Als sie sie erreichte, wirkte Fhionn noch für Momente so unberührt, distanziert, kühl. So als ob sie gar nicht wirklich wüsste, was passiert war – oder als ob es sie einfach nicht interessierte. Dann sah sie auf einmal an sich herab, und im nächsten Augenblick konnte Siv regelrecht sehen, wie sich Entsetzen wie ein Schatten über ihr Gesicht legte. Ohne sich zu wehren, fast schon willenlos, so schien es der Germanin, beugte sich Fhionn dem sanften Druck, den Siv auf sie ausübte, und kam mit zu Corvinus’ Officium. Je weiter sie kamen, desto mehr schien die Keltin zu begreifen, was passiert war, was sie getan hatte, und als sie schließlich vor der Tür ankamen, zitterte die Sklavin neben ihr wie Espenlaub. Siv hatte inzwischen einen Arm um sie gelegt, um sie zu stützen. Je mehr sie spürte, dass Fhionn ihre Beherrschung abhanden kam, desto mehr gewann sie die ihre zurück. Das war schon immer ihre Stärke gewesen – wenn andere die Fassung verloren, fiel es ihr leichter, die eigene zu wahren. Egal wie schlecht es ihr ging, wenn sie spürte – gerade dann, wenn es unbewusst war –, dass es anderen um sie herum ebenfalls schlecht ging, fand sie irgendwo in sich die Kraft, die eigene Schwäche zu bekämpfen, sich wieder aufzurichten, souverän zu handeln und zu sein.
Ihre Frage beantwortete Fhionn, aber nur die ersten Worte verstand die Germanin, dann wechselte die andere in ihre Muttersprache. Aber die Worte zu verstehen war auch nicht nötig. Ihr Tonfall sagte Siv genug. Irgendwo in ihrem Hinterkopf begannen Selbstvorwürfe, Gestalt anzunehmen, machten auf sich aufmerksam und versuchten in den Vordergrund zu drängen, aber Siv hielt sie im Schach. Jetzt war keine Zeit dafür, jetzt musste sie für Fhionn da sein – sie hatte lange genug nichts gemerkt, weggesehen, sich mit sich selbst beschäftigt. "Ssschschsch…", murmelte sie und strich der Keltin über die Schultern. Mit der anderen Hand öffnete sie die Tür, und sachte geleitete sie Fhionn in das großzügig bemessene und eingerichtete Zimmer hinein. Sie führte sie bis zum Schreibtisch, wo ein paar Korbstühle standen, und hielt dort inne, aber bevor sie etwas sagen oder tun konnte, hatte Fhionn schon ihre Hand gepackt. Siv legte ihre Hand auf die der Keltin, und ein trauriger, aber bestätigender Ausdruck huschte über ihre Züge. "Ja, Fhionn. Ich bleibe." Mehr nicht. Aber wie zuvor bei Fhionn war mehr auch nicht nötig – ihr Tonfall sagte genug. Sanft löste sie Fhionns Finger und drückte die Keltin dann in einen der Stühle. Anschließend holte sie einen Wasserkrug, der auf einem kleinen Seitentisch stand, und ließ sich vor Fhionn in die Hocke sinken. In Ermangelung einer Alternative riss sie – wie könnte es anders sein – ein Stück aus dem Saum ihrer Tunika heraus, das sauber war und tunkte es in das Wasser, dann begann sie, wenigstens Fhionns Haut von Mathos Blut zu reinigen. Zuerst tupfte sie ihr Gesicht ab, das einige Blutspritzer abbekommen hatte, dann widmete sie sich den Armen, strich mit sanften, aber dennoch festen Bewegungen darüber und entfernte das Blut, so gut es ging. Es brauchte bewusste Anstrengung ihrerseits, nicht schon wieder an die Tat zu denken, an das Messer, dass sich in Mathos Brust gesenkt hatte, wieder und wieder… aber es gelang ihr. Ein bewusster Blick auf das Gesicht der Keltin, in ihre Augen, und jeder Gedanke, der das Entsetzen in Siv wieder hätte erstarken lassen, trat in den Hintergrund. Sie sagte nichts weiter. Wenn Fhionn reden wollte, würde sie zuhören, und sie würde antworten – aber aus ihrer Sicht gab es nichts, was sie von sich aus hätte sagen können. Sie konnte nur da sein.