte nicht vor, zu fliehen. Mochten sie manche Blicke erfüllt mit Misstrauen getroffen haben, so hatte man ihr endlich doch Glauben geschenkt, weil ihr Betragen bislang tadellos gewesen war. Und womöglich auch, weil sie die Option tatsächlich keinen Augenblick lang in Erwägung gezogen hatte. Eine Flucht wäre langweilig und sinnlos angesichts dessen, was sie erlebte und lernen konnte, wenn sie dort bliebe, wo das Schicksal sie angeschwemmt hatte. Sie besaß große Pläne in und mit ihrer neuen Unterkunft, die weit jenseits dessen lagen, was ihr das Leben in Freiheit anzubieten hatte.
Weitaus zielgerichteter als es den äußeren Anschein hatte durchlief Asny abwechselnd gegen und mit dem Strom wandernd kleinere Gässchen und breitere Straßen Roms, mit ruhigen Schritten und geschmeidigen Reflexen, wenn ein Zusammenstoß mit einem anderen Menschen drohte. Ihre gelassene Aufmerksamkeit glitt über die geschäftigen Konturen derjenigen, die sie passierte und die an ihr vorbeieilten, ohne allzu lange auf einem Punkt zu verharren. Die leise Melodie, die ihren Lippen entfloh, erklang lediglich in ihrem Kopf, die aufgescheuchte Geräuschkulisse der Umgebung vermochte eine so zarte Tonfolge nicht zu bemerken. Schon den ganzen Tag wiederholte sie diese Klangfolge, prägte sie sich mit jedem Male tiefer ein und hatte längst jenen Punkt passiert, der das Vergessen verhinderte. Diese war es, diese und keine andere war geeignet, um sie Mars an jenem wichtigen Tage vorzutragen und verflochten mit anderen Ritualen für die gefahrlose Rückkehr ihres Herrn zu beten. Langsam, behutsam mochte sie beginnen, doch sie entwickelte sich, wuchs und spross, begann zu leben und erfüllte umgekehrt mit Leben, pulsierend, leidenschaftlich und dem Rhythmus von Kampfeslärm, Kriegstrommeln und Herzschlägen folgend, vermischt zu einer reinen, überwältigenden Erregung. Mochte es auch noch ein kleines Kind in den Gedanken einer einzelnen Sklavin sein, so schmeckte ihre Zunge doch bereits die Kraft und Energie, die darin strömte und ruhte, bis man sie erweckte und befreite.
Der nächste Schritt würde die Beschaffung des Opfertieres sein und eben dorthin trieb es das weißblonde Mädchen just in diesem Moment, in welchem sich der Abend auf die Ewige Stadt herniedersinken ließ. Allzu viel Zeit würde sie mit ihrem Vorhaben nicht verlieren dürfen, sonst drohte ihr vermutlich eine Bestrafung, doch an derartige Entwicklungen verschenkte Asny augenblicklich nicht einen flüchtigen Gedanken. Ebenso wenig wie ihre tote Schwester, die ein kleines Stück über ihr schwebte, um nicht ständig durch irgendwelche Körper gleiten zu müssen, was sie als nicht sonderlich angenehm empfand. Allerdings stand Asa der Absicht des lebenden Zwillings doch ein wenig kritischer gegenüber, als dieser selbst.
Was immer du auch anschleppst, wer sagt dir, dass die Flavier es dir nicht wegnehmen, weil sie glauben, du hättest es geklaut? Obwohl das noch ein sehr edler Gedanke ist verglichen mit dem, was wir vorhaben... Die letzte Bemerkung war zu einem leisen, beifälligen Murmeln hinabgesackt und anhand des Tonfalles war schwierig zu entscheiden, ob Asa nun besorgt oder stolz war. Ihr silbriger Nebelblick fand von den wuselnden Menschen zu ihrer weiter unten schlendernden Schwester, genauer gesagt zu deren Fingern, deren oberste Glieder einzeln mit einem dünnen Faden abgebunden waren, und welche wieder einmal ein mittelgroßes Bündel durch die Gegend schleppten, dessen Inhalt man nicht einmal ansatzweise erraten konnte. Allerdings ließ sich bereits anhand der durchgeführten Vorbereitungen erkennen, dass Asny keineswegs plante, mit einem Hamster oder einer Wachtel zurückzukehren - einmal abgesehen davon, dass der freundliche, bislang völlig ahnungslose 'Spender' weder das eine noch das andere in seinem Bestand führte. Wie Asa ihre willensstarke Schwester kannte, wusste diese bereits sehr genau, mit welchem tierischen Opfer sie letztendlich in die Villa zurückkehren würde und womöglich war es das, was sie so beunruhigte. Oder, besser ausgedrückt, der Weg, den Asny für ihr Ziel zu gehen beabsichtigte, glänzte nicht gerade durch Sicherheit und leichte Begehbarkeit. Dieser alte Händler neigte nicht dazu, freizügig sein Tagesangebot an frischen Tieren zu verschenken und soweit Asa wusste plante ihre Schwester auch keinen Diebstahl - jene Taktik wäre indes deutlich mehr nach dem Geschmack der Verstorbenen gewesen. Und vermutlich wäre es ebenfalls menschenfreundlicher gewesen.
"Du kennst mich doch. Ich sorge vor. Einmal abgesehen davon, dass sie sich hoffentlich hüten werden, eine Opfergabe für Marcus Flavius Aristides zu beschlagnahmen und selbst zu verspeisen."
Asa beließ es jedoch nicht bei diesem einen Einwand, ganz einfach, weil sie prinzipiell etwas gegen Gaben und Rituale für irgendwelche Gottheiten hatte, die sich letzten Endes doch nicht an ihren Teil des Handels hielten, sondern sich garantiert irgendwo schmausend und lachend über die einfältigen Sterblichen und besonderes deren Verstorbene lustig machten.
Zwar wartete sie noch einen gerade vorbeiklappernden Eselskarren ab, zischte ihrer Schwester allerdings bereits Augenblicke später ins Ohr:
Aber es ist doch den ganzen Aufwand nicht wert! Es gibt keine Garantie, dass deine Mühen irgendwie was bringen! Noch dazu kennst du diesen Aristides gar nicht! Was, wenn er ein ganz fieser, ordinärer, beschränkter, fetter, alter Eberschwanz ist? Hm? Lass mich dieses Mosaik nur kurz zu Ende legen. Er verschüttet beim Essen die Hälfte des verdünnten Weines auf seine fette Wampe, deren Ausmaße schon fast gereichen, um eigene Bürgerrechte zu beantragen. Er ist einer dieser vielumschrienen Patrizier, die mit dem Gold um sich schmeißen und sich alles kaufen, was Spaß macht, deren Bildung aber katastrophal ist, weil sie sich alle möglichen toll klingenden Titel und Diploma nur mit ihrem vielen Geld gekauft haben! Er schlägt und betatscht Frauen und Sklaven und ist einfach nur eine zufällig im Körper eines Menschen geborene Drecksau. Was dann, Schwesterlein?!
"Es ist unnötig, über so etwas nachzudenken, weil es nicht den Tatsachen entspricht." Asnys leise Stimme erklang mit einer Gelassenheit, wie nur tiefstverwurzelte Sicherheit sie hervorbringen konnte und die sogar Asa einen Herzschlag lang überlegen ließ, ob ihr lebender Zwilling diesen Mann nicht doch schon einmal kennengelernt hatte. Aber dies war schlichtweg unmöglich! Zweifellos würde sie davon wissen! Schon öffneten sich die blassgrauen Lippen wieder, um die nächste Legion Überredungskunst angreifen zu lassen, als ihre Schwester ihr zurvorkam.
"Und selbst gesetzt den Fall, dass dein Mosaik den Tatsachen entsprechen sollte: wenn er nicht zurückkehrt, gehe ich laut Dido womöglich in den Besitz von Serenus' Großmutter über und muss nach Baiae. Dann lieber ein etwas korpulenter, eingekaufter Kriegsheld mit mangelhaften Manieren als eine alte Medusa außerhalb Roms. Doch wie ich schon sagte: Flavius Aristides wird keinen deiner vulgären Ausdrücke verdient haben."
Dido mag ihn aber nicht und findet ihn blöd.
Asas Augen glühten in triumphierend schwarzem Feuer bei diesem letzten, alles entscheidenden Argument. Wenngleich die kleine Sklavin keine wirklichen Gründe für ihre Meinung genannt hatte, so war diese angesichts dessen, dass sie Aristides' Sohn so gerne mochte, doch recht hart und deutlich ausgefallen. Wenigstens in den Augen des Geistermädchens. Natürlich hätte sie sich eigentlich denken können, dass ihre Schwester wiederum ein Gegenargument lieferte, das dem ihren einen unangekündigten, regelwidrigen und äußerst schmerzhaften Schlag in den Unterleib verpasste, doch manchmal fühlte sie sich einfach irgendwie doch für ihren jüngeren Zwilling verantwortlich. Was deren Schlag jedoch in keiner Weise dämpfte.
"Ja, aber mich fand Dido ebenfalls blöd. Und wenn Aristides nur halb so 'blöd' ist wie ich, übertrifft er deine reizende Beschreibung bereits um die Größe Roms, nicht wahr?"
Der tote Zwilling fügte sich klaglos in sein Schicksal der Verliererin und stieß lediglich einen tiefen Seufzer aus, der sein Echo in einer nachtdunklen Schlucht der Unterwelt fand. Derart vor Leben strotzendem Selbstbewußtsein hatte eine Verstorbene nicht viel entgegenzusetzen.
Also schön. Tun wir einfach mal so, als wäre er jede deiner folgenden Schandtaten wert. Und wenn er nur halb so blöd ist wie du wird er den vielgerühmten Schutz der Götter spätestens dann brauchen, wenn er siegreich wieder in seine Villa einzieht und denkt, alles wäre dort noch so, wie bei seiner Abreise.
tbc~