alicubi | Im Auftrag des Herrn unterwegs VII oder: Die Ankunft

  • Die Reise war lang gewesen, und vor allem für Siv beschwerlich. Sie hatte buchstäblich die gesamte Zeit, die sie unterwegs gewesen waren, auf dem Wagen verbracht, eingekeilt zwischen den ganzen Sachen, die sie mitgenommen hatten. Es war kaum genug Platz da gewesen, dass sie ihre Füße hätte ausstrecken können, und ihr einziger Trost war Idolum, der recht lustlos hinter dem Karren, an dem er angebunden war, hertrottete – den sie so aber immerhin die ganze Zeit sehen konnte. Nur wenn sie bei einem Gasthaus Halt gemacht hatten oder sie wirklich ein dringendes Bedürfnis verspürte, wurde sie von dem Eisenring losgemacht, den Matho auf der Ladefläche des Karrens hatte anbringen lassen. Und natürlich, wenn es darum irgendwelche unangenehmen Arbeiten zu verrichten – Latrinen ausheben zum Beispiel, wenn sie kein Gasthaus rechtzeitig vor der Dunkelheit erreichten und draußen übernachten mussten. Und jedes Mal war sie so versteift, dass ihr alles weh tat und sie zuerst immer nur gebückt humpeln konnte, bis sich ihre Glieder wieder einigermaßen gestreckt und an aufrechte Haltung gewöhnt hatten. Zum Schlafen selbst musste sie allerdings wieder auf den Karren. Siv hatte sich zu Beginn der Reise noch gegen diese Maßnahme gewehrt, und sie wusste, dass die anderen eigentlich auf ihrer Seite waren, aber Matho hatte nun mal das Sagen, und er hatte ihre Gegenwehr nur als zusätzliches Argument genutzt, warum er sie unter keinen Umständen losmachen durfte. Natürlich hatte er die Maßnahmen auch nicht gelockert, als sie ihren Widerstand nach und nach aufgegeben hatte. Darüber hinaus hatte sie nur das allernötigste zum Essen bekommen – nur Wasser bekam sie nach einer im wahrsten Sinne des Wortes Durststrecke zu Beginn der Reise genug. Matho wusste sehr genau, dass er sie halbwegs gesund und bei Kräften in Rom abliefern musste, wollte er nicht Gefahr laufen, dass er unter Beschuss geriet. Aber es gab noch andere Methoden, seine Machtstellung zu unterstreichen – eine weitere davon war, dass Siv und die anderen nur selten miteinander reden durften. Woran sie sich zuerst nicht wirklich gehalten hatten, bis Matho mit kleineren Strafaktionen für die anderen – zum Beispiel eine Zeitlang hinter dem Karren herlaufen müssen anstatt zu reiten – deutlich gemacht hatte, dass es ihm ernst war. Und Siv hatte niemanden in Schwierigkeiten bringen wollen, also hatten sie die Gespräche schon bald auf die Momente beschränkt, in denen sie sich einigermaßen sicher sein konnten.


    So war Siv, als sie vor der Villa Aurelia ankamen, zwar, diesmal deutlich, schmaler geworden, und sie wirkte müde – im Grunde befand sie sich tatsächlich in einem Zustand dauerhafter Erschöpfung, sowohl körperlich als auch geistig, den je wieder loszuwerden sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte. Und nun waren sie da, endlich. Die ganze Reise über hatte sie sich Gedanken gemacht, hatte geschwankt, hatte Bilder im Kopf gehabt von diesem Moment, und die Szenen reichten von absolutem Verständnis für sie bis hin zum sofortigen Verkauf an den nächstbesten, oder eher nächstschlechtesten, Sklaventreiber. Sivs Magen zog sich zusammen, jetzt, wo der Moment des Wiedersehens so unmittelbar bevorstand. Ihre Finger schlossen sich um den Löwen, den sie in seinem Arbeitszimmer entdeckt hatte. Irgendwie war der Briefbeschwerer wieder bei den Sachen gelandet, die irgendwo herumstanden und nicht mitgenommen werden würden, aber Siv hatte das Bedürfnis gehabt, ihn mitzunehmen, also hatte sie ihn kurzerhand eingesteckt. Darüber hatte sie auch gegrübelt. Was Corvinus tatsächlich für sie bedeutete. Ob sie sich wirklich in ihn verliebt hatte, ob sie ihn liebte – und wenn ja, was eigentlich, wenn sie wirklich ehrlich zu sich war, keiner Überlegung mehr bedurfte, was es bedeutete. Was sie tun sollte. Ob sie es ihm sagen sollte. Wie sie damit umgehen sollte. Sie wusste es einfach nicht, zu verwirrend war nach wie vor allein die Tatsache, dass sie, ausgerechnet sie!, schließlich doch Liebe empfand, obwohl sie das immer als abwegig abgetan hatte. Und dann das Gefühl selbst… manchmal war es einfach und so klar, dass es keine Rolle spielte, was ihr alles an Problemen bevorstand – alles, was sie wollte, war für ihn da zu sein. Und dann wieder war es so verwirrend, und es tat weh, schon allein die Vorstellung, dass er nicht verstehen würde, die in ihren Augen so abwegig nicht war. Und sie würde das Geständnis nicht hinauszögern können, denn so wie sie aussah, allein schon die Tatsache, dass sie nicht auf Idolum saß, würde Corvinus zeigen, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie wollte es gar nicht hinauszögern, aber sie sehnte sich nach einem freundlichen Wort, einem liebevollen Blick von ihm, bevor sie ihm erzählte, was passiert war. Nur kurz… Irgendwo zwischen banger Erwartung und vager Hoffnung wartete sie, bis Matho sie von der Fessel gelöst hatte, bevor sie sich steif erhob, von dem Karren hinunter kletterte und versuchte, wieder gelenkig zu werden – während sie gleichzeitig die ganze Zeit nach Corvinus Ausschau hielt.

  • Als mich die Kunde von der Ankunft der Germanenreisenden durch einen euphorisch gelaunten Brix erreichte, saß ich gerade im Arbeitszimmer. Ich schickte ihn wieder hinaus und legte die Tafel beiseite, der ich mich eben noch gewidmet hatte, dann zog ich Mathos Brief heran. Nun war es also soweit. Es sollte sich dieses Unterfangen als komplizierter herausstellen als ich bisherig vermutete. Ich hörte bereits Schritte im atrium hin und her gehen, saß aber immer noch hinter meinem Schreibtisch und drehte den Brief in den Händen. Allerdings konnte ich nicht ewig hier sitzen bleiben, um so der Konfrontation aus dem Weg zu gehen, auch wenn ich das am liebsten getan hätte. So stand ich schließlich auf, steuerte die Tür an und öffnete sie kurz darauf, um hinaus zu gehen.


    Ein kleiner Tumult empfing mich. So gut wie alle aurelischen Sklaven hatten sich versammelt, plapperten oder trugen irgendwelche Dinge herum, scherzten und lachten. Automatisch suchte mein Blick den hellblonden Haarschopf, fand ihn auch bald, doch ich zwang mich wegzusehen. Fhionn lief mir über den Weg, dicht gefolgt von Hektor, und ich nickte beiden mit flüchtigem Lächeln zu und murmelte „Schön, dass ihr wieder da seid.“. Nun suchte ich nach Matho, der im Gewimmel stand und ein paar Worte mit Brix wechselte. Ich ging zu ihm. “Matho. Ich möchte dich sprechen”, teilte ich ihm recht knapp mit und deutete auf die Tür zu meinem officium. Der maiordomus nickte bestätigend, entschuldigte sich bei Brix und ließ ihn dann stehen. Ich hatte mich bereits wieder umgewandt und ging zurück in den Arbeitsraum, mit versteinerter Miene und ohne noch jemanden näher anzusehen. Matho in meinem Rücken suchte indes Sivs Blick, grinste sie hämisch an und verschwand dann ebenfalls in meinem Raum. Hinter sich schloss er die Tür.

  • Matho hatte sich Zeit gelassen, und als Sivs Fesseln endlich gelöst waren, waren schon die meisten der aurelischen Sklaven hinausgelaufen und hatten sie empfangen. Sie rieb sich das Handgelenk und verzog das Gesicht, als ihr Rücken und ihre Knie protestierten, kaum dass sie sie gestreckt hatte. Ihr Blick huschte über die Menschen, aber Corvinus konnte sie noch nicht entdecken, und so blieb sie für einen Moment etwas ratlos neben dem Karren stehen – bevor sie dann mit den anderen begann, die Sachen ins Atrium zu bringen. Jedes Mal, wenn sie begrüßt wurde, zwang sie sich zu einem Lächeln und ignorierte die seltsamen Blicke genauso wie die Fragen wegen ihres Aussehens, aber die Nervosität wurde mit jedem Augenblick größer, in dem Corvinus auf sich warten ließ. Es fiel ihr immer schwerer, sich selbst zu beherrschen, und als Brix sie lachend auf Germanisch begrüßte, musste sie sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschnauzen.


    Als Corvinus schließlich das Atrium betrat, fiel es Siv zunächst gar nicht auf, weil sie gerade eines der letzten Gepäckstücke hineinbrachte und bei den anderen verstaute. Erst als sie sich herumdrehte, bemerkte sie ihn, und für einen Moment erstarrte sie. Sogar den Atem hielt sie an, und ihr Kopf war wie leergefegt. Sie folgte ihm mit ihren Blicken, wie er durch die Menge ging, wie er Fhionn und Hektor zu begrüßen schien, aber sie schien er nicht zu sehen. Stattdessen ging er schnurstracks auf Matho zu, und kaum einen Moment später drehte er sich wieder um, wieder ohne einen Blick in ihre Richtung zu werfen. Matho dagegen sah zu ihr und grinste sie auf diese bestimmte Art an, die sie vor allem in den letzten Wochen so gut kennen gelernt hatte, um dann Corvinus zu folgen. Erst in diesem Moment erwachte Siv aus ihrer Starre und setzte den beiden hinterher. "Wartet! Hey! Wartet! Warte!" Sie wich Alexandros aus und Dhina, schlängelte sich durch die Menge, sprang über eine Kiste, und vielleicht hätte sie die zwei noch rechtzeitig erwischt, wenn Sofia ihr nicht im Weg gewesen wäre. Die beiden prallten zusammen, stolperten, Soffchen hielt sich an Siv fest, und dann landeten beide auf dem Boden. Ohne auf die Griechin zu achten, sprang Siv wieder hoch und hetzte weiter, aber in diesem Moment schloss sich bereits die Tür hinter Matho. Und die Germanin blieb abrupt stehen.


    Wieder wurde ihr Kopf leer. Was sollte sie jetzt tun? Sie war überzeugt davon, wenn es überhaupt eine Chance gab, dass Corvinus verstand, wirklich verstand, was passiert war, dann wenn sie zuerst mit ihm sprach. Sie hatte gewusst, dass Matho das nicht gepasst hatte, aber sie hatte gedacht, er würde Ursus’ Wort respektieren, und der war deutlich gewesen. Ihre Hand glitt in die Tasche und krampfte sich um den Brief, zerknitterte ihn, während in ihrem Kopf die Gedanken zu rasen begannen. Warum hatte Corvinus Matho sofort mitgenommen? War irgendetwas passiert, hier? Und warum hatte er sie keines Blickes gewürdigt? Hatte er das bewusst getan? Sie wusste es nicht, und sie konnte auch nicht wirklich einen klaren Gedanken fassen, aber sie wusste, dass es mit jedem Augenblick, den Matho alleine Zeit hatte, mit Corvinus zu reden, schwieriger wurde für sie. Wie um alles in der Welt war es Matho überhaupt gelungen, doch die Oberhand zu behalten? An diesem Punkt angelangt, nur wenige Augenblicke nachdem sie stehen geblieben war, begann Sivs Temperament wieder zu brodeln, und ohne weiter nachzudenken legte sie die letzten Schritte zurück und riss die Tür auf, die sich kurz zuvor geschlossen hatte.

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    Eigentlich hatte sie nur schnell Dina helfen wollen, der etwas hingefallen war, aber da war ihr Siv in die Quere gekommen und hatte sie zu Boden gerissen. Statt sich anständig zu entschuldigen, rappelte sich die Germanin sich wortlos wieder auf und lief zu der Tür, hinter der eben der Hausherr mit Matho verschwunden war. Sofia setzte einen eindeutig missbilligenden Blick auf, schürzte die Lippen und hievte sich selbst wieder auf die Beine, nur um danach mit in die Hüften gestemmten Armen und einer unheilvollen Miene zu Siv zu marschieren und sie böse anzufunkeln. "Hast du jetzt etwa auch keinen Anstand mehr? Erst wirst du zur Belohnung nach Hause geschickt, dann haust du undankbar ab und jetzt sagst du nicht mal Entschuldigung, wenn du hier jemanden über den Haufen rennst! Pah!" Und damit wandte sich Sofia um und stolzierte von dannen, nicht ohne sich den schmerzenden Musikandenknochen zu reiben. Dass die Tür derweil aufgestanden hatte, war ihr herzlich egal gewesen, ebenso wie Sivs unfassbare Miene.



    Matho hatte inzwischen Platz genommen, ich stand mit vor der Brust verschwänkten Armen schräg vor dem Regal in meinem Arbeitszimmer und lauschte mit gerunzelter Stirn den Worten des maiordomus. "...ich schon schrieb, dominus. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist. Dein Neffe hat sie in Begleitung zweier Soldaten zur villa gebracht, und dann..." sagte jener gerade, als mit einem mal die Tür aufgerissen wurde und Siv auf der Schwelle stand. Ich sah ihr mit einer Mischung aus Überraschung, Ärger und Enttäuschung entgegen, bis sich Sofia in die Tür schob und Sivs Aufmerksamkeit verlangte. Kaum war sie fort, blickte ich Siv wieder an. "Schließ die Tür, Matho", wies ich den maiordomus an, ohne dabei den Augenkontakt zu Siv zu unterbrechen. Und Matho erhob sich und strebte zur Tür, wo er Siv mit Genugtuung ansah und ganz allmählich das Holz wieder in die Türöffnung zurückschob...

  • Siv riss die Tür auf, und die Worte, die sie aufschnappte, rauschten so an ihr vorbei, dass sie zuerst gar nicht realisierte, was Matho da genau gesagt hatte. Zu gefangen war sie von Corvinus’ Blick, der den ihren festzuhalten schien und nichts von dem widerspiegelte, was sie sich erhofft hatte, wenigstens für den ersten Moment des Wiedersehens. Keine Freude, nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. Nicht einmal die Andeutung einer Frage. Stattdessen nur Ärger und das, was sie so gefürchtet hatte – Enttäuschung. Und der Maiordomus war gerade munter dabei zu erzählen, was passiert war, aus seiner Sicht, obwohl er sich nie die Mühe gemacht hatte, mit ihr zu reden, aber bevor sie etwas sagen – oder die wahre Bedeutung dessen, was Matho gerade erzählte, realisieren – konnte, kam Sofia heran und schnauzte sie unwillig an. Siv starrte sie für einen Moment an, sprachlos, verwirrt, nicht weil die Griechin überhaupt etwas sagte, sondern weil sie in diesem Moment gar nicht damit gerechnet hatte, und so durcheinander, dass sie gar nicht mehr wusste, wie sie reagieren sollte. Und sie kam auch gar nicht dazu, wieder ihre Gedanken einigermaßen zu sammeln, denn bei Sofias Worten traute sie ihren Ohren nicht. Haust du undankbar ab… Woher wusste Sofia das? Sie waren gerade erst angekommen, keiner hatte einen Ton gesagt, keiner hätte einen Ton gesagt, Fhionn nicht und Hektor, und Merit schon gleich gar nicht, außer Matho, und der war doch… Wie ein Schlag traf es Siv, als sie jetzt, endlich, begriff, was der Maiordomus zu Corvinus gesagt hatte. Schrieb. Schreiben. Er hatte Corvinus geschrieben.


    Fassungslos drehte sie ihren Kopf wieder zu den beiden Männern im Zimmer. Corvinus sah sie unverwandt an, während er Matho die Anweisung gab, die Tür wieder zu schließen – die dieser unverzüglich befolgte, dieses Mal mit einem noch hämischeren Grinsen. Die Germanin stand unterdessen für einen Augenblick da und rührte sich gar nicht. Matho hatte geschrieben. Hatte Corvinus geschrieben, was sie getan hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie die einzige Chance zerbrechen, die sie gehabt hatte. Matho war ihr nicht nur zuvorgekommen, er war ihr um Wochen zuvorgekommen – und Corvinus hatte Zeit genug gehabt, sich eine Meinung zu bilden über sie. Zeit genug, sich eine Strafe zu überlegen. Zeit genug, um ihre Seite vielleicht gar nicht mehr hören zu wollen. Immerhin war sie ja nur eine Sklavin, eine, die sein Vertrauen missbraucht hatte. Siv starrte Corvinus an, hörte innerlich wieder, was er über Merit gesagt hatte, und auf ihrem Gesicht wechselten sich die unterschiedlichsten Emotionen ab – Schmerz, Trotz, Angst und Wut, alles bunt durcheinander. Dann wurde ihr Blick abgelenkt von der Tür, die sich zu bewegen begann, und blieb schließlich an Matho hängen, der ihr nach wie vor entgegen grinste. Und Siv sah rot. Matho war schuld – nicht daran, dass sie geflohen war und was es für Konsequenzen haben würde, das hatte sie sich selbst zuzuschreiben und sie stand auch dazu, aber Matho war schuld, dass Corvinus ihr keine Chance geben würde. Das einzige, was sie gewollt hatte, wofür sie auch weitere Wochen im Keller in Kauf nehmen würde, hatte er geschafft, ihr zu nehmen. Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf den Maiordomus und versetzte ihm mit ihrer Rechten einen Haken, der seinen Kopf zur Seite fliegen ließ. "Du Mistkerl! Hel soll dich holen, die Thursen sollen dich mit Geschwüren übersäen, du verdammter Drecksack! Ursus hat mir versprochen, dass ich es ihm erzählen kann, ich wollte es ihm sagen, ich wollte es erklären, ich hätte es gekonnt…" Bevor er sich fassen konnte, war sie bei ihm und versetzte ihm einen Tritt mit dem Fuß, während sie weiter auf ihn einschrie und ihn mit den derbsten Beleidigungen überschüttete. Dass sie inzwischen die Aufmerksamkeit der Sklaven draußen im Atrium erregten und mehrere zu ihnen kamen, entging ihr komplett. Sie konzentrierte sich nur auf Matho, der ihr in diesem Moment als Ursache allen Übels erschien. Dieser begann sich zu wehren, aber obwohl er größer und stärker war als sie, hatte sie doch das Element der Überraschung auf ihrer Seite, und die Wut – und die Angst vor Corvinus’ Reaktion – setzte ungeahnte Kräfte in ihr frei, und Matho stolperte rückwärts und verlor den Halt, und Siv setzte ihm erneut nach.

  • Ich mochte meinen Augen nicht trauen. Matho hatte die Tür beinahe geschlossen, da wurde sie ihm einfach aus der Hand geprellt und krachte unschön in den Putz der Wand, wo der Knauf einen kahlen Abdruck hinterließ. Viel Zeit, mich darüber aufzuregen, blieb mir indes nicht, denn das Spektakel ging in eine zweite Runde. Sivs nun wieder sichtbarer Gesichtsausdruck hatte inzwischen eine schwer deutbare Form angenommen, und die Farbe ihres Gesichts war eine Mischung aus käseweis und Zornesröte. Im nächsten Moment war ein heftiger Schlag zu hören. Mathos geräuschmalerische Reaktion darauf ging in Sivs Wutschrei unter, und als die Germanin ihm nachsetzte und bereits die ersten erschrockenen, teils auch einfach nur neugierigen Gesichter in der Tür erschienen, brüllte Siv ihre Flüche herum, von denen ich weniger als die Hälfte verstand. Mit dem Eintreffen der Nachricht hatte ich auch aufgehört, mir die Wörterlisten anzuschauen, die Siv mir vor der Abreise hinterlassen hatte.


    Matho hielt sich inzwischen irritiert an der Türkante fest und schien derart perplex zu sein, dass er Siv nichts entgegenzusetzen hatte. Diese jedoch holte aus und trat nach dem maiordomus, dabei nicht an Beschimpfungen und übelsten Flüchen sparend. Matho, der sich inzwischen sein heiligstes Heiligtum hielt, machte gar keine Anstalten mehr, sich zu wehren, sondern taumelte schmerzverzerrt zurück und griff mit einer Hand nach meinem Schreibtisch. Keine zehn Sekunden waren bisher vergangen, seitdem Siv die Tür aufgestoßen hatte. Gerade glitt Matho stöhnend zu Boden und riss dabei ein Tintenfass mit sich zu Boden. Ich machte einen Schritt nach vorn, löste die Arme aus ihrer Verschränkung vor der Brust und donnerte "Siv", sie scharf ansehend. Sie reagierte nicht sofort. Es brauchte seinen Moment, bis sie mich ansah, und sie würde eine Enttäuschung in meinem Blick erkennen, die bisherig nur schwerlich daraus zu lesen gewesen war. "Geh mir aus den Augen", sagte ich kühl und deutete mit dem Kinn hinaus aus dem Raum, in dem sie sich erdreistet hatte, meinen Hausverwalter anzugreifen. Matho atmete schwer, sein Gesicht war immer noch schmerzverzerrt, doch er war klug genug, seinerseits meine Nerven nicht weiter zu strapazieren, indem er Siv Schimpfwörter an den Kopf warf. Die Beobachter verzogen sich diskret und schnell. Mit anprangerndem Blick wartete ich, dass Siv verschwand. Ich mochte sie nicht mehr sehen.

  • Siv war außer sich. Einen derartigen Wutanfall hatte sie nicht mehr gehabt, seit sie verheiratet worden war. Der Schmerz über die Enttäuschung in Corvinus’ Gesicht, die Wut auf Matho, die Entbehrung und Erschöpfung der letzten Wochen, die Angst und Nervosität, die sie jeden Tag mal mehr, mal weniger stark empfunden hatte, die aber letztlich immer stärker geworden war, das alles wurde einfach zu viel für sie in diesem Moment, überschwemmten sie, rissen ihr klares Bewusstsein einfach mit sich. Sie schrie weiter auf ihn ein, setzte ihm erneut nach, griff nach dem Ausschnitt seiner Tunika und versuchte ihn wieder hoch zu zerren – selbst in diesem Zustand schlug sie nicht auf jemanden ein, der am Boden lag –, und das Tintenfass, das Matho mit sich gerissen hatte, ergoss seinen Inhalt über ihre Arme und ihre Tunika. Irgendjemand brüllte ihren Namen, aber sie reagierte gar nicht darauf, sah immer noch nur Matho – bis sie nach einem Schreckmoment realisierte, dass sie die Stimme kannte. Wozu es sonst vermutlich zwei der anderen Sklaven gebraucht hätte, die sie hätten zurückreißen müssen, schaffte allein der Klang dieser Stimme, als Siv sie erkannte.


    Sie ließ von Matho ab und sah hoch, und der Ausdruck auf Corvinus’ Gesicht war von einer Art, die sie unwillkürlich einen Schritt zurückgehen ließ. Während sie langsam begriff, was gerade passiert war, erwiderte sie unverwandt seinen Blick, in dem die Enttäuschung mit jedem Augenblick nur größer zu werden schien – es fehlte nicht viel, und sie hätte sich gewunden darunter wie ein Hund, der von seinem Herrchen geschimpft wird. Siv hatte sich unter Kontrolle, aber der Schmerz in ihr gewann in diesem Augenblick die Oberhand. Corvinus wirkte so enttäuscht. So unnahbar. Zugleich schien er etwas von Endgültigkeit auszustrahlen, zumindest kam es Siv so vor. Und seine Worte schienen das nur zu bestätigen. Sie sollte gehen. Er wollte sie nicht sehen, wollte nicht hören, was sie zu sagen hatte, wollte nichts von ihr wissen. Der Ausdruck in ihren Augen bekam etwas Flehendes. "Corvinus…" Es kam selten vor, dass sie ihn direkt ansprach, wesentlich seltener, als die anderen Sklaven es taten – normalerweise umging sie es immer, wenn irgend möglich, nannte ihn weder beim Namen noch Herr. Dieses Mal war einer dieser seltenen Momente. "Corvinus, bitte. Nicht schecke weg mich. Ich will erklären, ich kann… kann sagen, was gesein, will sagen, was gesein. Bitte…"

  • Wie sie so dastand, tintenbesudelt und mit diesem zerknirschten Ausdruck auf dem Gesicht, tat sie mir beinahe schon wieder leid. Doch ich rief mir mit allem Nachdruck die Enttäuschung ins Bewusstsein zurück, und die Tat, welche sie begangen hatte, ohne nachzudenken. Den Vertrauensbruch, der damit einher ging. Und meine Miene blieb starr, weil ich - wie die meisten Patrizier - schlichtweg gelernt hatte, emotionslose Masken zu tragen, wenn es notwendig war. Auch, wenn ich diese Übung niemals bis zur Perfektion gemeistert hatte.


    Etwas in ihrem Blick wandelte sich. Die rasende Glut darin erlosch und etwas anderes flackerte auf. Ich möchte den neuen Ausdruck nicht. Er erschien so drängend, flehend. Bettelnd. Und er passte nicht zu Siv, das war eindeutig. Automatisch runzelte sich meine Stirn, als ich an die Träume dachte, die mich heimgesucht hatten, besonders an den letzten, in dem Siv mich gebeten hatte, sie nicht allein zu lassen. Aber hatte sie nicht genau das selbst verschuldet? Mit harscher Miene taxierte ich sie, als sie zu sprechen begann. Und dann sprudelte alles aus ihr heraus, doch ich unterbrach sie mitten in ihrem Erklärungsversuch, indem ich die Augen schloss, den Kopf ein wenig abwandte und Einhalt gebietend die Hand hob. Erst als Siv verstummte, sah ich sie wieder an. "Ich will nichts hören. Nicht ein Wort, Siv. Ich habe dir vertraut, und du hast dieses Vertrauen mit Füßen getreten. Das ist also dein Dank", sagte ich ruhig, nachdem ich die Hand wieder hatte sinken lassen. "Ohne Mathos Einsatz wüsste ich nicht einmal von deinem Vergehen. Du solltest ihm dankbar sein, dass ich genug Zeit zum Nachdenken hatte, ehe ihr hier ankamt. Und nun geh, bis ich mir überlegt habe, was ich mit dir machen werde. Verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen."

  • Siv kam nicht dazu, mehr zu sagen. Corvinus wandte sich ab von ihr, und im selben Moment verstummte sie, noch bevor er seine Hand hob, um ihr das Wort abzuschneiden. Sie musterte ihn, seinen harten Gesichtsausdruck, suchte nach irgendeinem Zeichen darin, das ihr hätte Hoffnung geben können, aber sie fand nichts, war sie sich doch viel zu sicher, dass sie nichts finden würde, nicht nachdem Corvinus von jemand anderem erfahren hatte, was passiert war. Als er erneut das Wort ergriff, biss sie die Zähne zusammen. Für einen Augenblick flackerte der Schmerz deutlich auf, auf ihrem Gesicht, in ihren Augen, aber schon im nächsten Moment bemühte sie sich, ihn zu unterdrücken, in sich zu verschließen. Wirklich gelingen wollte es ihr nicht, aber sie kämpfte darum, sich nicht noch mehr gehen zu lassen als ohnehin schon. Das hatte sie bereits viel zu sehr. Auch wenn sie Matho nicht ansah, war ihr doch nur zu bewusst, dass er nach wie vor auf dem Boden kauerte. Sie wusste nicht, ob sie ihn derart schlimm getroffen hatte, aber das war auch egal. Sie hatte die Beherrschung verloren, auf eine Art, von der sie eigentlich gedacht hatte, dass sie sie abgelegt hatte. Und sie hatte viel zu viel von sich gezeigt, von dem, wie sie sich wirklich fühlte.


    Sie starrte Corvinus an, während er Worte sprach, die für sich schon wie ein Urteil für sie klangen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, weil allein sein Tonfall sie so viel mehr traf, als es eine tatsächliche Strafe gekonnt hätte. Er wollte nichts mehr von ihr wissen, und in diesem Augenblick war sie überzeugt davon, dass sich das nicht mehr ändern würde, auch wenn er sich entschieden hatte, was er mit ihr machen würde. Für einen Moment stand sie noch da, hilflos, versuchte verzweifelt etwas zu finden, was sie tun oder sagen könnte, um das Blatt noch einmal zu wenden, aber ihr wollte nichts einfallen. Und auf einmal fühlte sie sich müde, unendlich müde. Sie hätte ihm sagen können, dass sie von Anfang an vorgehabt hatte, ehrlich zu sein, ihm davon zu erzählen, hätte ihm sagen können, dass Ursus ihr das bewusst gewährt hatte. Aber Corvinus war deutlich gewesen, und sie kannte ihn inzwischen gut genug um zu wissen, dass jedes weitere Wort vergebens gewesen wäre. Und so gern sie ihn angebettelt hätte, ihr wenigstens zuzuhören, war da doch immer noch ihr Stolz, der sich langsam, in einer reinen Schutzreaktion, wieder meldete. Sie nickte abgehackt und wich seinem Blick dann aus. Noch einen weiteren Moment blieb sie stehen, dann zog sie, immer noch seltsam steif, Ursus’ Brief aus der Tasche, den sie zuvor aus Versehen schon etwas zerknittert hatte und der noch mehr in Mitleidenschaft gezogen worden war, als sie auf Matho losgegangen war. Sie starrte das Pergament kurz an, dann trat sie zu dem Schreibtisch, zu Corvinus, reichte ihm den Brief, und tatsächlich, nach einem winzigen Augenblick nahm er ihn – nur um ihn in den Abfallkorb neben sich fallen zu lassen. Als Siv das sah, konnte sie ein Zusammenzucken nicht mehr verhindern. Mühsam, fast wie eine Ertrinkende, sog sie Luft in die Lungen, während in ihrem Brustkorb tausende von kleinen Spinnen herum zu krabbeln schien. Sie starrte den halb zerknäulten Brief an, der in dem Korb gelandet war, dann biss sie sich auf die Unterlippe, und ohne ein weiteres Wort, ohne Corvinus noch einmal anzusehen, drehte sie sich um und verschwand endgültig aus dem Officium.

  • Betont ausdruckslos wartete ich darauf, dass Siv sich umwandte und verschwand. Die Augenblicke zogen sich schier endlos in die Länge, tropften träge wie Wachs auf ein Pergament. Ich missbilligte zutiefst, dass sie Matho angegangen war, doch noch ungeheuerlicher war der Fluchtversuch, den sie sich geleistet hatte. Und ich hatte ihr vertraut. Hatte sie belohnen wollen, indem ich ihr gestattete, mit den anderen in ihre Heimat zu reisen. Nie hätte ich vermutet, dass ausgerechnet Siv sich als schwach und verräterisch entpuppen würde. Jedem anderen hätte ich es eher zugetraut, doch ihr? Umso größer war die Enttäuschung, dass sie das faule Glied in der Kette gewesen war.


    Innerlich aufgewühlt und erzürnt, ließ ich mir äußerlich nichts anmerken. Bei ihrer Bewegung fokussierte ich den Blick auf den Brief in ihren Händen, den sie mir nun entgegenhielt. Ich nahm ihn auch, ließ ihn jedoch mit der gleichen Bewegung in den Papierkorb fallen, ohne den Blick von ihren Augen abzuwenden. Ich wollte nicht wissen, was sie dort aufgeschrieben hatte, es war mir egal. Das sagte ich mir recht erfolgreich, zumindest für den Moment. Einen kurzen Moment später wandte sie sich ab und verließ mein Arbeitszimmer, ohne mich noch einmal anzusehen. Sie war bereits einen Moment fort, als ich tief seufzte und mich umwandte, ehe ich erneut Platz nahm. "Steh auf", fuhr ich Matho an, der sich daraufhin leicht ächzend erhob und mich mit einer Mischung aus Neugier und Erwartung musterte. Er hielt sich nicht einmal mehr die Stellen, die Siv getroffen hatte, wie ich nebenbei bemerkte. "Sie wird ab sofort niedere Dienste tun. Lass sie die Latrinen reinigen, in der Küche helfen, Wasser schleppen - es ist mir gleich. Sie wird das Haus nicht ohne Begleitung von mindestens zwei anderen verlassen. Die Stallungen sind tabu für sie, und den Garten wird sie nurmehr mit Aufsicht betreten. Ich wünsche, dass diese Regelungen eingehalten werden und jedem bekannt sind. Und jetzt lass mich allein", ranzte ich. Matho nickte nur knapp, dann verließ auch er das officium. Er freute sich schon darauf, jedem von diesen Neuigkeiten zu erzählen. Ich selbst indes konnte mich nicht genug tadeln dafür, dass ich ihr mein Vertrauen geschenkt hatte.



    ~ finis ~

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