Es scheuert.
„Wenn es scheuert ist es nicht fest genug gebunden.“
Klar, bind’s fester und schnür‘ dir flott das Blut ab.
„Es ist nicht optimal. Grauenhaft.“
Inmitten der frühlingshaften Kolossstadt Rom herrschte eine kleine, aber ordentlich abgegrenzte Blase grauenhafter Inoptimalität. Für die Allgemeinheit ebenso unsichtbar, wie die Allgemeinheit in diesem Augenblick unsichtbar innerhalb der Grenzen dieser Blase war. In jener abgesicherten Zone prüfte die Alleinherrscherin mit nach außen hin wie gewohnt nicht klar zu deutenden Gesichtszügen den Sitz ihrer aus Eigenproduktion stammenden Fußgelenkgewichte, bestehend aus einer erlesenen Auswahl flussströmungsgeglätteter Buntkiesel, mehrerer Lagen unterschiedlicher Stoffe und fixiert mit dünnen Lederbändern. Ihren gewichtigen Gegenpart fanden diese Konstruktionen an den Handgelenken und an genau diesem auf den ersten Blick unschuldigen Ort lauerte der Corpus delicti. Sie saßen zu locker. Die alteingesessene Stoffverbindung hatte dem stetigen und rücksichtslosen Nagen des Zahns der Zeit nicht standhalten können und ernüchtert wie fädenziehend die Waffen gestreckt. Das ‚optimal‘ war für’s Erste dahin und einem verlotterten ‚semi-optimal‘ gewichen, das Asnys gesammelten Unmut auf sich spüren konnte, dadurch aber keinen Deut besser wurde.
Mit Asnys Laune sah es ähnlich aus, schließlich hatten ihr die fädenspinnenden Schicksalsgöttinnen mitten in ihrem Konditions- und Aufwärmungstraining, das sie so kreuz wie quer durch den Villengarten führte, böse in die fein angerichtete Suppe gespuckt. Unterbrechungen dieser Art brachten die Sklavin aus ihren gründlich geschmiedeten Plänen und stahlen ihr wertvolle Zeit. Würde sie nicht während der Reparaturarbeiten gleichzeitig noch griechische Verben konjugieren und die römischen Provinzen aufzählen, befände sich innerhalb der verschlossenen Blase ein Zustand reinster Zeitverschwendung. Da sie diese und andere geistige Übungen ansonsten aber während ihres täglichen Laufs und diverser Dehnungs- und Sprungakrobatik durchführte, glaubte ihr Ehrgeiz förmlich zu sehen, wie die Elastizität aus ihren Muskeln schwand. Wenn sie nicht höllisch aufpasste, gehörte sie alsbald der trägen, antriebslosen, grauen, strunzdummen Masse aller Sklaven an, eine Vorstellung, die gleich noch einen fruchtigen griechischen Fluch in der Mitte der konjugierten Verben einschlagen ließ, den sie höchstwahrscheinlich irgendwann einmal von Milios gehört und für Fälle wie diesen memoriert und aufgespart hatte. Wenngleich die weite Welt vermutlich auch diesen Teil ihres Wesens niemals würde miterleben dürfen und ihre Schwester kein Griechisch verstand, so ergab sich doch die erhoffte Wirkung einer zumindest temporären Erleichterung und eines schnelleren Flußes römischer Provinzen in alphabetischer Reihenfolge.
Asa über ihr schwebend genoß wie üblich die sonnigen Frühlingsstrahlen, kratzte sich dann und wann träge am Kopf und betrachtete die Umgebung, für die ihre lebende Schwester derzeit absolut keinen Sinn hatte. Selbstredend mochte auch Asny den prachtvollen Garten, der zu dieser Jahreszeit geradezu obszön bunt und lebendig wirkte, aber man konnte sich eben nicht immer um Regenwürmer und Blumen kümmern, besonders dann nicht, wenn im geistigen Tagesplan aktuell andere Schwerpunkte notiert waren als blühende Gärten. Schwerpunkte, die gerade übelst blockiert wurden.
Nach einer kleinen Weile Fummelei und Flechterei erhob sich Asny schließlich mit einem energischen Ruck, warf die ausnahmsweise zu einem langen Zopf geflochtenen weißblonden Haare zurück und sprang federnd einige Male auf der Stelle, um den nun hoffentlich wieder gewährleisteten Sitz ihres reparierten Gewichtsbandes zu prüfen. Sandalen oder sonstiges Schuhwerk trug sie nicht, da es ähnlich wie auch ihre ansonsten so heißgeliebte Haarpracht bei derartigen sportlichen Betätigungen stören würden, und auch ihre dunkelrote, ärmellose Tunika endete bereits auf Kniehöhe, um höchstmögliche Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Ob sich an diesem Anblick irgendwer störte war Asny im Wahn ihres Trainings ebenso einerlei wie die gesamte Bewohnerschaft der Villa, solange sie ihr nicht auf irgendeine Weise gerade von Nutzen sein konnte. Und die alteingesessene Angabe, dass sie dies alles ja nur zum Wohle ihres Herren anstellte, würde wohl noch eine ganze Weile ihre Ziele erreichen: Frieden, Einsamkeit und Handlungsfreiheit.
Während sie ihre Laufroute derart plötzlich und geradlinig wieder aufnahm, dass ihre tote Schwester erst einige Zeit später davon Notiz nahm und ihr eilig hinterherflog, holte ein wesentlich unerfreulicher Gedanke die weißblonde Sklavin noch um einiges schneller ein. Nämlich die Aussicht auf fehlenden Nachschub an Lernmaterial. Früher oder später würde sie Mittel und Wege finden müssen, in die Bibliothek zu gelangen und sich dort ebenso ungehindert austoben zu können wie ansonsten in ihrer freien Zeit. Wenn möglich natürlich noch mehr, denn ‚mehr‘ war immer gut. Am Besten stellte sie diese Station auf ihrem Weg gleich in allernächster Nähe auf, bevor noch (schauderhaft) Langeweile aufkam. Menschen boten im Großen und Ganzen doch nicht dieselbe Herausforderung wie eine ordentlich strukturierte Bibliothek und angenehmes Eigenstudium dies vermochten. Vor allem war Eigeninitiative wesentlich zeitsparender und direkter, als eine nervtötend umständliche Unterhaltung. Asny unterbrach ihre gleichmäßig tiefe Atmung für einen kurzen Seufzer. Andererseits, war eine zu schnelle und zu einfache Strecke zum Erfolg nicht auch langweilig, waren die Herausforderungen durch die umständliche Art mancher Menschen, die ihr einfach nicht so rasch und problemlos als Informationsspender dienen wollten, nicht vielmehr stimulierend und antreibend? Vermutlich lag die Antwort wieder einmal irgendwo im Schoß der goldenen Mitte.
Unter einem neuerlichen Seufzer ließ die Sklavin diesen Gedanken erst einmal los und beschleunigte ihren Lauf, um die verlorene Zeit wieder einzuholen.