atrium | Die Ausreißerin

  • "Und?" gab ich zurück, ohne mit der Wimper zu zucken, als Siv von Merits einstiger Vergangenheit und ihrer Herkunft sprach. Sie schwieg kurz, dann sprach sie weiter, und ihre Worte ließen meine Augen schmal werden, während ich lauschte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte den Kopf ein wenig zurück. Scheinbar hatte sich Siv bereits angefreundet mit dem Mädchen, oder sie sah in ihr sich selbst wiedergespiegelt. Sonst würde sie sich doch nicht für sie stark machen. Ich setzte zu einer Antwort an, als Siv sich umwandte, meine Tunika schnappte und zu mir kam, um sie mir zu reichen. Diese Handlung verwirrte mich, und ich runzelte die Stirn, den Stoff natürlich nicht beachtend. Immerhin war das hier mein Zimmer, sie hatte nicht geklopft und ich wollte ohnehin schlafen. Ich nahm ihr die Tunika also ab und ließ sie dann fallen. Natürlich verstand ich den Grund dieser Geste, doch ich ging nicht darauf ein. Ich erhob mich und stand - mit gerunzelter Stirn - nun genau vor Siv.


    "Jeder von uns ist in einer bestimmten Art von jemandem abhängig, Siv. Du weißt das. Was also willst du von mir? Dass ich sie mit offenen Armen empfange, nachdem sie damals einfach fortgelaufen ist wie ein nichtsnutziger Hund, der Angst vor seinem Herrn hat? Du solltest mich inzwischen gut genug kennen um zu wissen, dass ich niemanden zum Spaß quäle oder bestrafe. Wenn du also gekommen bist um einzufordern, dass ich Merit ohne Konsequenzen wieder in diesem Haus aufnehme, bist du umsonst gekommen, denn das werde ich nicht tun. Sie muss lernen, dass sie bestimmte Regeln einzuhalten hat. Und wenn sie das getan hat, wird sie behandelt werden wie jeder andere von euch auch." Ich schwieg nach dieser lauten Rede, in Sivs Gesicht hinabsehend. Unter anderen Umständen hatte ich sie für diese Nacht nicht wieder gehen lassen, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt verspürte ich keine große Lust darauf, sie hier zu behalten. "War das alles, weswegen du ohne zu klopfen hineingekommen bist?" fragte ich sie mit einem entsprechenden Blick.

  • Corvinus ging nicht weiter auf Merits Vergangenheit ein, aber das hatte Siv auch nicht erwartet, sonst hätte sie nicht von selbst aufgehört. Aber auch den Rest, den sie zu sagen hatte, schien ihn nicht sonderlich zu begeistern, und die Tunika ignorierte er komplett, nahm sie lediglich an, um sie gleich darauf fallen zu lassen. Gerade wollte sie sich darüber aufregen – immerhin hatte sie bitte gesagt, was wollte er denn noch? –, aber in genau dem Moment erhob er sich, und sie zuckte kurz zusammen wegen der unerwarteten Bewegung. Jetzt standen sich die beiden ohne allzu großen Abstand gegenüber, und Corvinus musterte sie mit einem fast schon finsteren Gesichtsausdruck – wovon Siv sich aber kaum beeindrucken ließ. Nach dem ersten Zusammenschrecken zuckte sie mit keiner Wimper mehr, sondern erwiderte seinen Blick geradeheraus – das einzige, was es bewirkte war, dass sie sein Körper vor ihr sie zumindest im Moment weniger ablenkte.


    Was er allerdings zu sagen hatte, machte es ihr schwer, wenigstens so lange ruhig zu bleiben, bis er fertig war. Tonfall und Worte unterstrichen seinen Gesichtausdruck noch – und vor allem seine letzte Frage wies eigentlich deutlich darauf hin, dass er das Thema für erledigt hielt und er mit ihr fertig war, seinem Blick nach zu schließen. Und vielleicht wäre es klüger gewesen jetzt zu schweigen, aber Siv war nicht in der Stimmung, auf so etwas zu achten, und wenn sie sich nun eine Strafe einhandelte, sollte ihr das recht sein. Irgendwie musste sie sich jedenfalls Luft machen. Einen Moment hielt sie noch irritiert inne wegen dem, was seine Frage implizierte, und wieder glitt ihr Blick kurz ab, während sie sich gleichzeitig darüber ärgerte. Dann konzentrierte sie sich wieder auf das, was er davor gesagt hatte. "Ich weiß das, ja! Aber da sein, sein gut abhängig sein und schlecht abhängig sein, und ist nicht immer leicht, abhängig sein, wenn mag sein unabhängig! Und nichtsnutzi, nutzige…" Was Nichtsnutz bedeutete, wusste Siv, hatte sie das Wort doch schon einige Male von Matho zu hören bekommen. Nur das Adjektiv bereitete ihr Schwierigkeiten, und so ließ es kurzerhand weg. "Und Nichtsnutz Hund, das sie nicht ist. Und nicht ist nett das sagen, oder denken." Siv bebte vor Empörung, dachte gar nicht darüber danach, dass sie mit ihren Vorurteilen gegenüber Römern bis zum heutigen Tag so etwas von sich gab. Aber indem er Merit warten ließ, ließ er sie spüren, welche Macht er über sie hatte, mehr als er es mit der Verhängung einer Strafe gekonnt hätte. Siv wusste nicht, wie sie das ausdrücken sollte, ihr fehlten die Worte dafür, aber sie war sich auch nicht mehr ganz so sicher, ob es nicht genau das war, was er wollte – Merit spüren zu lassen, wo ihr Platz war. Nur war es wirklich nötig, sie dafür derart zu missachten?


    Siv biss sich auf die Lippen. Die Ägypterin selbst hatte ziemlich deutlich gemacht, dass sie froh war, ihrem Besitzer erst mal nicht zu begegnen. Aber die Germanin konnte sich nicht helfen, sie würde anders reagieren in dieser Situation. Sie würde sich das nicht gefallen lassen, und sie würde nicht lernen, wie Corvinus sagte. "Und du denk, das sein gehen? Dass sie lernen, durch warten lasst? Ich nicht glaube. Ich nicht lerne würden. Ich nicht will ohne Konse… ohne Strafe, oder was. Ich weiß, da ist Regeln, und weiß, dass nötig sein Regel. Aber das Warten… Warten ist mehr schlimm als Strafe haben." Einen Moment lang standen sie sich gegenüber, und Siv funkelte ihn an, hin- und hergerissen zwischen Empörung und ihm, seinem Körper, so dicht vor ihr, dass sie ihn riechen konnte. Sie wusste nicht, was sie wollte, und weil sie selten ein Blatt vor den Mund nahm, sagte sie genau das. "Und ich nicht weiß, weswegen noch gekommen, was noch will."

  • Während Siv sprach, verengten sich meine Augen mal mehr, mal weniger. Meine Vermutung, sie rege sich tatsächlich nur deshalb auf, weil sie sich selbst in Merit sah, bestätigte sich mit den gesagten Worten der Sklavin. Jede andere hätte ich vermutlich postwendend aus dem Raum geworfen, doch Siv war nahezu niedlich, wenn sie sich aufregte, unbewusst die Nase kraus zog und hitzige Debatten in ihrem lateinischen Kauderwelsch begann. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich billigte, wie sie mit mir sprach. Mein Gesichtsausdruck war nun tatsächlich finster, und als sie scheinbar fertig war - und sogar zugab, selbst nicht zu wissen, was sie sonst noch wollte, was ich erst einmal geflissentlich ignorierte - ließ ich noch einen Moment verstreichen, ehe ich ruhig auf ihre Bemerkung antwortete, dass dieses Warten schlimmer war als eine Strafe. "Ich weiß", entgegnete ich schlicht, und das erklärte, warum ich Merit-Amun warten ließ, statt sie explizit zu bestrafen für eine Tat, die Jahre zurück lag.


    "Sie mag vielleicht kein unnützer Hund sein, aber sie hat sich aufgeführt wie einer, Siv. Also werde ich sie dementsprechend behandeln, bis sie zur Vernunft kommt. Glaubst du denn, sie wäre freiwillig wiedergekommen? Leone sagte, dass jemand sie begleitet hat. Ich kenne den Sachverhalt nicht, und wenn ich ehrlich bin, interessiert er mich auch nicht. Aber eines kann ich dir sagen: Merit-Amun ist ganz gewiss nicht von sich aus hergekommen." Wenige Herzschläge später fuhr ich mir durchs Haar, seufzte und schlug einen weniger hitzigen Ton an. "Ich weiß noch nicht, was ich mit ihr machen werde. Vielleicht sollte ich sie ungesehen verkaufen, das wäre vermutlich das beste." Ich setzte mich wieder und sah zu Siv auf. Mir stand der Sinn nach diesem Schlagabtausch eindeutig nicht nach innigem Körperkontakt. "Du kannst jetzt gehen, Siv", sagte ich abweisend, wohl wissend, dass ich sie damit vermutlich vor den Kopf stieß. "Ahja, du wirst mich morgen früh begleiten, ich habe einen Termin mit dem Vorsteher des Saturntempels", fügte ich noch an, denn meine Aufgaben als quaestor urbanus umfassten auch regelmäßige Kontrollen des aerarium, deren Hüter im Saturntempel ansässig waren.

  • Siv blieb der Mund offen stehen, als sie sein simples ‚Ich weiß’ hörte. Was sie bis jetzt nicht hatte glauben wollen, hatte Corvinus nun unmissverständlich klar gemacht – er wusste, was es für Merit heißen musste zu warten, und genau deswegen handelte er so. Siv holte Luft, setzte dazu an, etwas zu sagen, ließ es dann doch, holte erneut Luft, um etwas loszuwerden, und brach wieder ab, und wiederholte das Ganze noch ein drittes Mal, bevor sie endgültig aufgab. Es gab nichts dazu zu sagen. Sie fand dieses Verhalten unmöglich, aber, und das war ihr auch klar, vor allem deshalb, weil es sie selbst viel mehr getroffen hätte als es bei Merit offenbar der Fall war. Die Situation war nicht gerade dazu angetan, dass die Ägypterin sich wohl fühlte, aber sie schien noch einigermaßen damit klarzukommen. Siv dagegen hätte sich tatsächlich wie ein Hund behandelt gefühlt, wie irgendeine minderwertige Kreatur, und allein der Gedanke daran ließ sie schon wieder beben vor Empörung. Mit jemandem nicht reden, weil man sauer war – das war eine Sache, und das hatte Siv schon oft genug fertig gebracht, obwohl sie in den meisten Fällen lieber mit den Leuten stritt. Aber aus kühler Berechnung heraus jemanden zu ignorieren, weil man wusste, dass man den anderen damit demütigte?


    Sie starrte Corvinus an, diesen Mann, aus dem sie einfach nicht schlau wurde, der so viele verschiedene Seiten zu haben schien und der ihr gerade wieder eine neue an sich gezeigt hatte. Ein Teil von ihr fragte sie leise, wie sie wohl handeln würde an seiner Stelle, und auch wenn sie glaubte, so etwas nicht zu tun, musste sie doch zugeben, dass er auf eine gewisse Art recht hatte – und je nachdem wie Merit war, Erfolg haben würde, mehr als mit einer sofort ausgesprochenen Strafe. Jetzt tat sie einen kleinen Schritt zurück, während Corvinus weitersprach. Sie hat sich aufgeführt wie einer… dementsprechend behandeln… Diese Worte riefen eine unangenehme Erinnerung wach, an das einzige Mal, wo ihr Vater wirklich durchgegriffen hatte, an die Zeit, als ihr er endgültig beschlossen hatte, sie zu verheiraten, auch gegen ihren Willen – und sie sich im Grunde gegen alle gewendet hatte, alle, die sie zur Vernunft hatten bringen wollen, was so gut wie jeder gewesen war. Recht gegeben hatte ihr zumindest keiner. Und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie mit dem drittjüngsten ihrer Brüder geredet hatte, mit dem sie sich von allen am besten verstand und der damals der einzige gewesen war, den sie an sich herangelassen hatte. Sie konnte heute noch hören, was er damals gesagt hatte, als sie sich über die anderen und allen voran ihren Vater beschwerte: Wenn du dich wie ein bockiges Kind benimmst, brauchst du dich nicht wundern, wenn du wie eins behandelt wirst. Das hatte Siv tatsächlich zu denken gegeben, auch wenn sie zuerst in die Luft gegangen war. Und am Ende hatte sie nachgegeben. Aber die Situation jetzt war doch eine andere, Merit war kein Kind von Corvinus und auch kein Hund, sie war… eine Sklavin. Sein Besitz. Letztlich kam es immer darauf zurück. Siv schloss für einen Moment die Augen, als ihr das klar wurde. "Ich auch weiß, dass Merit gebringt von wen. Trotzdem… Sie wollte nie Sklavin sein, kannst du’s ihr verdenken, dass sie die Chance genutzt hat wieder frei zu sein?"


    Verkaufen wollte er Merit also, zumindest dachte er darüber nach. Und dann sprach er aus, was er vorher nur angedeutet hatte – er war fertig, mit dem Thema, mit ihr. Dass sie noch nicht fertig war, schien ihn dabei kaum zu interessieren, stattdessen informierte er sie nur noch beiläufig darüber, dass sie ihn am nächsten Tag wieder zu begleiten hatte. In jeder anderen Situation hätte Siv wenigstens mit den Augen gerollt, weil sie wieder mit musste, obwohl er ganz genau wusste, wie wenig sie das mochte. Aber jetzt sah sie ihn nur weiter an, wusste nicht, ob sie tatsächlich gehen sollte, oder ob es noch irgendeinen Sinn hatte zu bleiben und weiterzubohren. Sie wollte nicht eine zweite Abfuhr bekommen, eine noch kältere, oder wirklich hinausgeworfen werden. Aber gehen wollte sie auch noch nicht, dafür war sie zu aufgewühlt. "Warum?" fragte sie schließlich, und sie wusste selbst nicht so genau, was sie damit eigentlich meinte – oder eher, wie viel. "Sie nicht ein Kind ist, und nicht ein Hund. Sie Sklavin ist, aber auch Mensch. Sie… Du sie seht wie?" Vielleicht war es dumm von ihr, weiterzureden – sie wollte nicht hören, dass Merit – und damit auch sie – letztlich nur eine Sklavin war, aber sie vermutete, dass sie genau das zu hören bekommen würde. Trotzdem sprach sie weiter, und jetzt klang ihr Warum fast etwas gequält. "Sie Sklavin, ja? Besitz. Nicht mehr. Warum Leben so sein, so ungerecht? Warum… warum gebt so viel, so viel… Abhängig, und Erwartungen, und, und… Nicht schick mich weg. Bitte. Ich… es ist so schwer, und…" und mit den anderen kann ich nicht reden, sie kennen nur eine Seite, die Sklavenseite, natürlich – und außerdem will ich wissen, was du denkst.

  • Es war eindeutig, dass Siv sich nicht wohl fühlte. Sie schien marginal zu erzittern, geradezu zu erbeben vor Wut. Oder war es etwas anderes? Ihr Verhalten indes nahm ich bewegungslos zur Kenntnis. Ich hatte ihr gesagt, was ich davon hielt. Das musste genügen. Genau genommen musste ich mich nicht einmal rechtfertigen vor ihr, denn schließlich war auch Siv nur eine Sklavin, auch wenn ich bisher erfolgreich darin gewesen war, diese Tatsache selbst aus meinen eigenen Gedanken zu verbannen. Auch jetzt dachte ich nicht weiter darüber nach, sondern betrachtete Siv nur, die ein Stück zurückgetreten - oder zurückgewichen? - war. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich noch einen Momentzorn und Unverständnis wieder, dann jedoch löste Resignation den Ausdruck auf ihren Zügen ab. Erneut folgte ein Widerspruch, gepaart mit ihrem unverständlichen Germanisch. Ich runzelte die Stirn, verstand auch dieses Mal nur wenige Worte. "Trotzdem? Du denkst also, ich sollte sie mit offenen Armen empfangen und dafür belohnen, dass sie wieder zurückgekommen ist? Und das, obwohl es doch ihr eigenes Verschulden war das Sie überhaupt erst fort gelaufen ist? Ich kann schwerlich glauben, dass du das wirklich denkst, Siv. Hier geht es auch gar nicht um Merit. Hier geht es um dich." Und das war mein Ernst. Warum sonst interessierte es sie so, was mit einer ihr unbekannten Sklavin passierte?


    Ich hattet Siv bereits unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass sie gehen konnte, und doch ging sie nicht, sondern bohrte weiter. Meine Laune besserte das allerdings nicht gerade. Missmutig sah ich sie an, während sie mir ihre Strafpredigt hielt. Mit jedem weiteren gesprochenen Wort verengten sich meine Augen mehr. Ich hatte bereits den Mund geöffnet, um auf die unverfrorene Frage zu antworten, als Siv sich bereits selbst eine Antwort gab. Ich schluckte hart. War ich eben noch dazu bereit gewesen, mit Siv darüber zu reden, so verschloss ich mich nun davor. "Warum stellst du mir eine Frage, wenn du sie kurz darauf dir selbst beantwortest? Da du tatsächlich zu glauben scheinst, dass dies meine Ansicht sei und sie auf alles und jeden zuträfe, sehe ich keinen Grund, weiter mit dir darüber zu diskutieren. Aber weißt du, Siv, im Grunde hast du recht: Ihr seid Sklaven, nicht mehr und nicht weniger", entgegnete ich bissig. Ihre Worte hatten mich getroffen. Ich hob den rechten Arm und wies erneut zur Tür. "Ich bin müde und will schlafen. Wenn du also die Güte hättest...?" sagte ich entnervt. Ich würde allerdings ohnehin nicht gut schlafen, auch wenn mir das noch nicht bewusst war. Unser Gespräch hatte eine Frage aufgeworfen, die ich bisher mit Erfolg verdrängt hatte.

  • Siv hob in einer hilflosen Geste die Arme, als Corvinus erneut zu der Auffassung zu kommen schien, dass sie von ihm wollte, Merit ohne Konsequenzen, ohne Strafe aufzunehmen. War sie so unfähig auszudrücken, was sie wollte, was sie dachte? Lag es an ihrem mangelnden Latein, daran, dass sie es generell nicht konnte, oder war es einfach so, dass sie aneinander vorbei redeten? Siv wusste es nicht, aber Tatsache war, dass er sie entweder nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Sie wusste, dass er Merit nicht einfach so davon kommen lassen konnte – sie war nun mal eine Sklavin, und wenn er wollte, dass in diesem Haushalt Ordnung herrschte, musste er in so einem Fall Konsequenzen ziehen. Dass war Siv durchaus klar. Was sie eigentlich wollte war zu sehen, zu spüren, dass er – auch wenn er es nicht offen zeigte, zeigen konnte – Verständnis hatte. Verständnis dafür, dass es nicht leicht war, Sklave zu sein, nicht wenn man vorher frei gewesen war. Verständnis dafür, dass man die Chance auf Freiheit nutzte, wenn sie sich einem bot. Verständnis dafür, dass man sich nicht so einfach mit seinem Schicksal abfinden konnte, dass man, als Sklave, anders über sich selbst dachte als der Herr, dass man sich eben nicht als bloßen Besitz sah, sehen konnte… Aber das war etwas, was sie bei ihm offenbar vergeblich suchte. Sein Gesicht zeigte nur Missmut und Unwillen.


    "Nein. Nicht ohne Strafe, ich sagen das. Aber…" … kannst du nicht verstehen, nicht wenigstens etwas nachvollziehen, warum… Aber Siv sagte nichts davon laut. Corvinus konnte oder wollte nicht verstehen. Im nächsten Moment sah sie ihn entgeistert an. "Um mich? Wie du-" Die Germanin wollte zuerst widersprechen, unterbrach sich aber selbst, als ihr klar wurde, dass er Recht hatte. Natürlich ging es ihr auch um Merit, einfach weil sie mit ihr mitfühlen konnte, aber allein deswegen wäre sie nicht zu Corvinus gegangen. Es ging um sie, und um ihn, und das seltsame Verhältnis, dass sie zu ihm hatte. Die Seite, die er ihr jetzt zeigte, kannte sie auch, aber sie sah sie so selten, er benahm sich so selten so wie jetzt, wenn sie zusammen waren. Sie wusste, dass er so auch sein konnte, aber eigentlich kannte sie ihn anders, und es tat weh, dass er jetzt so abweisend war, bei einem Thema, dass ihr so nahe ging, dass sie so tief betraf. Sie hatte nicht glauben können, nicht glauben wollen, dass er überhaupt kein Verständnis für Merits Situation – und damit auch für die jedes anderen Sklaven in diesem Haus, einschließlich ihr – aufbrachte. Aber da schien sie sich getäuscht zu haben. "Und wenn? Es geht um Merit. Und auch geht um mich, ja. Das schlimm ist? Ich nur will…" Aber wieder sprach sie nicht weiter, zuckte nur die Achseln und musterte die Wand hinter ihm. Was sollte sie denn sagen? Spielte es eine Rolle, ob es um sie ging oder um Merit? Verstehen würde er ja doch nicht…


    Bei seinen nächsten Worten dann zuckte sie so deutlich zusammen, als ob er sie geschlagen hätte, und in diesem Moment wäre es ihr fast lieber gewesen, er hätte ihr tatsächlich eine Ohrfeige verpasst und sie hinausgeschmissen, denn das hätte ihr weh getan, sie aber nicht so sehr verletzt, wie es diese paar Worte vermochten. Ihr seid Sklaven, nicht mehr und nicht weniger… Es war nicht das erste Mal, dass sie weinte oder mit Tränen rang. Aber ihr Leben lang hatte Siv sich fast nie so weit gehen lassen, dass sie vor anderen Menschen Tränen vergossen hätte, und seit sie in römische Gefangenschaft geraten war, hatte sie noch seltener geweint, und überhaupt nicht mehr vor anderen – wenn dann nur, wenn sie sicher war alleine zu sein. Jetzt war einer der wenigen Momente in ihrem Leben – und der erste, seit sie Sklavin war – dass sie in Gegenwart eines anderen Menschen sichtbar mit den Tränen zu kämpfen hatte, und diesen Kampf auch noch beinahe verlor. Obwohl sie fast schon damit gerechnet, es sogar fast herausgefordert hatte, dass er das sagte, hatte sie zuvor keine Ahnung gehabt, wie tief diese Worte aus seinem Mund sie wirklich treffen, verletzen würden. Und sie wusste noch nicht einmal warum. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, während ihre Augen schimmerten und sie ihn für Momente einfach nur anstarrte.


    Dann blinzelte sie ein paar Mal, drehte den Kopf zur Seite und atmete ein paar Mal tief ein, während sie eine Hand vor den Mund den legte und sich danach damit über das Gesicht fuhr. Sie verlor den Kampf beinahe, aber nur beinahe. Als sie Corvinus wieder ansah, glitzerten ihre Augen immer noch verdächtig, und ihre Lippen bebten, aber sie gab sich nicht die Blöße, vor ihm zu weinen. "Sklaven. Wir seid Sklaven. Nicht mehr. Es so einfach ist." Ihre Stimme zitterte, und der Tonfall war eine seltsame Mischung aus Verletztheit, Bitterkeit und beginnendem Trotz. Sie nickte und sah erneut zur Seite, blinzelte wieder, als eine Träne sich herausstehlen wollte aus ihrem Auge und in den Wimpern hängen blieb. "In Ordnung. H e r r. Ich weiß… weiß Scheid. Bescheid." Siv nickte erneut, langsamer diesmal, und bevor sie endgültig die Kontrolle verlieren konnte, drehte sie sich um. Im Gegensatz zu vorhin, als ihr Schritte leicht und federnd gewesen waren, schienen sie nun schwer zu sein, aber die Germanin hielt sich aufrecht, den Rücken gerade, bis sie den Raum verlassen und die Tür geschlossen hatte. Selbst dann blieb sie noch einen Moment regungslos stehen, bevor sie sich schließlich an die Tür lehnte, an dieser entlang zu Boden sank und ihren Tränen stumm freien Lauf ließ.

  • Siv schwieg, starrte mich an. Ich starrte zurück. Die Veränderungen, die kurz darauf auf ihrem Gesicht vor sich gingen, machten mir deutlich, wie sehr sie meine Worte zuvor getroffen haben mussten. Erneut schluckte ich, hielt ihrem Blick jedoch stand. Ich hatte es ausgesprochen, ob ich es so meinte oder nicht, spielte keine Rolle in diesem Moment. Sie war nun einmal eine Sklavin, und ich ihr Herr. Auch, wenn ich bisher jeden Gedanken, der in diese Richtung ging, ignoriert hatte. Auf ihre Fragen reagierte ich demnach nicht, sondern sah nur weiterhin zu Siv nach oben. Ich hätte zudem nicht gewusst, was ich hätte antworten sollen, hätte sie mir die Frage gestellt, was ich ihn ihr sah. Ich blinzelte, drehte den Kopf fort und sah zur Tür, als gäbe es dort etwas Interessantes, was natürlich nicht der Fall war. Viel mehr wollte ich ablenken und Siv nicht anschauen müssen.


    Einen Moment war es daraufhin ruhig, Siv schwieg. Doch ein heftiges Zusammenzucken am Rande meines Gesichtsfeldes ließ mich den Kopf erneut wenden. Vollkommen entgeistert sah Siv mich an. Ganz so, als hätte ich sie geschlagen. Unwillkürlich zogen sich meine Brauen zusammen, während ich sie fragend musterte. Sie schien mit sich zu kämpfen und schien gerade so, als könnten sie jeden Moment anfangen zu weinen. Ich wusste nicht, was mich in jenem Moment mehr erschreckte: Sivs Aufbegehren oder die Tatsache, dass sie den Tränen nahe war. Um ein Haar wäre mir eine Entschuldigung heraus gerutscht, doch gab es eigentlich nichts, um für ihr ich mich hätte entschuldigen müssen. Gut, es wäre nicht nötig gewesen, noch zusätzlich Salz in die Wunde zu streuen. Ich presste meine Lippen aufeinander und überlegte. Im Grunde war es egal, was ich mit Merit anstellte, für Siv würde es immer ungerecht sein. Da musste sie nun durch. Ich war mir sicher, dass sie es verstehen würde, wenn sie nur eine Weile darüber nachdachte. Und doch fühlte ich mich schlecht. Mit meiner Bemerkung hatte ich alle Sklaven in einen Topf geworfen, etwas, das ich sonst auch nicht tat, schon gar nicht bei Siv. Doch konnte ich es mir leisten, jetzt nachzugeben? Noch während ich mir die Frage stellte, wusste ich bereits die Antwort: ich würde es mir niemals leisten können. Eine Erkenntnis, die Bedauern in mir auslöste und mich zudem verwirrte.


    So ging der Moment vorüber, ohne dass einer von uns etwas sagte. Siv standen die Tränen in den Augen, das sah ich wohl. Und obwohl ich sonst ein Mensch war, der weder Tränen verschulden noch sie und tätig fließen ließ, so fühlte ich mich doch machtlos gegenüber Sivs Tränen. Als sie sich wieder gefangen hatte und mir das Gesicht erneut zuwandte, war ein harter Ausdruck auf ihr Antlitz getreten. Ich glaubte sogar, etwas von dem alten Trotz darin erkennen zu können. Der Ton, mit dem sie dann sprach, kratzte etwas in meinem Inneren an, von dem ich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal gewusst hatte, dass es da war. Nur kurz war ich darüber erstaunt, dann gewann das schlechte Gewissen die Oberhand über mein Inneres, und ich presste die Kiefer aufeinander. Dass Sie mich Herr nannte, setzte dem Ganzen noch die Krone auf. Dann wandte sie sich um und ging. Kurz war ich tatsächlich versucht, sie zurückzurufen, doch ihre Schritte näherten sich unaufhörlich der Tür, bis sie schließlich aus dem Raum verschwunden war und nichts als Stille zurückließ.


    Irgendwann legte ich mich tatsächlich schlafen, zumindest versuchte ich es. Doch meine Gedanken strichen einem eingesperrten Panther gleich immerfort um die Frage, welche Siv aufgeworfen hatte. Als ich schließlich einschlief, hatte ich noch keine Antwort gefunden.



    ~ finis ~

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