MFG & CFA | Eine besondere Überraschung, Teil II

  • Von der villa Flavia her kommend, konnten wir nur Schatten unter vielen sein, die sich des Nachts in Rom bewegten. Zwar trieb uns nicht die Sehnsucht nach einer vordergründig freundlichen Umarmung an, die man später teuer würde mit Sesterzen entlohnen müssen, aber es war zumindest ungewöhnlich, dass Manius und ich unterwegs waren, ohne Eskorte, ohne bewachende Sklaven, einfach zwei Männer im besten aller Alter, kräftig genug, um auch mit etwaigen Angreifern fertig zu werden. Wenigstens war der geplante Weg nicht zu weit - und ich hatte von exotischen wie selbstmörderischen möglichen Zielen abgesehen, dennoch blieb ein Rest Gefahr. Selbst mit Eskorte war Rom nachts für niemanden sicher, wenn man den Kaiser einmal nicht mit einrechnete, der immerhin eine ganze Menge an Prätorianern mitschleppen konnte. Aber letztendlich war auch dieser latente Hauch der Gefahr jene Würze, welche die Suppe unseres Ausflugs zu einem kleinen Genuss machen sollte. Ich eilte Manius nicht voran, ich ging vielmehr wie ein Mann, der sein Ziel kannte und darob nicht zu jenen gehörte, die man leicht würde narren können - wer in Rom fremd war, war um diese Zeit meist schon verloren. 'Freundliche' Fremde, die einen dann in irgendwelche dubiosen Lokale abschleppten und ausraubten, gab es mehr als genug.


    Was unser Ziel anging - ich war bei einer meiner weiträumigen Wanderungen als magistratus auf jenes gestoßen und hatte prompt einige Zeit darin verbracht, um dann meine Idee zu entwickeln. Vorsichtig hatte ich den Besitzer ausgehorcht, ob unter seine Kunden auch ein Flavier zu rechnen sei, was er aber verneint hatte - mit patrizischen Kunden gaben die meisten Händler gern an - und stellte ihm eine gute Summe in Aussicht, wenn ich sein Etablissement für einige Stunden würde mieten können, einfach nur für .. ein wenig freie Zeit. Die Anzahlung hatte ihn dann vollends umgestimmt und ich musste schmunzeln, wenn ich mich an den gierigen Ausdruck in seinen Augen erinnerte. Geld machte vieles um so viel leichter.
    Dumpf schlug uns der beißende Gestank einer Wäscherei entgegen, die offensichtlich gerade frische Arbeitsgrundlagen erhalten hatte - ein Träger wuchtete einen penetrant nach Pisse stinkenden Bottich durch einen Hofdurchgang und sah sich nicht einmal nach uns um. Wer würde einen solchen Mann auch freiwillig überfallen? Einen Seitenblick zu Manius werfend, vergewisserte ich mich, dass er noch auf gleicher Höhe ging und nicht zu sehr von den Umständen unseres Ausflugs abgeschreckt war - immerhin ging es heute vor allem um sein Vergnügen.

  • Angeblich waren in der Nacht alle Katzen graufarben, doch während ein solches Tier den Weg der beiden Vettern voraus kreuzte und dabei ihre weißfarbenen Pfoten und der weißfarbene Schwanz deutlich in jener Farbe waren zu erkennen, schien es ganz so als seien die Menschen dieser Zeit durchgängig von graufarbener Couleur. Ein jeder passierte den Nächsten als würde er jeden Moment erwarten, von diesem eine Keule auf den Kopf geschlagen oder ein Messer in den Magen gestochen zu bekommen, und vermutlich dies aus gutem Grunde. Aus eben jenem guten Grunde verließ Gracchus sonstig die Villa nicht nach Anbruch der Dunkelheit und so es notwendig war, von einer anderen Stätte in Düsternis nach Hause zu gelangen, so scharrte er custodes um sich, mit Fackeln und Knüppeln ausgestattet, welche im Notfall es mit einer halben Bande würden aufnehmen können. An diesem Tage jedoch schlich er allein mit Aquilius durch die Straßen, welche lange nicht so leer waren, wie er sich dies wünschte. Doch nicht nur die Lebenden jagten ihm Schauer über den Rücken, viel mehr gereichte die untrügliche Anwesenheit derer, welche längstens nicht mehr lebendig waren, dazu, die Nackenhaare ihm aufzurichten, denn mit jedem Schritte sah er die lauernden Schatten zwischen den Mauern, die dürren Finger, welche aus den Ritzen sich schoben, Fratzen in den Flammen der wenigen Fackeln und Lampen, zerfledderte Flügel im Dunste und scharfe Zähne blitzend zwischen den Pfosten der Türen. Während Aquilius' Schritt beinah unbeschwert, seine Haltung wachsam, doch sicher war, hatte Gracchus seinen Kopf zwischen die Schultern gezogen, suchte seinen Schritt nicht aus dem Tritt zu bringen, hielt sich nahe seines Vetters, hoffte darauf, dass der Weg nicht allzu weit würde sein und klammerte sich ein wenig verzweifelt an die Vorfreude auf Caius' Überraschung.

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  • Ich hatte nie an Geister oder das Seufzen der Ahnen geglaubt, welches man des Nachts angeblich hören sollte - wenn ich nach draußen gelauscht hatte, war es immer der Wind gewesen, der um die Ecken der villa gestrichen war, nichts sonst. Letztendlich waren die Geister, gegen die man im Inneren stets zu kämpfen hatte, immer schrecklicher gewesen als irgendwelche Trugbilder, die man mit einem überreizten Geist und einer lebhaften Phantasie des Nachts zu tausenden zu entdecken vermochte.
    Vielleicht war ich auch eher der Realist von uns beiden, als wir durch jene Straßen gingen, mit schnellem, aber nicht zu schnellem Schritt, sah ich mich vor allem nach menschlicher Gefahr um, nicht aber nach irgendwelchen schwankenden Schatten - ich dachte nicht einmal im Ansatz daran, dass Manius' Gedanken den meinen so unglaublich fern waren. Den Weg zu jenem Ort hatte ich mir gut gemerkt, und nun fehlten nur noch einige Straßen und eine enge Gasse, bis wir am Ziel sein würden - an einigen stinkenden Abfallhaufen vorbei und einem darin herumwühlenden Hund führte ich uns, dann bogen wir um die Ecke einer insula, in deren Erdgeschoss sich, wie es üblich war, ein Laden befand, der aber bereits alle Fenster mit hölzernen Läden verschlossen hatte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, was hier verkauft wurde, und angesichts des verwaschenen Putzes wollte ich das auch gar nicht unbedingt wissen.


    Wichtig war nur, dass ich Manius im Straßengewirr nicht verlor, dass uns nicht irgendwelche Verrückten angriffen und dass wir unser Ziel erreichen würden, bevor es vielleicht noch regnete - Regen verdarb doch jeden Ausflug zuverlässig, selbst wenn er nur innerhalb Roms stattfand. Und das war, als wir die enge Gasse, in der man fast die Hand vor Augen nicht mehr richtig erkennen konnte, weil sie so dunkel war, endlich der Fall: Vor meinen Augen (und denen meines Vetters) tat sich ein kleiner Laden auf, der weitab vom Schuss lag und doch unter Kennern und Sammlern einen gewissen Rang besaß. Mit einfachen Holzläden gab man sich hier nicht zufrieden, die Fenster waren vergittert, und als ich den Schlüssel aus der Tasche zog, der zur Eingangstür gehörte, konnte man schon vom etwas trockenen Geschmack der Luft erahnen, wohin ich ihn geführt hatte. Eine entzündete Öllampe später fiel das Licht derselben auf raumhohe Regale, in denen Schriftrollen gelagert waren, aufgeteilt in römische Autoren der Kaiser- und Republikzeit, griechische Autoren, selbst Papyri mit parthischer und ägyptischer Schrift wurden hier vermögenden Kunden angeboten. Freilich kamen diese selten genug hierher, sandten eher ihre Sklaven, aber an der Exclusivität des Angebots änderte sich nichts dadurch.


    "Ich habe mir gedacht, dass Du neben all Deiner Arbeit vielleicht ein wenig neuen Lesestoff zu schätzen würdest wissen, und da ich weiss, dass das stöbern und aussuchen stets das meiste Vergnügen bereitet, habe ich den Laden gemietet - Du kannst also so lange lesen und Dich umsehen, wie Du nur willst, bis morgen früh," sagte ich in weichem, zärtlichem Ton zu dem neben mir stehenden Manius und lächelte dann. Es war ein Geschenk, das man nicht unbedingt in Händen halten konnte, das man sich auch nicht wie ein Schmuckstück um den Hals zu legen pflegte - aber es war ein Geschenk, von dem ich wirklich hoffte, dass es ihn im tiefsten Inneren erfreuen würde.

  • Seit Wochen schlief er wieder schlecht, plagten des Nachts Albträume ihn, mehr noch seit dem Tage als er von Minervinas Tod hatte erfahren, er träumte von ihr, von Leontia, Quintus, Agrippina, dem alten Sciurus, all jenen, welche er in den Tod hatte getrieben, deren Geister ihn jagten oder ihm zürnten, längsten nicht mehr nur im Schlaf. Nicht vor Mitternacht legte er sich zu Bett und so er des Nachts aus seinen Träumen erwachte - meist schwitzend, zitternd, manches mal schreiend - so stand er oftmals bereits auf, den Schlaf zu beenden, ihm zu entfliehen, gleich wie früh am Tage es noch war, flüchtete sich in die Arbeit, welche Aedilat und Pontificat ihm ohnehin mehr einbrachten denn an einem gewöhnlichen Tage durchzuführen wäre. Es war nicht, dass er nicht müde war, doch die Furcht vor seinen Träumen hielt ihn fern des Schlafes. Als er nun zu Beginn der Nacht inmitten der Schriftschätze stand, wusste er, dass bis zum Morgen nicht mehr an Schlaf wäre zu denken, doch dass dies gleichsam erholsamer würde sein als jede in noch so tiefem Ruhen verbrachte Stunden. Ein leises Zittern erfasste Besitz von Gracchus' Körper als seinem Vetter er sich zu wandte, seinem Geliebten, auf jenen zu trat, ihn umarmte und einen Kuss auf seinen Hals hauchte, direkt unter dessen Ohr.
    "O Caius, ich liebe dich! Nicht einmal das Pergament und Papyrus all dieser Schriften zusammen könnten dazu ausreichen, zu fassen, wie sehr, ganz abgesehen davon, dass keine Worte in dieser Welt existierten, dies zu beschreiben."
    Kurz drückte er ihn an sich als wäre es das letzte, was auf der Welt ihm geblieben war, und unterdrückte eine aufsteigende Träne der Freude, ehedem er von Aquilius ließ, um den Schriftrollen sich zuzuwenden. Vorsichtig, als würde sie unter seiner Berührung zerbrechen können, hob er das Beschriftungsetikett einer ersten Pergamentrolle, schmunzelte beim Anblick des Titels.
    "Caius, Caius, wie kommst du nur dazu, solcherart Geschäfte zu kennen? Ich glaube, ich möchte gar nicht wissen, wo in deinen Nächten außerhalb der Villa du noch dich herum treibst."
    Ein weiteres Etikett wanderte durch seine Finger, ehedem er die zugehörige Schriftrolle aus dem Regal zog.
    "Bei den Pfeilen des Apollo, die genealogiai des Hekataios von Milet."
    Hastig prüfte er die Schriftrollen des gleichen Faches.
    "Allfällig sogar vollständig!"
    Mit zittrigen Händen entrollte er das Schriftstück und Gracchus' Augen leuchteten beinah vor Freude als sein Blick dem feinen Schriftschwung folgte.

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  • Die Berührung seiner Lippen ließ mich erschauern, aber mehr noch als dieser kurze Augenblick des Kusses war es der Klang seiner Stimme, die mich tief im Inneren zittern ließ, voller Freude und Wonne, dass ihm diese kleine Überraschung gefiel. Wie sehr hatte ich doch gefürchtet, es würde ihm nicht zupass kommen, oder er zu müde sein, oder zu unwillig, um sich nun noch den Segnungen der Literatur zu widmen, aber in seiner Umarmung, seinem Kuss und seinen Worten lag eine selige Erlösung, die mir diesen Tag urplötzlich von innerem Glanz erfüllt sein ließ.
    Sanft erwiederte ich die Umarmung, entließ ihn aber, damit er sich die wohlgefüllten Regale weiter ansehen konnte, ihn dabei gerührt betrachtend. "Sagen wir, ich komme ab und an ein bisschen herum," untertrieb ich gewaltig. Wenn mir in der villa das Dach auf den Kopf fiel, musste ich einfach etwas anderes sehen. Mehr erleben. Aus diesem Gefängnis aus Luxus und gutem Benehmen ausbrechen, so weit und so schnell es nur ging. Dass mich meine Streifzüge auch bisweilen in die Subura führten - natürlich nicht alleine - war dabei nicht zu vermeiden. Mein Jahr als vigintivir hatte mich gelehrt, welche Ecken ich besser zu meiden hatte und welche sich als interessant erweisen konnte.


    "Die genealogiai sind nicht der einzige Schatz dieses Ladens," bemerkte ich mit einem warmen Lächeln. Wie er sich freuen konnte, ganz ohne die Notwendigkeit zu teuren Geschenken und übertriebenem Luxus. Das war weit mehr der Manius, den ich kannte, den ich liebte, als jener, der stets und dauernd von seinen Sorgen zu Boden gedrückt wurde. Und um ihm ein paar Augenblicke der seligen Freude zu schenken, hätte ich fast alles getan.
    "Es gibt hier auch Wein und einen einfachen Imbiss - Du solltest nicht die Nacht durchlesen, ohne zwischendrin auch eine kleine Pause zu machen. Wir werden einfach so lange hier bleiben, wie es Dir gefällt - das heißt, bis morgen früh. Einziehen können wir hier leider nicht, mein Manius."
    Auch wenn es eine schöne Idee gewesen wäre, die gerade jetzt im Augenblick einen ziemlichen Reiz auf mich ausübte. Was wäre das doch für ein Leben - eine wohlgefüllte Bibliothek, genug zu Essen, um zu leben, vielleicht noch ein Bett, eine Schreibstube, ein Garten, um sich zwischendrin zu entspannen ... so würde ich mit ihm ohne Schwierigkeiten einige Wochen, Monate verbringen können, und nichts von der restlichen Welt vermissen. Vielleicht noch ein Badehaus. Und eine Latrine. Aber mehr würde es nicht brauchen, um mit ihm glücklich zu sein.

  • Still und vergnügt lächelte Gracchus in sich hinein, schwankte zwischen der Neugier, seinen Vetter ob dessen Abenteuer zu befragen, und der Neigung, jene Abenteuer besser nicht kennen zu wollen. Schlussendlich lachte er ob der Worte Aquilius' auf.
    "O Caius, geliebter Caius, was sollen mich Speis und Trank reizen, während ich all dies hier verschlingen kann, mich an Worten delektieren, all diese Sätzen goutieren, an jeder Schriftrolle einzeln verlustieren? Endlos zäh und lange sind mir bisweilen die Nächte, doch so kurz wie diese, gleich wie lange sie währen mag, so unglaublich kurz und gleichsam so wertvoll war längstens keine mehr."
    Nach kurzem Zögern, beinah ein wenig widerwillig in dem Wissen, dass er nicht jede einzelne Schrift in dieser Nacht würde lesen können, steckte Gracchus die Schriftrolle der genealogiai zurück in das Regal.
    "Mit dir einzutauchen in diese Welten, dies ist mir mehr als genug, zu versinken in ihren Lehren, in ihren Weisheiten, in ihren Abenteuern und Erkenntnissen. Lasse uns diese Welten bereisen, wie früher im Schein einer Öllampe verborgen, heimlich des Nachts. O Caius, ich möchte deine Lippen lesen wie sie diese Worte verschlingen, möchte deine Sinne erbeben sehen wie sie meine Worte verschlingen, möchte deine Stimme in mir aufnehmen, auf dass sie meinen Leib zum erzittern bringt, will dir die Worte einflüstern, auf dass deine Seele in meinem Takte schwingt. Bleibe nur bei mir, Caius, nah, ganz nah, denn wenn du auch nur zur anderen Seite des Raumes hinfort weichst, fürchte ich, zerspringen zu müssen."
    Ein wenig zittrig ob der Aufregung wandte sich Gracchus den Schriften wieder zu.
    "Womit beginnen, womit ... ?"
    Er brach ab und drehte sich erneut zu seinem Vetter, ein schelmisches Blitzen in seinen Augen.
    "O ich weiß. Verzeih' mir, Caius, verzeih' mir, es ist so profan, doch sie haben sicherlich auch den Catullus hier. Ich habe ihn immer nur für dich gelesen, Caius, selbst wenn ich ..."
    Er stockte, zögerte. Selbst, wenn er die liebenden Worte gegenüber Antonia hatte gebraucht, so hatte er stets nur immer Caius im Herzen getragen.
    "Lasse uns Catullus suchen und lesen, nur zwei, drei carmina, nur für dich, Caius, in dein Angesicht. Denn so einfach sie auch sein mögen, nichts ist je so wahr wie der Liebe Worte. Und was könnte schöner sein, um den gelungenen Beginn dieser Nacht zu perfektionieren?"
    Eine Bibliothek und seinen Vetter - was brauchte der Mensch mehr, um glücklich zu sein? Nichts, sofern es Gracchus betraf, nicht den Bruchteil eines Quäntchens.

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  • Warum nur musste die Zeit vergehen? Warum konnte die Welt nicht in diesem Moment, diesem stillen Augenblick seines ganz unspektakulären Glücks einfach stehen bleiben, sich nicht weiter drehen, um diesen Augenblick bis ins Unendliche zu dehen, auf dass ich meinem Geliebten auf ewig dabei zusehen konnte, wie er sich aus tiefstem Herzen freute? So selten sah ich ihn wirklich lachen, die Augen glänzend vor innerer Bewegtheit, und das Odeur der Trauer, der Schwermütigkeit war vergessen, wenigstens jetzt. Ich wusste, dass ich mich in den nächsten Stunden weit weniger auf die hohe Kunst des Wortes würde konzentrieren können, ich würde mit allen Sinnen jenes Bild in mich aufnehmen, das er mir bot.
    Es war nicht einmal mehr wichtig, ob wir einander körperlich nahe waren, ob wir uns miteinander vereinten, denn ich wusste, geistig, im Herzen, mit der Kraft unserer Seelen gehörten wir uns längst zur Gänze und würden dies immer tun. Diese Liebe hatte nicht einmal ein Fieber zerstören können, sie hatte überlebt, ich war zu ihm zurückgekehrt, nicht zu meinem Leben, aber zu ihm. Zu ihm würde mein Weg immer zurückführen, das wusste ích nun sicher, als ich ihn lächeln sah. War es das nicht alles wert, das Versteckspiel, die vielen Stunden, in denen man sich nicht nah sein konnte, die ewigen Lügen ... ja, das war es.


    "Diese Worte werden Dir, wann immer Du es nur willst, zur Verfügung stehen, mein teuerster Vetter," sagte ich sanft und musste wider Willens lächeln, seine Stimme schien vor lauter Aufregung gar noch zu zittern.
    "Ich kenne den Besitzer und er schuldet mir noch etwas - also wenn Dir danach sein sollte, hier ein wenig dem Alltag zu entfliehen, so lass es mich wissen und der Laden wird Dir stets offen stehen." Dass meine Intervention als durch die Straßen wandernder vigintivir samt Leibgarde aus gedungener vigiles-Eskorte dafür gesorgt hatte, dass die lokalen Schläger abends aufhörten, vor dem Laden herum zu lungern, musste Gracchus nicht unbedingt wissen, er hätte sich wahrscheinlich nur unnötig Sorgen gemacht und von denen hatte er wahrlich genug am Hals. Letztlich musste man eben nur forsch und entschlossen auftreten (und in der Überzahl sein), um den normalen Menschen seinen Standpunkt klar zu machen.


    "Der Catull .. ja ... das klingt gut." Erinnerungen fluteten zurück und ich streckte meine Hand nach ihm aus, schritt mit ihm schweigend zu dem Regal, in dem ich den Catull liegen wusste, und überließ ihm die Wahl, bevor wir zu einer kleinen Bank zturückkehrten, auf der tagsüber wohl guterzogene Damen saßen, die sich etwas Freizeitlektüre suchten und dort in die Schriftrollen hinein spickten. "Setzen wir uns doch ... liest Du mir etwas vor, Manius? Das hast Du schon sehr lange nicht mehr getan ..." Langsam ließ ich mich auf der Bank nieder, klopfte mit einer Hand auf den freien Platz neben mir und sah ihn erwartungsvoll an. Welches Gedicht er wohl wählen würde? Catulls Spektrum war durchaus breit und bot für viele Anlässe das passende ...aber ich glaubte zu ahnen, wofür er sich entscheiden würde.

  • Das Angebot war verlockend, insbesondere in der Hoffnung, Caius würde ihn ein jedes mal zur Lesung begleiten, doch Gracchus wollte nicht bereits jetzt an die Zukunft denken, zu kostbar, zu wertvoll war der Augenblick da er sich neben seinem Vetter und Geliebten auf der Bank nieder ließ. Ein unscheinbares Nicken ließ seinen Kopf kurz wippen, während er gleichsam bereits jene Zeilen suchte, welche er im Sinn hatte, denn es gab nicht viele carmina, welche hierfür in Frage kamen. Die Invektiven des Catullus mochte Gracchus nicht sonderlich, auch den Gedichten über und an dessen Freunde konnte er nur wenig abgewinnen, doch für manch anderen Begehr hatte der Dichter so einfache, doch gleichsam so eindringliche Worte gefunden, dass es Gracchus ein jedes Mal einen Schauer über den Rücken jagte, sie zu hören, sie zu lesen.
    "Lass' uns leben, Caius, leben und lieben,
    und alles Gezeter mürrischer Greise
    soll kein einziges As uns wert sein!"

    Ein subliminales Lächeln kräuselte Gracchus' Lippen, als er sich kurz Aquilius zu wandte, den nächsten Satz beinahe aus dem Gedächtnis heraus zitierte, bevor er den Blick zurück in der Schrift vergrub, sich an den feinen Linien auf dem Pergament delektierte.
    "Die Sonne, sie versinket und kehret wieder;
    Doch verlischt unser eigen, bescheidenes Licht,
    so umfängt die eine Nacht uns für immer.
    Gib mir tausende Küsse, dazu einhundert,
    dann noch einmal tausend und hunderte,
    noch tausende mehr und noch hundert.
    Sind viele tausende geteilt, so mischen wir sie
    durcheinander, dass wir die Zahl nicht wissen,
    und dass kein Missgünstiger sie uns neide,
    da er weiß, wieviel an Küssen es waren."

    Langsam ließ er die Schrift sinken, blickte zu Caius und rezitierte, changierte die Klangcouleur frei aus den Gedanken heraus.
    "Du fragst, wie viele deiner Küsse mir zur Zufriedenheit gereichen, Caius, wie viele es braucht, dass ich saturiert bin. Eine solche Zahl wie Wassertropfen das mare internum durchfließen, von den Säulen des Herakles im Westen, bis zum Staub Syrischer Prärie, hitzeglühend, im Osten, eine solche Zahl wie Sterne in dieser Nacht am Himmel auf uns heimliche Geliebte herab schauen: so viele Küsse zu küssen wäre mir, Manius, genug, der ich der Liebe verfallen, so viele, dass kein Neugieriger sie zählen, noch boshafte Zungen sie könnten berufen."
    Einen endlos langen Augenblick versank Gracchus in den Augen seines Gegenübers, dann, um so plötzlicher, erhob er sich, rollte die Schrift zusammen, trat zu dem Regal zurück und legte die Rolle an ihren vorherigen Platz.
    "Glückliche Geliebte des Catullus"
    , murmelte er vor sich hin und sondierte mit seinem Blick die Titel an weiteren Schriften.

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  • Catulls Worte würden ihn ganz sicher überdauern, in eine ferne Ewigkeit gerichtet bleiben, die uns verschlossen sein würde - denn den wenigsten Menschen war es vergönnt, etwas so ewiges zu verfassen, etwas so richtiges, reines, klares über die Liebe schreiben zu können, dass ein jeder es verstehen und nachempfinden mochte, der es las, und sei er noch so enttäuscht von allem traurigen Gefühl, das sich mit der Liebe in sein Leben hineinschlich. Höhen und Tiefen hatten mein Manius und ich wahrlich zur Genüge erlebt, vielleicht mehr Tiefen als Höhen, aber die Höhen hatten sich jedes Mal als so vielschichtig und tiefgreifend herausgestellt, dass es ausgereicht hatte, um die Tiefen zu überbrücken. Wahrscheinlich war dies jene Liebe, die Ehepaare lange miteinander leben ließ, ohne Hass zuzulassen, vielleicht war es auch jenes Ideal, das Catull hier besang - ich vermochte es nicht zu sagen, denn meine Worte würden wohl niemals gänzlich ausreichen, um dies alles zu fassen und Gracchus zu Füßen zu legen, wie ich es gern getan hätte.
    Letztendlich war ich nur ein liebender Mann, der diese Liebe so tief im Inneren trug, dass er ohne sie nicht hätte sein können, und ich hoffte oft genug, es würde Gracchus ähnlich ergehen. In solchen Momenten, in denen er mir ganz nah war, sich unser Blick traf und nichts auf dieser Welt zwischen uns stand und stehen konnte, fürchtete ich alles und gleichzeitig nichts.


    "Glücklicher Aquilius, denn der Beste aller Männer liebt ihn," sagte ich langsam und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. "Glücklicher Aquilius, denn er wird wiedergeliebt mit all der Kraft, die er schenken will, mit jedem Kuss, den er verborgen in die Richtung des Geliebten zu hauchen vermag, mit jedem Atemzug, den er seinem Geliebten in der Nacht stiehlt, wenn dieser sanft im Arme Morpheus' ruht." Ich erhob mich und ging ihm hinterher, in diesem Augenblick so sehr seiner Nähe bedürfend wie selten, weniger körperlich oder leidenschaftlich, es reichte mir, einfach seine Wärme zu spüren, zu wissen, dass er da war, seinen Atem zu hören.
    Würde sich dies alles ändern, wenn er denn einmal eine Familie sein eigen nennen konnte? Würde dies alles verblassen, wenn er nebst seiner Frau auch noch ein Kind haben würde? Ich konnte es nicht sagen, und der Gedanke daran flößte mir eine so gewaltige Furcht ein, dass ich ihn nicht berühren konnte, neben ihm stehen blieb und die Auswahl der Schriftrollen begutachtete, die vor ihm in einem der Regale geordnet lagen.
    "Manchmal wäre die Ewigkeit noch zuwenig für Dich, mein Manius, denn ich glaube fast, sie würde nicht reichen, all jene Dinge mit Dir zu teilen, die auf dieser Welt schön und wundervoll sind," sagte ich leise, sinnierend, und atmete tief ein. Wahrscheinlich hätte ich mich für ihn auch noch zum kompletten Narren gemacht, hätte es sein müssen - so war ich nur zum salbadernden Verliebten geworden.


  • [size=7]adorabel ...[/size]


    Die Worte seines Vetters schaukelten wie winzige, dahinschlängelnde Wellen auf einem Fluss, welche nach einer das Wasser aufwirbelnden Unebenheit im Lauf letztlich blieben, dem blickenden Geiste klandestin von aufgewühltem Boden, tanzend wirbelnden Partikeln und mitgerissenem Treibgut kündeten, welches längst sich wieder hatte gelegt, welche von einer anderen Zeit kündeten, nur Herzschläge im Strom des Lebens zurück und doch längst unwiederbringlich vergangen und vergessen. Das Wasser floss nicht den Tiber hinauf, niemals, und obgleich sie beide am anderen Ufer standen, so schien es Gracchus wie so oft als trenne letztlich der breite Strom des klaren Nass' sie doch unüberwindbar. Er spürte Caius hinter sich, mit aller Macht der Präsenz eines Menschen, er wusste um ihn, er fühlte ihn in sich, um ihn herum, überall, ubiquitär.
    "Was bringt die Ewigkeit, was bringen alle Schönheit, alle Wunder dieser Welt, wenn das Glück in einem Herzschlag verborgen steckt?"
    fragte er leise, drehte sich um, unschlüssig, hob langsam die Hand und tippte auf Aquilius' Brust.
    "Hier."
    Jeden Augenblick der Berührung in sich aufsaugend ließ Gracchus seine Fingerspitze über den Bauch seines Vetters hinab wandern, ehedem er den Kontakt löste.
    "Quäle dich nicht mit der Ewigkeit, Caius, quäle dich nicht mit der Welt. Weder dem einen, noch dem anderen wirst du je habhaft werden können."
    Ein feines Lächeln kräuselte seine Lippen.
    "Aber mich, mich kannst du besitzen, dein Leben lang, wirst du besitzen, mein Leben lang."
    Da er nicht die Berührung zwischen sie kommen lassen wollte, nicht den Augenblick der trauten Zweisamkeit zerstören durch das aufwallende körperliche Drängen, da er nur die Präsenz seines Geliebten wollte genießen, mit allen Sinnen in sich aufnehmen, zwang Gracchus sich dazu, nicht erneut die Hand zu heben, Caius zu berühren.

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  • Bei wenigen Menschen hatte ich eine Anziehung verspürt, die über das rein körperliche hinausging, und Gracchus war der einzige, dessen Worte allein mich zu entzünden vermochten, sei es im tiefen Herzen, sei es im Leib selbst - dass er mir all jene Dinge sagte, die ein jeder liebender Mensch wohl hören will, und immer wieder zu hören erhoffen mag, ließ mich ungleich mehr für ihn brennen, und das Verlangen, ihn mir ganz und gar zu eigen zu machen, sein Herz, seinen Leib, seine Seele, wusste ich, würde mich niemals verlassen, solange seine Wirkung auf mich so vollkommen war. Hatten wir uns nicht gegenseitig gefangen, exotische Vögel in edlen Käfigen, verdammt dazu, sich die meiste Zeit hinter diesen Gittern nur zu betrachten, nicht aber berühren zu können? Er hatte den seinen Käfig, ich den meinen, und uns beiden gehörte wenig mehr vom anderen als das Wissen um die Tiefe dessen, was uns verband. Ein jedes seiner Worte schien die Verbindung zwischen uns dichter weben zu wollen, vollendeter gestalten zu wollen, damit wir nicht vergaßen, nie vergessen würden. Wenn der Weg über den Styx einmal anstehen würde, würde ich wohl nur auf ihn warten, um gemeinsam in das Dunkle zu schreiten.


    "Wie auch ich der Deine bin, Manius, solange nur ein Funken Leben in mir steckt, und über den Tod hinaus. Wenn ich Schönes sehen will, denke ich an Dein Gesicht, wenn ich die Reinheit und Klarheit eines Intellekts bewundern will, an Deine Worte, wenn wir diskutieren, wenn ich entbrennen will, so ist es Dein Leib, den in meinen Armen ich halte. Ach Manius, mein Manius, auch wenn die Ewigkeit wir nie erreichen werden, ich werde sie mir doch stets wünschen, und mir wünschen, sie mit Dir teilen zu können." Seine Berührung hatte das Feuer durch meinen Leib schießen lassen, das er stets hervorzurufen imstande war, aber da er sich abgewandt hatte, blieb ich an Ort und Stelle, selbst wenn alles in mir nach ihm schrie. Wann hatten wir einander schon, wieviel Zeit war uns überhaupt vergönnt? Diese Welt schenkte uns wenig genug. "Besitzen will ich Dich nicht, Manius, der Gedanke daran, Dich in den Käfig meiner Begierden zu sperren, dauert mich .. frei will ich Dich sehen, und wenn Dein freier Wille es ist, der Dich zu mir trägt, so bin ich glücklich."

  • Erneut hoben sich Gracchus' Mundwinkel ein Stück mehr noch empor.
    "Nie bin ich freier als in den Momenten deiner Gegenwart, niemals mehr ich selbst."
    Im Grunde war er sich dessen bewusst, dass er sogar nur in diesen Momenten frei oder er selbst, manches mal gar beides war. Niemand sonst wurde durch solch einen Zauber umwoben, der ihn all das vergessen ließ, was von Außen in seinen Geist war gedrungen, gepresst worden, der jenes kleine Flämmchen zu einem gewaltigen Feuer konnte entfachen, welches Gracchus sonstig sorgsam tief in sich verborgen hielt. Sein Blick glitt ohne Aquilius aus den Augen zu lassen über die Schriftrollen in dem Regal neben sich, bis er schlussendlich eine weitere Rolle dort heraus zog. Lächelnd hob er sie in die Höhe und bedeutete seinem geliebten Vetter mit einem Nicken, zurück zur Bank sich zu begeben.


    Die Nacht hindurch bis zum Morgengrauen saßen sie zwischen Papyrus und Pergament, zwischen Schriftrollen und Kodices, labten sich an Wortschöpfungen und Satzkonstrukten, dem Klang ihrer Stimmen umhüllt vom Zauber der Ideen und Erkenntnisse längst vergangener Zeiten, dem Entzücken im Anblick des Anderen und den Stunden der Freiheit. Erst als bereits die ersten Strahlen der Sonne über den Rand der Welt zu blicken suchten, hüllten sie sich, trunken vor Zufriedenheit, in ihre Mäntel und schlichen zur Villa Flavia zurück.


    ~ finis ~

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