[Ante Oppido] Rus Ducciorum

  • "Junge, das ist ein Schwert.", grunzte Sönke mit verdrehten Augen, "So ein Teil ist alleine vom Metall her schon zehn Schweine wert. Außerdem ist es ein Schwert, verdammte Axt.. meines Vaters Väter haben höchstens mal einen Speer in der Hand gehabt, oder eine kleine Axt, wenn überhaupt. Ein Schwert ist... nun.. ein Schwert!"


    Er sah seinen Freund perplex an, streckte die Arme von sich und ließ sich wieder zurück ins Gras sinken, um es Hadamar gleich zu tun und sich einen der wenigen noch frischen Grashalme in den Mund zu stecken. Bald würde der Frost kommen und das Gras auf den Weiden und Auen in dürres, schmächtiges Grün verwandeln.


    "Du klingst nur so, weil du die verdammte Wahl hast. Weißt du wie meine Perspektive vor drei Wochen noch ausgesehen hat? Ich würde auf dem Hof ackern bis mein alter Herr von Hel gerufen wird. Dann würde ich auf dem Hof ackern bis meine Mutter von Hel gerufen wird. Ich würde irgendein dummes Mädchen heiraten das ich nicht liebe, und würde mit ihr ein paar Bälger in die Welt setzen und so lange ackern bis ich selbst irgendwann einmal Hel gegenüberstehe. So einfach ist das, und weißt du was? Es wäre VOLLKOMMEN normal. Mein Vater hasst meine Träume, weil sie von dem abweichen was eigentlich mein Lebensweg ist. Aber er muss sich wohl damit abfinden, dass die Nornen einen anderen Weg für mich beschieden haben... und der ist es, meinen Dienst in der Legion zu tun! Achwas.. weißt du... behalt dein Schwert. Bei der Legion bekommt jeder sein eigenes, wenn auch nur diese kurzen Römerdinger. Aber jeder sein eigenes!"


    Er beobachtete den Himmel, der von einem knalligen Rotorange immer grauer wurde. Wie oft hatten sie hier gesessen? Sehr oft... Sönke fühlte sich auf einmal richtig alt. Er würde bald ein Mann sein..


    "Ich glaube, Witjon wird schon etwas finden, dass du zu tun hast. Er findet für jeden etwas zu tun. Wir haben seit über sieben Wintern keinen Hunger mehr gelitten, und das nur, weil immer jemand da war der den anderen etwas zu tun gab. Da nimmt er sich nicht so viel. Lando hat das alles angefangen.. plötzlich war mehr zu tun als Leute da waren. Da hatten wir auf einmal KNECHTE auf dem Hof! Ich bin mir sicher, er würde auch für dich etwas finden.. aber sieh es doch mal so, wenn du in die Stadt ziehst, könnten wir uns öfter sehen! Auch mal einen draufmachen, würfeln gehen... oder ein paar Mädchen klarmachen!"


    Was so salopp gesagt wurde, zerbrach Sönke in letzter Zeit heftig den Kopf. Mädchen klarmachen. Normalerweise ging das über ein wenig Geknutsche und Gefummel nicht hinaus, und Sönke hatte bisher nicht einmal ersteres zustande gebracht. Als Heiltrud gestorben war, hatten sich auch Sönkes Hoffnungen zerstreut auch mal mehr zu fühlen zu bekommen als nur Stoff. Es war zum Verrückt werden...

  • „Ich weiß ja, ich weiß“, maulte Hadamar zurück, was sich auf so ungefähr alles bezog, was Sönke von sich gab. Ein Schwert war noch viel mehr, wenn man gewissen anderen Leuten glauben schenken durfte. Er hatte die Wahl. Sönkes Perspektive war grottig gewesen. Vielleicht hatte der andere ja Recht, vielleicht ließ Hadamar sich nur deshalb so treiben, weil es... nun ja, nicht wirklich eine Herausforderung gab. Hier draußen jedenfalls hatte seine Sippe das Sagen. Und er stellte sich durchaus vor, dass es in der Stadt ähnlich lief. Sönke hingegen hatte stets vor Augen gehabt, dass etwas gab, was er erreichen konnte. Und jetzt hatte er es erreicht, oder wenigstens einen Teil davon, allen Widerständen zum Trotz, die sich vor allem in seinem Vater manifestierten. Und das war etwas, was Hadamar Bewunderung abrang, auch wenn er das so deutlich nie gesagt hatte. „Dein Vater sollte stolz auf dich sein, immerhin übertriffst du doch jede Erwartung. Aber ich... was ich will interessiert ja auch keinen.“ Das Grundproblem war eher, dass er nicht wusste, was er wollte, aber das überging er geflissentlich. Ohnehin zuckte er nun mit den Schultern und verstummte für den Moment. Seine Worte begannen verdächtig nach Jammern zu klingen, und das wollte er nun auch nicht, obwohl es gerade die Erwartungen waren, die ihm so auf den Geist gingen.


    Nein, Erwartungen waren nichts für ihn, schon gar nicht, wenn es kaum noch etwas zu erreichen gab, und wenn einem dabei ständig wer auf die Finger schaute. Und das war etwas, was sich wohl auch in der Stadt nicht ändern würde, wie Sönke gerade so lebhaft darstellte. Witjon würde schon etwas finden. Na sicher würde Witjon etwas finden, daran hatte Hadamar gar keine Zweifel, aber er wollte gar nicht, dass Witjon etwas für ihn fand! Die Legion allerdings... Hadamars Lippen kräuselten sich leicht, als dieses doch etwas abstrakte Wortgebilde Legion in ihm schwang und sich darum herum Gedanken manifestierten. Stichwort Herausforderung. Keine Duccii. Niemanden von seiner Familie, der ihm auf die Finger sah. Keine Erwartungen, keine jedenfalls, die er tagtäglich serviert bekam, mit nahezu jedem Blick, wie er sich einbildete. Andererseits... auch Plackerei, viel Plackerei, mutmaßte er – anders als hier, aber trotzdem Plackerei.


    Sönkes letzte Worte veranlassten Hadamar wieder zum Grinsen. „Klingt hervorragend. Meinst denn bei Stadtmädchen ist es leichter?“ Hadamar war über das Gefummel-Stadium schon hinaus. Allerdings, und das wiederum passte zu seiner Weltanschauung weniger, weil er flachgelegt worden war, und nicht umgekehrt, und das wiederum war etwas, was sich schleunigst ändern musste, fand er, oder besser, durch weitere... Erfahrungen, in denen er die Oberhand hatte, in den Hintergrund zu drängen war. Das also wäre ein definitives Argument für die Stadt.

  • "Mein Vater sieht nur zwei Hände weniger bei der Arbeit.", grummelte Sönke in seinen nichtvorhandenen Bart, "Weißt du, was er gesagt hat, als Witjon ihm eröffnete, dass ich das Bürgerrecht bekomme? Er hat versucht, mich noch die letzten Monate als Arbeitskraft zu behalten. Sönke hat noch nicht einmal die Mannbarkeit erreicht, Witjon."
    Röchelnd zog Sönke hoch, und rotzte einen satten Flatschen in den Teich, die Fische waren ihm im Moment sowieso scheiss egal.
    "Mein Vater ist nicht stolz. Alles andere als das. Ich musste die Urkunde bei Witjon lassen, aus Angst, Vater würde sie zerreissen. Mutter ist auch nicht besser.. die hat nur Angst davor, dass die Römer mich umbringen! Dabei will ich doch MIT ihnen kämpfen, nicht GEGEN sie! Die einzige, die gratuliert hat war Lanthilda."


    Mit trübem Blick starrte er weiter auf die sich wieder beruhigende Wasseroberfläche. Er hatte sich das alles vollkommen anders vorgestellt.. und jetzt das. Na, wenigstens war die Aussicht auf Mädchen etwas erfrischender.


    "Öhm.. naja... also...", versuchte Sönke sich an einer originalgetreuen Beschreibung des mogontinischen Fummel- und Grabschmarktes, "..nein. Es ist nicht einfacher. Ich weiß nicht, wie du das mit dieser.. wie hieß sie noch? Nun, wie du das mit der gemacht hast... ich habe HAARGENAU dasselbe versucht, und dafür eine gelangt bekommen!"

  • „Dein Vater hat doch echt keinen Grund sich zu beschweren. Meine Mutter TRÄUMT von einem Sohn wie dir. Und Witjon sorgt doch für Ersatz, oder nicht?“ Hadamars Stimme klang unwillig. Dass Sönkes Eltern so gar nichts von den Plänen seines Sohns hielt, und noch weniger davon, dass er sie in die Tat umzusetzen begann, begriff er nicht ganz. Seine eigene Mutter hielt Sönke für ein leuchtendes Beispiel, und Hadamar wusste, dass sie hoffte, der Freund könnte Einfluss auf ihn haben in dieser Hinsicht. Aber das brachte weder ihm noch Sönke etwas. Er blinzelte zu ihm hinüber. „Hab ich noch nicht gratuliert?“ Er hob einen Arm, ballte die Finger zur Faust und stieß Sönke damit gegen den Oberarm. „Dann hol ich das jetzt nach.“ Er grinste versuchsweise. Dass Sönke Trübsal blies, gefiel ihm nicht so recht.


    Beim nächsten Thema starrte Hadamar dann wieder auf das Wasser. Sehr bemüht um einen entspannten, ja, lässigen Gesichtsausdruck. „Walda“, half er noch bereitwillig aus, nur um dann, für den ersten Moment, wieder zu verstummen. Die Wahrheit wäre nämlich gewesen: er wusste es selbst nicht. Er hatte keine Ahnung, was er gemacht hatte. Er wüsste es nur zu gerne, denn dann könnte er das Ganze wiederholen, beliebig oft, jedenfalls stellte er sich das vor – und dass es bei den mogontinischen Mädchen nicht leichter war, enttäuschte ihn etwas. Was er nur zu genau wusste war, dass aus irgendwelchen Gründen sie ihn gewollt hatte, und dass sie ein wenig älter war als er, schon ein wenig Erfahrung hatte und vielleicht ein klitzekleines bisschen angetrunken gewesen war, mochte auch dazu beigetragen haben. Aber Hadamar hätte sich lieber die Zunge abgebissen als DAS zuzugeben. Stattdessen zuckte er nur leicht mit den Achseln und versuchte bei den nächsten Worten möglichst... lässig zu wirken. „Och, so schwer war das nicht...“

  • "Ja, aaaaaber...", begann Sönke mit bedeutungsschwangerer Stimme, "...mein Vater ist mein Vater, und deine Mutter ist deine Mutter. Wir könnten nicht einmal Plätze tauschen, wie soll ich meine Haare so rot bekommen? Und dann noch die ganzen Pickel! Und diese schrille Stimme! Ich erinnere mich noch genau als Lanthilda meinte, du wärst doch ein sehr ansehliches junges Mannsbild. Bis du den Mund aufgemacht hast. Jetzt heiratet sie wohl wen anders.. außerdem ist es sowieso utopisch, dass einer von Wolfriks Erben einen aus meiner Sippe heiratet. Aber genug.. AUTSCH... nein, hast du nicht, fällt mir gerade so ein."


    Sönke rieb sich den Oberarm in gespielter Empörung und blickte Hadamar gespielt vorwurfsvoll an.
    "Moment... DIE Walda? Wann war das? Kann doch noch garnicht so lange her sein, hat die nicht gerade einen Jungen zur Welt gebracht, und dann Hals über Kopf diesen Scriba aus der Stadt geheiratet?"
    Mit zusammengekniffenen Augen stierte Sönke seinen Freund an, voll der Hoffnung, dass dieser darauf einstieg. Immerhin war es immer ein verdammt großes Risiko sich mit einer Frau einzulassen, die wurden immer so schnell schwanger. Und drehten dann voll am Rad.. was man auch verstehen konnte, immerhin konnte man so durch einige Augenblicke der Freude die Zukunft einer ganzen Familie verhageln. Andererseits wussten die Mädels oft auch, warum auch immer, wann was ging, und wann gerade nicht. Was Sönke nicht im Ansatz verstand. Mutter hatte Lanthilda immer beiseite genommen wenn es um Frauensachen ging, und Hartwig die Jungs, wenn es um Männersachen ging. Da war eine klare Grenze dazwischen, an die zu überschreiten Sönke im Leben nicht denken würde. Frauen waren... Frauen. Und kümmerten sich folglich um Frauenkram. Und Männer waren Männer... und kümmerten sich folglich um Männerkram. Das einzige, was Sönke noch mitbekommen hatte, war die sein Vater Frigg geopfert hatte um die Geburt seines jüngsten Geschwisterkinds zu begleiten und zu einem guten Ende zu führen. Sönkes dritter Bruder überlebte die erste Nacht nicht, aber seine Mutter. Und das war es letztendlich worauf es ankam.

  • Hadamar brummte nur bei Sönkes genauso unwiderstehlicher wie unbestechlicher Logik. Erst als er anfing was von Hadamars Stimme zu faseln, ruckte sein Kopf herum. „Moment ma-“, begann er empört, aber Sönke kam dann zu Lanthilda und was sie angeblich gesagt hatte, und das ließ ihn vergessen, was Sönke da für einen Schmarrn über seine Stimme erzählt hatte – die ganz sicher nicht schrill war, ganz im Gegenteil, vielleicht vor einiger Zeit noch, aber den Stimmbruch glaubte er inzwischen zuverlässig hinter sich gelassen zu haben. Hoffte er jedenfalls. Redete er sich ein. „Hat sie echt gesagt?“


    Und gleich darauf schockte Sönke ihn noch viel mehr. Hadamars Mund klappte auf, für einen endlosen Moment lang, und fassungslos starrte er seinen Freund an. „Nein. Nein! Hat sie nicht!“ Für einen langen Augenblick hatte Hadamar das Gefühl, erst mal gar nicht mehr richtig denken zu können, während plötzlich das Adrenalin in seinem Körper pulste, dann, für einige weitere, lange Augenblicke durchforstete er mühsam sein Gedächtnis. Walda. Nein. Die hatte er schon noch ein paar Mal gesehen seit jenem Abend, wenn sie auch – leider, leider, jedenfalls aus seiner Sicht – nicht wirklich etwas miteinander zu tun gehabt hatten mehr. Und die war nicht schwanger gewesen. Jedenfalls nicht so, nicht so, dass man es schon hätte sehen können, dass sie jetzt schon ein Kind hätte zur Welt bringen können, eines das lebte jedenfalls, und überhaupt, so lange war das ja tatsächlich nicht her, seit diesem Abend. Sobald er das einmal für sich geklärt hatte, erholte Hadamar sich erstaunlich schnell von dem Schreck, während er zugleich jeden Gedanken daran, dass Walda vielleicht doch schwanger sein könnte, nur eben noch nicht sichtbar für jeden, mit absoluter Zuversicht verdrängte. Allerdings, das wurde ihm dann doch klar: seine gespielte Selbstsicherheit vor Sönke war mit diesen – für ihn selbst endlos lang erscheinenden, in Wahrheit aber nur wenigen kurzen – Momenten flöten gegangen. Er räusperte sich verlegen und versuchte abzulenken. „Das muss wer anders gewesen sein, von der du das gehört hast.“

  • Er fühlte sich so heiß, dass es ihn nicht gewundert hätte zu sehen, dass sein Körper dampfte. Es war später Nachmittag, der ganze Tag war schon nahezu unerträglich heiß gewesen, und noch immer knallte die Sonne vom Himmel. Und am Ufer des Sees, der irgendwo in dem Wald auf den duccischen Ländereien war, lagen Hadamar und Runa nackt nebeneinander im Gras. Die Nässe vom Schwimmen war schon längst wieder getrocknet, der Schweiß, der von einer anderen Art der horizontalen Ertüchtigung stammte, war gerade erst dabei. Hadamar drehte leicht den Kopf und blinzelte zu Runa hinüber, die mit geschlossenen Augen lang gestreckt da lag und die Sonne genoss, die gesprenkelt durch die Blätter des Astwerks über ihnen fiel. Ihren vom Licht- und Schattenspiel gefleckten Körper präsentierte sie dabei auf eine Art, die ihn im Bruchteil eines Augenblicks den Entschluss fassen ließ, sich noch mal eingehender damit zu beschäftigen, bevor sie wieder zurück mussten. Für den Augenblick allerdings hätte er sie gern einfach nur an sich gezogen und ihren Körper an seinem gespürt, aber dafür war ihm gerade einfach zu heiß.


    Eine Weile lagen sie einfach schweigend nebeneinander. Das war das Hervorragende an Runa. Kein überflüssiges Geschwätz, jedenfalls nicht in Momenten wie diesen.
    „Wann musst du wieder zurück sein?“
    Runa zuckte nur die Achseln. „Keine Ahnung.“ So unbefriedigend die Antwort eigentlich war, fragte Hadamar dennoch nicht weiter nach. Ein bisschen fühlte er sich verantwortlich dafür, dass sie nicht allzu großen Ärger bekam – nicht nur weil sie ein Mädchen war, sondern auch, weil er es da wohl etwas leichter hatte als sie, sich loszueisen. Aber grundsätzlich herrschte zwischen ihnen eine stillschweigende Übereinkunft, dass jeder von ihnen selbst zusah, wie er daheim dann zurecht kam. Und auch wenn Hadamar ab und zu versuchte, diesem vagen Gefühl von Verantwortung nachzukommen – ohne allerdings wirklich zu wissen, was genau er da eigentlich tun könnte, um ihr vielleicht zu helfen –, blieb es letztlich dabei, dass alles, was sie nach ihren Treffen erwartete, den anderen nur am Rande etwas anging.
    Dann allerdings fügte Runa noch etwas an, das ihn ein wenig aufhorchen ließ: „Ich hab nicht gefragt.“
    Hadamar sah erneut zu ihr. „Nicht gefragt?“ Das war ungewöhnlich, das wusste auch Hadamar. Er machte sich nicht immer die Mühe, sich eine Ausrede auszudenken, und verschwand öfter mal einfach so, wenn er Lust hatte – den Ärger billigend in Kauf nehmend, der ihn bei der Rückkehr erwartete. Aber bei Runa war das anders. Erstens war Runa anders, zweitens war sie ein Mädchen, drittens war sie von niedrigerem Stand und viertens lebte sie nicht in einem großen Haus mitten in Mogontiacum mit weitläufigen Stallungen, wo Fehlen ohne vorher platzierte Ausrede nicht so schnell auffiel. „Wieso?“
    Sie zuckte nur erneut die Achseln. „Keine Lust?“ Weil er sie immer noch ansah, bemerkte er wie sie eine Grimasse schnitt, und nach einem Augenblick des Schweigens fügte sie an: „Ich hab mir gedacht, ich nehm mir ein paar Freiheiten raus, solang ich das noch kann.“ Hadamar lag schon auf der Zunge zu fragen, was los war, aber diesmal beherrschte er sich. Eines der Dinge, die er bei Runa gelernt hatte war, dass sie nach solchen Andeutungen in der Regel ohnehin mit dem rausrückte, was sie sagen wollte. Warum sie erst drum herum redete – ob sie es spannend machen wollte, ob sie gefragt werden wollte, was auch immer –, das hatte er noch nicht herausbekommen. Allerdings interessierte ihn das auch weniger. Nachdem ihm einmal klar geworden war, dass er in solchen Fällen nur als Stichwortgeber fungierte, hatte er beschlossen damit aufzuhören – und es funktionierte, das hieß, wenn er denn daran dachte die Klappe zu halten.
    So auch jetzt. Es gab wieder eine kurze Pause, dann rückte Runa mit dem raus, was sie sagen wollte: „Ich soll heiraten.“

  • Schweigen. Mit so einer Ankündigung hatte Hadamar nicht wirklich gerechnet. Entsprechend war das erste, was er nach einer gefühlten Ewigkeit herausbrachte, nur ein etwas verdutztes: „Oh.“
    Runa gab einen Laut von sich, der sowohl ein Lachen wie auch ein Schnauben hätte sein können. „Ja. Oh.“
    „Uhm.“ Hadamar wusste immer noch nicht so recht, was er darauf sagen sollte. Es war ja nun nicht so, dass das völlig unerwartet kam. Mädchen wurden verheiratet, und Runa war im besten Alter dafür. Trotzdem hatte Hadamar keinen Gedanken daran verschwendet bisher, nicht wirklich. „Warum so plötzlich?“
    „Ich glaub er ahnt was. Oder besser meine Mutter, und sie hat ein bisschen Dampf gemacht, dass er mich unter die Haube bringen soll. Die haben keine Ahnung, mit wem ich mich treff, aber dass es jemanden gibt… wohl schon“, fügte sie noch an.
    Hadamar deutete ein Achselzucken an. Selbst wenn rauskam, dass er derjenige welche war, schätzte er die Konsequenzen, die er zu befürchten hatte, nicht so tragisch ein. „Steht schon alles fest, oder hat dein Vater jetzt erst mal vor, jemanden zu finden?“
    „Er hat jemanden. Irgendein Händlersohn aus Mogontiacum. Aber Witjons Einverständnis steht noch aus, den wollte er fragen, sobald er ihn sieht, um danach dann alles festzumachen.“
    „Ich könnt mit Witjon reden. Wenn du willst.“ Hadamar vermied es bewusst miteinzubauen, ob er Witjon positiv oder negativ zu beeinflussen versuchen sollte – versuchen, weil er das ganz und gar nicht für gesichert hielt, dass das Sippenoberhaupt einen Pfifferling auf seine Meinung geben würde. Und erst recht machte er keine Andeutung darüber, was er darüber dachte. Er hatte keine Lust, sich die Finger zu verbrennen, indem er jetzt vorschnell war und irgendetwas sagte, was ihr dann nicht in den Kram passte, weil sie etwas anderes erwartet hätte. Runa war zwar in aller Regel unkompliziert, aber das hier… war dann vielleicht doch noch mal was anderes. Frau bekam schließlich nicht jeden Tag die Info, dass sie verheiratet werden sollte. Oder gab besagte Info an ihren aktuellen Liebhaber weiter. Nein, sollte sie doch erst mal selbst sagen, was sie davon hielt, bevor er das kommentierte.
    Und davon abgesehen war er selbst noch ziemlich unschlüssig, was er nun davon halten sollte. Wenn Runa nicht heiraten dürfte, wäre das natürlich großartig, dann hätten sie beide auch noch weiterhin Zeit füreinander, vorerst jedenfalls. Andererseits musste Runa irgendwann heiraten, das wusste er so gut wie sie, und irgendwann würde so oder so nicht mehr in allzu ferner Zukunft sein. Und er mochte sie. Was bedeutete, dass er nicht ganz so egoistisch war und nur an sich dachte, sondern auch an sie. Und ein Händlersohn aus Mogontiacum als Ehemann, das klang nicht schlecht.
    „Mmh. Ich weiß nicht.“ Diesmal seufzte sie. „Ich will jetzt eigentlich noch nicht heiraten. Andererseits… die Verbindung ist nicht schlecht. Im Gegenteil, sie ist sogar fast besser, als ich hätte hoffen können.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Lass mal. Soll Witjon das entscheiden, das wird schon passen dann.“
    „In Ordnung“, antwortete Hadamar und neigte sich dann leicht über sie, um sie zu küssen, bevor er sich – diesmal sie näher an sich ziehend – wieder ins Gras zurücksinken ließ und in das Astgeflecht über sich und die Himmelsflecken dazwischen starrte.

  • Eine Weile herrschte wieder einvernehmliches Schweigen. Hadamar hatte den Arm um Runa gelegt, strich mit den Fingern über ihre zarte Haut und spielte mit dem Gedanken, die Gelegenheit jetzt zu nutzen, als sie das Schweigen brach. „Was ist mit dir?“
    Hadamar wusste, was sie meinte, und diesmal war es an ihm, das Gesicht zu verziehen. Seinen Sax hatte er erst vor kurzem erhalten, aber irgendwie… hatte sich seitdem nicht wirklich was geändert. Nicht an seiner Einstellung und nicht an seinen Möglichkeiten. Und er hatte keine Lust auf dieses leidige Thema. Seine Mutter brauchte ihn nur anzusehen, ohne einen Ton zu sagen, und er würde sich am liebsten umdrehen und abhauen. Aber Runa machte ihm immerhin keine Vorwürfe, oder stellte irgendwelche Ansprüche oder Erwartungen an ihn. „Keine Ahnung“, brummte er. „Ist immer noch alles gleich bescheuert. Vielleicht geh ich echt zur Legio.“ Er hatte ihr davon erzählt, von dem Abend am Rhein mit Thore, Sönke und den anderen. Und als er ihr davon erzählt hatte, hatte sie hervorragend reagiert, hatte sich mit ihm über die anderen aufgeregt und ihn dann zum Lachen gebracht. Jetzt allerdings…
    „Mh… Meinst du das ernst?“
    Hadamar hörte den Zweifel in ihrer Stimme, und mit gerunzelter Stirn sah er sie an. „Warum nicht?“ stellte er eine Gegenfrage, ohne die ihre wirklich zu beantworten.
    „Na ja…“ Jetzt klang Runa so, als ob sie sich auf vorsichtig auf hauchdünnem Eis bewegte. „Meinst du denn, die Legion wär wirklich was für dich?“
    „Meinst DU denn, die Verwaltung wär was für mich?“ schoss er zurück.
    „Das wollte ich nicht sagen, ich wollte nur-“
    „Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?“ Hadamar löste sich von ihr, setzte sich auf und starrte sie ärgerlich an. „Du denkst auch, dass ich für die Legio ungeeignet bin?“
    Der Blick, den Runa ihm zuwarf, schwankte zwischen Verwirrung, Verständnis und aufkeimendem Ärger. „Nein, aber-“
    „Natürlich tust du das!“ unterbrach Hadamar sie heftig ein weiteres Mal, und diesmal sprang er wütend auf. „Genau wie jeder andere! Hadamar der Nichtsnutz, wie?“
    „Darf ich vielleicht auch mal ausreden?“ entgegnete sie, die ebenfalls aufgesprungen war – nicht ganz so heftig wie er, aber auch nicht mehr ruhig. „Das wollte ich gar nicht sagen. Aber ich kann mir dich halt schwer bei der Legio vorstellen! Du bist nicht unbedingt ein begeisterter Anhänger von anstrengender Arbeit, und was glaubst du wird dich da bei der Legio erwarten? Dass sie mit Stroh nach dir werfen?“
    „Oh bitte!“ ranzte er zurück. „Das ist doch was völlig anderes, ob du bei der Legio bist oder daheim schuften musst!“
    „Ach, ist es das? Warum? Weil du bei der Legio ein Niemand bist, während du in Mogontiacum mit deiner Familie im Rücken alles erreichen könntest?“
    Dass ausgerechnet Runa nun ins selbe Horn stieß wie Sönke, wie seine Mutter, wie gefühlt jeder andere um ihn herum, versetzte Hadamars Wut noch mal neue Nahrung. Was hatten die nur alle damit, dass ihm angeblich alles offen stünde? Das stimmte überhaupt nicht! Wenn ihm alles offen stünde, wäre es doch kein Problem, wenn er zur Legio ging – oder einfach nichts machte, wenn er keine Lust auf irgendwas hatte, aber nein, das Gegenteil war der Fall, alle wollten, dass er sich als wahrer Sohn Wolfriks erwies, der seinem Namen und seiner Familie Ehre machte und irgendwas Großes leistete. Er wollte das alles gar nicht! „Ich KANN nicht alles erreichen, ich MUSS alles erreichen! Du hast ja keine Ahnung, was die alle für eine Erwartungshaltung an mich haben! Oder halt, vielleicht doch, sogar du denkst ja offenbar so! Und gleichzeitig hält mich jeder für absolut ungeeignet – für die Legio, für die Freya, für ein bisschen mehr Eigenständigkeit oder Verantwortung oder sonst was, und ja, auch für die Verwaltung, so schlecht wie ich im Unterricht bin!“ Hadamar hatte sich regelrecht in Rage geredet, und als er fertig war, wandte er sich abrupt ab. Er hatte keine Lust, weiter darüber zu streiten, hatte keine Lust, sich überhaupt weiter darüber Gedanken zu machen, weil es ihn ja doch nur fertig machte. Mit langen Schritten legte er die kurze Strecke zum See zurück und warf sich kopfüber ins Wasser, wo er zunächst untertauchte und dann ein paar Züge machte. Ruhe. Einfach nur Ruhe. Das war alles, was er wollte. Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Seine Mutter allen voran. Sie wollte unbedingt, dass er endlich etwas machte, sich entschied, sie fragte und drängte ihn, und die anderen Erwachsenen sahen ihn wenigstens komisch an, jedenfalls kam ihm das so vor. Und er konnte mit keinem reden, glaubte er. Mit wem auch? Von seinen Freunden war Sönke der einzige, mit dem er so etwas angeschnitten hätte, aber genau bei diesem Thema drehte der ja jedes Mal am Rad, weil ihm, Hadamar, angeblich die Welt zu Füßen lag, und es ganz allein seine Schuld war, wenn er nichts daraus machte. Und Runa dachte scheinbar genauso, wie er gerade eben bitter hatte feststellen müssen. Und sonst? Seine Mutter? Pustekuchen. Die war ja noch schlimmer als alle anderen. Zumal es für sie keine Alternativen gab. Sie wollte ihn am liebsten in der Verwaltung sehen, mit einer ruhigen, sicheren Arbeit, bei der er stetig die Karriereleiter weiter nach oben klettern konnte. Selbst wenn die Legio als Option in Frage käme, dürfte er das ihr gegenüber nicht erwähnen. Seine Mutter würde ausrasten. Nachdem sein Vater im Dienst der römischen Legion gefallen war, war sie auf dieses Thema gar nicht gut zu sprechen, und sie hatte ihr Möglichstes getan um zu verhindern, dass einer ihrer Söhne sich in den Kopf setzte, dem Vater in dieser Hinsicht nachzufolgen.

  • Hadamar schwamm ein paar Runden, versuchte die Wut so loszuwerden, und als er sich ein wenig ruhiger fühlte, sah er sich nach Runa um. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie gegangen wäre – aber sie war noch da, saß auf einem der Felsbrocken, die am diesseitigen Ufer sowohl an Land als auch im Wasser verstreut waren, einem von jenen, die am weitesten im See waren, und ließ ihre Füße ins Nass baumeln. Was das Schwimmen nicht wirklich zustande gebracht hatte, bewirkte dieser Anblick: seine Wut verrauchte, oder besser: sie verwandelte sich, denn an ihrer Stelle regte sich etwas anderes. Hadamar zögerte noch einen Moment, genoss die Sicht, die sich ihm bot, dann warf er sich nach vorne und schwamm zu ihr. Die letzte Strecke legte er tauchend zurück, bevor er direkt bei ihren Beinen prustend aus dem Wasser wieder auftauchte. Er stemmte sich ein wenig nach oben und legte seine Unterarme überkreuzt auf ihre Knie, mit seinen Beinen leicht Wasser tretend. Während er die Innenhaut ihrer Oberschenkel zu küssen begann, murmelte er: „Tut mir leid.“
    Er spürte ihre Hand in seinem Haar. „Schon in Ordnung“, hörte er sie antworten, und er dachte schon, damit wäre die Sache gegessen. Aber dann fügte sie doch noch etwas an, und diesmal unterbrach er, was er tat, ohne allerdings hochzusehen. „Wenn du wirklich zur Legio willst, dann geh. Du solltest nur nicht immer nur jammern, wie schlimm doch alles ist, sondern dich für was entscheiden. Sonst tun das andere für dich, und dann kannst du gleich ganz in dem Jammertal versinken, wo du grad so gern bist.“
    Hadamar wusste nicht so recht, was er darauf nun sagen sollte. Zugeben, dass seine Misere zu einem großen Teil, wenn nicht sogar komplett, an ihm selbst lag, konnte er nicht, obwohl ihm das tief in sich drin bewusst war, dass sie recht hatte damit. Streiten wollte er auch nicht, nicht schon wieder, und schon gar nicht mit Runa. Dazu kam, dass sie weder schnippisch noch beleidigt noch besserwisserisch klang, sondern einfach nur sachlich.
    Also machte er das einzige andere, was ihm einfiel – er sagte einfach gar nichts, sondern zog sie zu sich ins Wasser und fiel hungrig über sie her.

  • http://farm1.staticflickr.com/43/82692273_2075bda83f_m.jpg Schweiß rann ihm in die Augen, selbst bei diesen bitterkalten Temperaturen machte sich die Anstrengung in Sönke bemerkbar. In dicke Wolle, Kaninchen- und Schaffell eingemummt hieb der junge Germane jetzt schon seit knapp zwei Stunden auf eine nie enden wollende Reihe von Holzscheiten ein, die er passgerecht in immer kleinere Scheite hackte. Er hatte seit einer Woche nicht getrunken, was so gar nicht zu dem Lebenswandel passen wollte, den er seit einer gewissen Zeit führte, und hatte sich so auch nicht innert der Pallisade blicken lassen. Zuviele Saufkumpane die warteten, zuviel ungeklärter Ärger, den er sich im Vollrausch eingefangen hatte. Zudem schmerzte seine Wange immernoch von der schallenden Ohrfeige, die er sich heute erst von seinem Vater eingefangen hatte. Was in letzter Zeit öfter vorgekommen war, denn die Erleichterung Hartwigs über den verkorksten Eintritt hatte sich schnell in Verbitterung über die Art und Weise seines Sohns verwandelt, mit dieser Schlappe umzugehen.
    Was schließlich darin resultierte, dass die Hand des alten Mannes zunehmend lockerer saß, und Sönke sich zu den längsten Arbeiten draußen abkommandiert sah.


    So wie heute, als er zuerst die Frostlöcher im Reet suchen und ausbessern durfte, stundenlang durch den Schnee stapfen um die Fallen für Kaninchen und anderes Kleintier zu kontrollieren und schließlich um Holz zu hacken. Jeden verdammten Tag.


    Zudem schien der Druck auf seinen Vater von Seiten Witjons zu wachsen, denn die letzten paar Male, als er 'Wärst du doch zur Legion gegangen!' geschnauzt hatte, klang das gar nicht mehr allzu ironisch. Auch seine Mutter hatte ihre Freude über den doch-nicht-im-Krieg-sterbenden-Sohn unter einer dicken Schicht an Sippentreue gepackt, und erzählte in letzter Zeit zunehmend Geschichten von großen Heldentaten und Kriegen die jenseits des Rhenus stattgefunden hatten. Sönke war nicht gerade schlau, aber er konnte sich trotzdem denken, wohin all das führen sollte: seine Familie war kein Rückzugsort mehr. Auch hier konnte er sich nicht mehr vor dem verstecken, was er sich vor unendlich lang geglaubter Zeit selbst vor die Füße gekotzt hatte.


    http://www.kulueke.net/pics/ir/nscdb/z-spezielle/hartwig.jpg Hartwig: "Junge.", erklang es schließlich hinter ihm, und mit der Axt über dem Kopf, gerade zu einem weiteren Hieb ausholend, hielt Sönke inne und drehte sich mit fragendem Blick um, "Vater?". Der alte Mann stand wenige Schritte vor ihm, einen der großen Bärenhunden zu seinen Füßen, und sah ihn mit denselben Augen an, die es schafften so unglaublich gutmütig dreinzuschauen. Aber in ihnen lag nichts von der freundlichen Kraft, die ihn mit beinahe jedem Menschen wortwörtlich augenblicklich gut stellten, in den letzten Tagen hatte Sönke vor allem die Härte in ihnen erblicken können, die sich einstellte wenn man nicht das tat, was das Leben von einem erwartete. Um genauer zu sein: was er von einem erwartete.
    "Sohn..", begann Hartwig, hielt aber noch inne, als würde er nach den richtigen Worten suchen, "..es ist nicht unser, uns gegen das entscheiden was uns gedacht wurde."
    "Was meinst du damit, Vater?", fragte Sönke, dem die Glieder schon von der Wärme brannten, welche immer wieder die Kälte aus seinen Kleidern jagte.
    "Wenn die Söhne Wolfriks sich entscheiden dich auf den Feldern arbeiten zu lassen, so sähst du aus, hegst den Acker und erntest soviel sie dir geben. So sie dir auftragen das Bret des Tages zu jagen, gehst du in den Wald und erschlägst den größten Eber, der sich fangen lässt. Wollen sie dich fischen sehen, so steigst du in den Fluss und fängst den größten Karpfen.. dafür stehen sie für uns ein bei Geschicken, bei denen wir uns nicht selbst helfen können. Und das seit dem Gedenken deiner Väter...", dozierte der alte Mann mit der Stimme, von der er die ruhmreichen alten Tage zitierte. Nur hier draußen... in diesem Moment war das alles mehr als seltsam: "Was willst du mir damit sagen?"
    "Würden die Söhne Wolfriks angegriffen, würden wir den Speer zur Hand nehmen und ihnen zur Seite stehen, mit den anderen Sippen in ihrer Munt. Wenn wir angegriffen werden, stehen sie uns genauso bei..."
    "Vater?"
    "Wenn die Söhne Wolfriks wollen, dass du zur Legion der Römer gehst.. dann gehst du zur Legion, und gibst dort dein Bestes.", stellte Hartwig fest.
    "Weil wir sowieso sterben, Vater?", hakte Sönke nach, als wäre er wieder keine zehn Lenze alt.
    "Weil wir sowieso sterben, Sohn. Und so die Götter wollen, wirst du als ruhmreicher Kämpfer in Valhalla einfahren.. oder als alter Mann wie ich im warmen Bett sterben und zu Hel gehen.", dozierte sein Vater weiter.
    "Das sind Geschichten, die dir noch vor einigen Monden noch nicht so wichtig waren..", schaltete sich hier das wenige ein, das Sönke an kritischem Nachdenken zur Verfügung hatte, woraufhin Hartwig mit der Lieblingsantwort aller Befehlsempfänger konterte: "Was mir wichtig ist, ist nicht von Belang. Die Wolfrikssöhne deuten dir die Richtung, in die du gehst. Ist das klar?"
    "Natürlich, Vater.", erwiderte Sönke, der in den letzten Tagen erfahren durfte, wie der alte Mann reagierte wenn man ihm nach einer solchen Ansprache wiedersprach, "...hat Witjon mit dir gesprochen?"
    "Das braucht er nicht... ", brummte sein Vater noch, drehte sich dann um und stapfte durch den Schnee zurück ins Haus. Nachdem die mit Moos und altem Leinen abgedichtete Tür geräuschvoll zugezogen worden war, stand Sönke immernoch mit der Axt in der Hand im Schnee und glotzte seinem nicht mehr anwesenden Vater hinterher. Erst eine ganze Weile später wandte er sich schließlich um, hob die Axt über den Kopf und ließ sie mit der gleichen Routine auf den Holzklot niedergehen wie vorher. Nur versuchte er sich dieses Mal daran zu erinnern wie es gewesen war, in jedem Holzklotz den Schädel eines Feindes zu sehen.

  • Er kannte im Grunde alle Wege hier noch, das hatte Hadamar schon am Tag seiner Ankunft festgestellt. Aber heute ritt er einen Weg entlang, den er noch besser kannte als all die anderen – den Weg zur Rus Ducciorum, dem Gehöft seiner Familie, das draußen vor den Toren Mogontiacums lag. Dort, wo seine Mutter lebte. Sie hatte es nie in die Stadt hineingezogen, obwohl das Anwesen der Duccii in Mogontiacum eine beachtliche Größe aufwies und sie dort ebenso ihre Ruhe gehabt hätte. Sie hatte immer schon dort draußen gelebt, mit ihren Kindern und ihrem Mann, als der noch am Leben gewesen war. Als Hadamar angekommen gewesen war, hatte er leider keine Zeit gehabt, sie auch noch zu besuchen, und so hatte er sie bis jetzt noch nicht gesehen. Allein schon deshalb hatte er den ersten Tag, an dem er sich ein bisschen Zeit hatte freischaufeln können um die Castra in nicht dienstlicher Tätigkeit zu verlassen, dafür reserviert, seine Mutter zu besuchen.


    Er wusste gar nicht, ob sie überhaupt schon wusste, dass er wieder daheim war. Sie hatten kurz darüber gesprochen am Tag seiner Ankunft, seine Geschwister und er – genauer gesagt eigentlich seine Brüder. Rhaban war total dafür gewesen, daraus eine Überraschung zu machen. Iring eher dagegen. Und dann hatte sich eine kleine Diskussion zwischen den beiden entwickelt, die so klang, als ob sie das unabhängig vom Thema öfter tun würden, und Hadamar war ziemlich schnell aus dem Inhalt ausgestiegen und hatte stattdessen darüber sinniert, was er in den letzten Jahren verpasst hatte. Wie die zwei und ihr Verhältnis zueinander sich entwickelt hatten, während er nicht da gewesen war. Sie arbeiteten viel zusammen, und das ziemlich gut, das war gerade an dieser Diskussion zu merken, wo sie unterschiedlicher Meinung waren – wie sie sich kabbelten, wie sie Argumente und Blödeleien austauschten.


    Und dann war da noch Dagny. Auch bei ihr hatte er eine Menge verpasst, und er war sich nicht so ganz sicher, ob es bei ihr nicht sogar am meisten war. Alle drei waren noch Kinder gewesen, als er sich zur Legio gemeldet hatte und damit abgesehen von wenigen Gelegenheiten aus ihrem Leben mehr oder weniger verschwunden war – auch wenn er eine ganze Zeitlang noch in Mogontiacum gewesen war. Und dann war er größtenteils weg gewesen, bis auf eine eher kurze Zeit vor vier, fünf Jahren, als er noch mal bei der II gewesen war. In all der Zeit hatten die drei sich verändert. Waren erwachsen geworden. Und er hatte das Gefühl, dass er das jetzt erst so richtig bemerkte. Vielleicht weil diese Entwicklung jetzt erst mehr oder weniger abgeschlossen war – vielleicht aber auch, weil er jetzt erst einen Blick dafür hatte. Weil er selbst älter war. Und weil er nun Tariq hatte, für den er sich verantwortlich fühlte, auf eine Art, die er davor nicht gekannt hatte, vor der er sich früher immer gedrückt hatte. Er hatte deswegen nicht wirklich ein schlechtes Gewissen, nicht gegenüber seinen Geschwistern jedenfalls – sie hatten sich immer gut verstanden, und es war ja nie so gewesen, dass ihnen da was gefehlt hätte. Es war immer jemand da gewesen, der sich gekümmert hatte, der Verantwortung übernommen hatte. Vor allem Eldrid und Witjon, wenn überhaupt hatte er denen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Aber beide waren nicht mehr da, und Hadamar war älter und hatte jetzt Tariq. Und er kam nicht umhin, seine Geschwister nun mit demselben Blick zu betrachten, mit dem er Tariq sah.


    Die Frage war, ob seine Geschwister das jetzt überhaupt noch wollten. Iring wohl nicht, der war nun wirklich alt genug, und auch Rhaban mit seinem Wortwitz und seiner Erfahrung bei der Freya nicht. Deswegen würde er trotzdem für sie da sein, aber es würde mit Sicherheit anders werden als bei Tariq. Zumindest bei Dagny aber hatte Hadamar bei seiner Ankunft den Eindruck gehabt, dass es gut wäre wenn er versuchte mehr zu sein, jemand, auf den sie sich stützen konnte. Dass sie sich freute, dass er wieder hier war, nicht nur weil ein lange abwesender Bruder wieder zurück war, sondern weil sie im Gegensatz zu Iring und Rhaban noch jemanden brauchen konnte, der für sie da war.


    Das war einer der Gründe, warum er Dagny gefragt hatte ob sie mitkommen wollte. Der andere war schlicht, dass er nach all den Jahren jede Gelegenheit nutzen wollte, jemanden von seiner Familie zu sehen. Gerade seine Geschwister, von denen er eben so viel verpasst hatte, wo er gar nicht so genau wusste, welche Erwachsene aus den Kindern von früher denn nun geworden waren. Deswegen ritt sie jetzt neben ihm und begleitete ihn zu ihrer Mutter, und auch wenn der Ritt ein kurzer war, hatten sie dann vielleicht vor Ort Zeit, ein bisschen zu reden. „Sag mal, weiß Ma jetzt eigentlich Bescheid, dass ich wieder da bin? Ich hab das Ergebnis von der Diskussion von Rhaban und Iring nicht mehr mitbekommen...“

  • Eigentlich hatte Dagny ihre Mutter erst kürzlich besucht. Aber in letzter Zeit hatte sie oft das Bedürfnis, raus zu gehen. Raus aus der Stadt, raus aus der Villa ihrer Familie. Nicht, weil sie dort etwas störte, sondern weil eine innere Unruhe von ihr Besitz ergriffen hatte, die nicht weichen wollte, und die sich nur dadurch besänftigen ließ, dass sie in Bewegung war. Sie fühlte sich wie ein Pferd in einem Stall, das lieber draußen herumlaufen wollte. Ihr Leben war in Schieflage geraten insbesondere seit Witjons Tod. Er war … ja, eine Art Ersatzvater für sie gewesen. Derjenige, auf den sie sich stets hatte stützen können, und der sich um alles gekümmert hatte. Wieviel das eigentlich gewesen war, wurde allen erst so richtig bewusst, seitdem er nicht mehr da war. Mal ganz abgesehen von der persönlichen Komponente, über die Dagny nicht nachdenken wollte und die sie, bis auf wenige schwache Momente, zu verdrängen versuchte, fehlte er in seiner Rolle als Pater Familias. Und da gab es niemanden, der das im Moment übernehmen konnte oder wollte.


    Rhaban und Iring hatten sich verstärkt auf die Freya Mercurioque gestürzt, in der Witjon ebenfalls sehr aktiv gewesen war und fehlte. Die beiden hatte schon lange vorher dort gearbeitet und rutschten jetzt mehr oder weniger in die Rollen hinein, die ihnen sowieso einmal zugedacht worden wären. Jetzt mussten sie eben früher als gedacht mehr Verantwortung übernehmen. Dagny verbrachte ebenfalls viel Zeit in der Freya. Einmal, weil sie ebenfalls etwas Sinnvolles zu tun brauchte, um sich abzulenken. Natürlich könnte sie auch in der Villa helfen, aber das reichte ihr nicht und füllte sie auch nicht aus. Sie war nicht die Dame des Hauses, das war zu Witjons Lebzeiten Octavena gewesen – und eigentlich war sie es immer noch. Sie teilte sich die Rolle mittlerweile mit Dagmar, zumindest soweit Dagny das mitbekommen hatte, aber … na ja, ihre eigene Rolle war das jedenfalls nicht. Das würde sie erst sein, wenn sie eine eigene Familie hatte. Aus dem Grund hatte sie etwas Anderes tun wollen – und das gemacht, was sie als Kind auch immer getan hatte. Sie war ihren Brüdern nachgefolgt, insbesondere Rhaban, dem sie vom Alter her und eigentlich auch charakterlich am nächsten stand.


    Ihr Blick fiel auf Hadamar, der neben ihr her ritt und der nun schon seit einigen Tagen wieder zurück in der Heimat war. Gesehen hatte sie ihn dennoch kaum, abgesehen von seinem Überraschungsbesuch kurz nach seiner Ankunft. Danach war er eigentlich hinter dem Wall des Legionslagers verschwunden und zumindest bei Dagny nicht mehr aufgetaucht. Gut, er war auch nicht hierher versetzt worden, um Zeit mit seiner Familie zu verbringen, sondern, um bei der Legio zu sein, aber trotzdem freute sie sich über die Gelegenheit jetzt, Zeit mit ihrem ältesten Bruder zu verbringen. Sie grinste auf seine Frage hin schelmisch: „Nein, sie weiß es nicht. Denk doch mal, was sie für ein Gesicht machen wird, wenn sie dich sieht. Das wird eine tolle Überraschung werden!“ Natürlich hatte sie sich auf die Seite von Rhaban geschlagen. Ihre Gedanken folgten oft ähnlichen Pfaden, auch wenn sie ebenfalls sehr an Iring hing. Vielleicht gerade weil er so anders war als sie. Welche Beziehung sie zu Hadamar hatte, jetzt, wo sie kein Kind mehr war, würde sich wohl noch herauskristallisieren. „Und? Wie ist es so bei der XXII-ten? Sehr anders als bei … als dort, wo du vorher warst?“

  • Hadamar zog leicht die Augenbrauen hoch. „Nicht“, wiederholte er ein bisschen skeptisch. Er war sich nicht ganz so sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Ihre Mutter war nicht mehr die Jüngste, und zumindest so wie Hadamar sie im Kopf hatte, auch nie so ein großer Freund von Überraschungen gewesen. „Bist du sicher? Ich hab immer gedacht, Überraschungen wären nicht so ihr Ding... aber vielleicht liegt das an der Art Überraschung, die sie früher immer von mir gekriegt hat.“ Außerdem war er die letzten Jahre nicht da gewesen. Er wusste nur, dass sie, wie alle, älter geworden war, aber hatte keine Ahnung ob sie deswegen tatsächlich weniger aushielt oder so. War auf jeden Fall zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, das Kind war in den Brunnen gefallen – er konnte höchstens Dagny vorschicken um ihn anzukündigen, wenn sie da waren, aber so wie Dagny grinste, als sie ihm erzählte, dass ihre Mutter es nicht wusste, wie sie sich freute über die Überraschung für sie, würde sie da wahrscheinlich gar nicht mitspielen.
    Es war auch aus noch einem Grund müßig, sich Gedanken zu machen, denn im Grunde war es nicht verwunderlich, dass Rhaban sich durchgesetzt hatte. Wenn es um etwas ging, das ihm letztlich nicht so wichtig war, war Iring schon immer eher bereit gewesen nachzugeben. Er hob sich seine Energie lieber für die wesentlichen Themen auf, daran hatte sich scheinbar nichts geändert. Ein bisschen war er da wie Hadamar selbst, der hätte vermutlich auch irgendwann einfach abgewunken und nachgegeben, hauptsächlich weil er keine Lust darauf gehabt hätte, die Diskussion fortzuführen.


    „Mmmh... interessant“, erwiderte er dann auf Dagnys Frage hin. Die XXII erschien bislang tatsächlich am ehesten als das beschreibbar. Es war zumindest eine interessante Ausgangslage, in der sie sich befanden im Moment. Er hatte keinen Überblick über die Rekrutierungsbemühungen, die derzeit womöglich noch am Laufen waren, aber Fakt war: die Legio war noch lange nicht auf Sollstärke. Und der eine Teil der bereits Rekrutierten nahm das mit dem stoischem Gleichmut der Veteranen auf, während der andere Teil das mit der nervösen bis ängstlichen Aufregung der Tirones quittierte. Was fehlte, war die breite Basis dazwischen, die sonst den Kern jeder halbwegs gut aufgestellten Legion bildete – Männer im besten Alter, weder Tiro noch Veteran, die schon genug Jahre auf dem Buckel hatten um Erfahrung zu haben, aber noch nicht so viel dass der Körper schon anfing Ärger zu machen. Eine Basis, die sich noch dazu kannte und eingespielt war, weil sie mehr oder weniger in dieser Form, mit diesen Personen, schon jahrelang existierte. Hadamar machte das ein bisschen Sorge, wenn er ehrlich war. Eine erfahrene, eingeschliffene und aufeinander eingespielte Centurie konnte wahnsinnig viel erreichen, auch mit deutlich weniger Mann als die Sollstärke vorgab. Aber wenn Erfahrung fehlte, der Schliff oder sich die Männer allesamt erst seit kurzem kannten, konnte man erst mal deutlich weniger erwarten – und das Problem bei der XXII war: da traf aktuell nicht nur eines, sondern alles davon zu. Viel Arbeit für die Centuriones, die ihre Männer in kürzestmöglicher Zeit zu einer Einheit formen mussten.
    „Und anders, ja. Also, interessant war’s bei der XV auch, aber auf andere Art. Zur XV gibt’s viele Strafversetzungen, zum Beispiel, das ist nen ganz anderes Kaliber als bei der XXII grad. Da ist im Moment halt vieles neu. Auch die Veteranen, die noch mal zurück gekommen sind für nen paar weitere Jahre Dienst, kommen von überall her, manche kennen sich, manche kennen die Gegend, viele aber auch net. Ist spannend grad.“ Er grinste leicht.

  • „Genau, daran liegt’s! Das hier ist eine positive Überraschung.“ Sie zwinkerte ihrem Bruder zu, um ihm zu bedeuten, dass ihre Worte nicht ernst gemeint waren. Zumal er im Grunde genommen recht hatte – ihre Mutter war keine große Freundin von Überraschungen, egal welcher Natur. Aber freuen würde sie sich trotzdem riesig und Dagny war überzeugt, dass die Freude noch einmal gesteigert wurde, wenn man im Vorfeld nichts von seinem Glück wusste. Von den Überraschungen, die Hadamar erwähnt hatte, hatte sie ohnehin nicht viel mitbekommen, da sie damals noch zu klein gewesen war. Und ihre Mutter war nicht der Typ Mensch, der sich im Nachhinein darüber ausließ. Eldrid hatte Dagny das eine oder andere erzählt, aber all das lag weit in der Vergangenheit – und somit würde wohl die Freude über den zurückgekehrten Sohn überwiegen. Endlich mal einer, der zurückkam, und nicht einer, der fortging und den man dann nie wiedersah.


    Dagny verdrängte die schmerzlichen Gedanken, die sich bei dieser Überlegung an die Oberfläche zu drängen drohten, und hörte stattdessen zu, was Hadamar über die Legio erzählte. Die Schilderung entlockte ihr ein Lächeln. „Klingt chaotisch. So gar nicht nach der Legio.“ Die immer schön in Reih und Glied stand oder marschierte, bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Dagny sie sah. „Warum wird eigentlich so viel rekrutiert? Nur, weil hier die Grenze ist? Oder hat das was mit der Anwesenheit des Caesar zu tun? Der ist bestimmt nicht hier, um unseren schönen germanischen Winter zu genießen …“ Dagny ging davon aus, dass Hadamar bereits davon gehört hatte, dass der Caesar hier war. Das hatte sich in der Stadt ziemlich schnell herumgesprochen – und in der Legio würden sie noch mal eher Bescheid wissen. Zunächst hatte Dagny dem aufgeregten Getuschel keine Beachtung geschenkt, aber als dann auch in der Freya davon erzählt wurde und zumindest für ein, zwei Tage niemand ein anderes Thema zu haben schien, war offensichtlich geworden, dass es wohl stimmte. Es war nicht ungewöhnlich, dass Prominenz aus Rom anreiste, um hier wichtige Posten zu bekleiden, aber ein Mitglied der kaiserlichen Familie war dann doch etwas Besonderes. Vielleicht hatte er ihn sogar gesehen – etwas, das Dagny bisher nicht vergönnt gewesen war.


    „Und bei dir? Bist du trotz der interessanten Lage bei der Legio froh, wieder hier zu sein oder hattest du dich gut eingelebt in Cappadocia?“ Wirklich viel geredet hatte sie mit ihm noch nicht über seine Zeit dort – und war dann doch neugierig, zu erfahren, wie das Leben in einem Land, das ihr sehr fremdartig erschien, gewesen war.

  • Hadamars etwas skeptischer Blick wandelte sich zu einem vergnügten Funkeln, als er seiner Schwester zugrinste auf ihr Zwinkern hin. Er nahm einfach an, dass sie Geschichten genug über ihn gehört hatte, um sehr genau zu wissen, dass er bisher eher nicht zuständig gewesen war für positive Überraschungen. Er hatte auch nicht ständig für Ärger gesorgt, so war es nicht gewesen, aber wenn er irgendwie aufgefallen war, dann in der Regel negativ, schon allein weil er sich immer gegen die Erwartungen seiner Mutter gewehrt hatte. Allein dass er bei der Legio war, gehörte ja auch schon dazu, das hatte sie nie gewollt, weder für ihn noch für einen seiner Brüder. Aber nun ja... Iring und Rhaban machten sie ziemlich sicher stolzer als er. Die hatten sich wenigstens vom Exercitus ferngehalten und mit ihrer Arbeit in der Freya tatsächlich was Verwalterisches gemacht.


    „Ach, nee, chaotisch ists deswegen trotzdem net. Sie müssen nur eingeschliffen werden.“ Er zuckte die Achseln. „Auch wenn das ziemlich herausfordernd ist gerade, Chaos lassen wir deswegen noch lange net ausbrechen.“ Wäre ja noch schöner, wenn es so weit käme – ganz davon abgesehen, dass dann er selbst dran sein würde, wenn er es nicht schaffte seine Centurie im Zaum zu halten. Im Zweifel musste er sie halt zurecht peitschen, wenn es sein musste, und genau das würde er tun, bevor es tatsächlich chaotisch wurde.


    Bei der nächsten Frage lachte er leise. „Rekrutiert wird, weil die Legio nach wie vor nicht bei voller Sollstärke ist.“ Das war kein großes Geheimnis – es fiel einfach auf, ob da fünf- bis sechstausend Mann vor Ort waren oder knapp über die Hälfte davon. „Wir sind genug, sonst wäre die Vexillation der II nicht abgezogen, aber das heißt nicht, dass wir deswegen nicht weiter unsere Reihen füllen.“ So ganz sicher war Hadamar sich dessen nicht... angesichts der Tatsache, dass die XXII eben gerade so war, wie sie war, aus sehr vielen Soldaten bestand, die hier neu waren, gleich ob nun Veteran oder Tiro, machte er sich ja selbst Gedanken. Es ließ sie auf jeden Fall weniger schlagkräftig sein als eine eingespielte Legio mit vergleichbarer Mannstärke. Aber das würde er seiner Schwester nicht unter die Nase reiben. Sie sollte sich sicher fühlen, und beschützt, und nicht anfangen sich Sorgen zu machen. Und das war etwas, was er sowieso schon immer recht gut konnte und im Lauf der Jahre dann perfektioniert hatte: was er dachte in sich zu verschließen, und etwas anderes auszustrahlen. Hatte ihm beim Spielen immer geholfen. Und jetzt hieß es halt in der Regel: Zuversicht ausstrahlen, selbst wenn er sie nicht ganz so empfand, überzeugend wirken, auch wenn er selbst nicht oder nur teils überzeugt war. Brachte das Dasein als Centurio so mit sich, es hatte mehr als nur eine Situation gegeben, in der es nötig gewesen war sich genau so gegenüber seinen Männern zu geben. Mehr als nur einen Kampf, den sie gewonnen hatten, weil sie ihm geglaubt hatten.

    „Was hast du gegen unseren Winter?“ grinste er zurück. „Der ist wunderbar! Ich bin so froh, endlich wieder einen hiesigen zu erleben, in Cappadocia hast du das Gefühl auszutrocknen, obwohl um dich rum Schnee liegt. Der Caesar kann froh sein, ihn zu erleben.“ Dann zuckte er die Achseln. „Er wird demnächst irgendwann den Adler übergeben, aber wann genau steht noch nicht fest.“ Hadamar war sich nicht ganz so sicher, was er davon halten sollte, dass der Caesar hier war. Für die Provinz war es eine Ehre, für die Einheiten hier bedeutete es aber vor allem mehr Arbeit. Es war schlicht ein Sicherheitsrisiko mehr, das im Moment bei der Ala weilte, aber irgendwann auch zur Legio kommen würde. Darüber hinaus wusste er nichts über den Mann. Und auch herzlich wenig über seinen Vater. Der war der vierte Kaiser, den es gab seit Hadamar sich den Adlern verpflichtet hatte, und obwohl sein Eid ihm galt, diesem nicht greifbaren Mann im fernen Rom, und dem Reich, war das, was ihn antrieb, doch etwas anderes. Die Legion, die Kameraden, die Gemeinschaft. Und auch, gerade hier in seiner Heimat wieder: die Menschen der Provinz, in der er stationiert war. Die die Legion letztlich schützte. „Doch, eingelebt hab ich mich da. Cappadocia ist ganz anders als hier, aber auch schön, und vor allem interessant, fand ich. Interessant is ja erst mal nix Schlechtes“, neckte er sie grinsend. „Aber ich bin froh, wieder hier zu sein. Ist halt Heimat, das ist was anderes, das merkt man. Das Land, die Leute... und die Familie. Vor allem die Familie.“ Sein Grinsen wurde zu einem versonnenen Lächeln, und er sah sie an. „Ich hab euch vermisst.“

  • „Na, wenn das alles ist, ist es ja gut!“ Hadamar wirkte optimistisch bzw. so, als sei alles, wie es sein sollte. Vielleicht kam es Dagny auch nur so vor, als wäre das ungewöhnlich, weil in letzter Zeit so viel Bewegung in der Legio gewesen war. Der Abzug der II-ten, der Aufbau der XXII-ten – das sorgte wohl auch in einem so straff organisierten Bereich wie dem römischen Heer für Unruhe. Dennoch ließ dieser Teil des Gesprächs Dagny mit einem Gefühl von Leere zurück, so als habe sie einen Blick in einen Raum geworfen und als sei ihr dann die Tür vor der Nase zugeschlagen worden, ehe sie etwas von Belang zu sehen bekam. Da war er wieder, der Grund, warum der schriftliche Austausch mit Hadamar ihrer Ansicht nach nur bedingt funktioniert hatte: Der Exercitus war eine Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte und die ihr deshalb vermutlich, bis auf die oberflächlichen Dinge, die man eben so wusste, ewig ein Rätsel bleiben würde. Vielleicht interpretierte sie auch mehr in diese Welt hinein als da war.


    Jedenfalls war sie froh, als das Gespräch sich anderen Themen zuwandte, obwohl sie selbst es gewesen war, die angefangen hatte, über die Legio zu reden. „Ich? Ich hab gar nix gegen unseren Winter! Es könnte etwas mehr die Sonne scheinen, aber sonst bin ich zufrieden. Ich habe nur bemerkt, dass diejenigen, die aus dem Süden hierherkommen, dem Winter eher … sagen wir mal, skeptisch gegenüberstehen. Aber vielleicht ist der Caesar auch froh, ich weiß es nicht, er hat sich mit mir noch nicht darüber ausgetauscht“, erwiderte sie mit einem spitzbübischen Lächeln, das bei den folgenden Worten noch etwas breiter wurde. „Wie kann man denn austrocknen, wenn Schnee liegt? Ich kann dir gerne damit den Kopf waschen, dann siehst du, wie schön nass er ist.“ Früher hatten ihre Geschwister das immer gern mit ihr gemacht, als Kleinste konnte sie sich am wenigsten wehren. Aber sie hatte sich gerächt, indem sie ihren Brüdern in einem unerwarteten Moment Schnee in den Kragen gestopft hatte.


    „Interessant?“ kommentierte sie seine Schilderung über Cappadocia, die … na ja, erschreckend inhaltsleer war. Frustrierend inhaltsleer. Nicht das, was Dagny hören wollte. Und das wusste Hadamar ganz genau. „Ist ja schön, dass du so ein interessantes Leben führst, Bruderherz, aber ein bisschen ausführlicher darf es schon sein!“ Dann wurde ihr Lächeln etwas sanfter und sie langte kurz zu ihm rüber und drückte seinen Arm. „Wir freuen uns auch alle sehr, dass du wieder da bist. Ich … freu mich, dass du wieder da bist. Es bedeutet mir sehr viel, nach all den Abschieden endlich mal wieder jemanden willkommen zu heißen.“ Ohne es zu wollen, stiegen ihr bei den Worten Tränen in die Augen, aber sie wandte den Blick ab, damit er es nicht sah. Sie wartete bis der Schleier sich aufgelöst hatte und sie wieder klar sehen konnte.


    Am Horizont zeichnete sich das Landgut der Familie ab. Dagny atmete ein paar Mal ein und aus, sie wollte eigentlich nicht jetzt schon emotional werden. Das würde gleich noch zu Genüge kommen, wenn sie das garantiert rührende Wiedersehen zwischen Hadamar und ihrer Mutter erlebte. „Wie wollen wir's angehen? Sollen wir einfach reinplatzen oder soll ich vorgehen und einen Besucher ankündigen, den sie bestimmt unbedingt begrüßen will?“

  • „Ich versteh die Leut aus dem Süden ja auch net. Beschweren sich über unsern Winter, und sehnen sich nach einem Sommer, der so heiß ist, dass man gar nix mehr zustande bringt“, grinste Hadamar. Sowohl in Cappadocia als auch in Rom oder Carthago war es ihm jedenfalls kontinuierlich zu heiß gewesen im Sommer. Dann musste er lachen. „Ja, das hättst du wohl gern. Du kannst es ja gern mal versuchen.“ Auch er erinnerte sich in diesem Moment unwillkürlich an früher, wie sie als Kinder im Schnee getobt hatten. „Aber frag mich nicht, wie das geht. Die Luft ist total trocken da, im Winter wie im Sommer, und wenns mal regnet, ist die Feuchtigkeit sofort wieder weg – und der Schnee, mei, der bleibt halt liegen.“ Er musste wieder lachen, als Dagny sich beschwerte, dass er so wenig erzählte. „Tut mir leid, aber du weißt doch dass ich nicht der große Erzähler bin. Da musst du Tariq mal fragen, der kann das hervorragend... Aber wenn wir bei Ma sind, werd ich nen bisschen mehr zu erzählen“, versprach er. Zum einen weil seine Mutter sicher auch ein bisschen was würde hören wollen, und zum anderen weil er spätestens da dann nicht mehr auskommen würde. Seine Mutter und Dagny waren sich in der Hinsicht relativ ähnlich, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatten, dann zogen sie es in der Regel auch durch, und diesem Fall hieß das: Hadamar würde erzählen, ob er wollte oder nicht.


    Bei Dagnys nächsten Worten verstummte Hadamar für einen Moment. Er war nicht der einfühlsamste Mensch, aber die kurze Pause in ihrem Satz, dass sie ihn nicht ansah, und nicht zuletzt natürlich was sie konkret sagte – nach all den Abschieden endlich wieder jemand, der kam, nicht ging... Er hätte schon taub und blind sein müssen, um nicht zu merken, dass ihr das gerade nahe ging. Er legte eine Hand auf ihre, die seinen Oberarm drückte, und als sie ihren Arm zurückzog, lenkte er sein Pferd dicht an ihres, so dass er ihr kurz den Arm um die Schultern legen und sie drücken konnte. „Mir auch“, murmelte er. Auch wenn streng genommen er niemanden hatte zum willkommen heißen, weil er derjenige war der zurückgekommen war, war das Gefühl ja trotzdem das gleiche. Viel mehr sagte er allerdings nicht... weil ihm nicht viel mehr einfiel, was er darauf hätte sagen können, und weil er sich selbst auch nicht ganz traute. Der Verlust von Witjon und vor allem Eldrid ging auch ihm immer noch nah. Und in diesem Moment wollte er nicht, dass Dagny den Eindruck bekam ihn trösten zu müssen, sondern er wollte sie trösten. Dass er einfach da war und sie kurz in den Arm nahm, war da hoffentlich schon mal ein guter Anfang.


    „Ouh. Eh. Ich würd ja sagen: warn sie vor“, meinte er schließlich, als sie fast da waren und Dagny überlegte, wie sie ihrer Mutter den Besuch präsentieren sollten. „Andererseits: ne Überraschung wird’s jetzt ja sowieso. Können wir eigentlich auch reinplatzen...“ Hadamar beschloss es sich einfach zu machen und ergänzte noch mit einem leichten Grinsen: „Ich verlass mich da auf deine Einschätzung.“

  • Dagny grinste nur, als Hadamar ihr sagte, sie könne ja gern mal versuchen, ihm den Kopf zu waschen. Oh ja, das würde sie! Natürlich erst dann, wenn er nicht damit rechnete, ansonsten hatte sie wohl kaum eine Chance gegen einen gestählten Soldaten. Das kappadokische Winterwetter machte für sie auch nach Hadamars näherer Erläuterung keinen Sinn – vielleicht, weil er, wie er selbst sagte, kein begnadeter Erzähler war. Allerdings war sie sich nicht ganz sicher, ob er das tatsächlich nicht war oder ob er es einfach nicht sein wollte. Seine Worte Cappadocia betreffend hinterließen bei ihr jedenfalls ein weiteres Gefühl der Leere – ähnlich wie eben, als es um den Exercitus gegangen war. Abermals hatte sie die Hand ausstreckt, hatte teilhaben wollen an seinen Gedanken und seinem Leben – und wieder hatte er ihr zwar geantwortet, aber wenig gesagt. Sie wusste nicht, ob ihre derzeitige melancholische Stimmung sie auf so etwas empfindlich reagieren ließ oder ob es doch ihrer langen Trennung geschuldet war, dass ihre Leben irgendwie auseinander gedriftet waren. „Ich höre mir sicher gerne an, was Tariq über seine Heimat zu erzählen hat. Aber es ging mir bei meiner Frage in erster Linie um deine Erfahrungen und Gedanken dazu. Ein Einheimischer erzählt bestimmt andere Dinge über Cappadocia als ein Germane es tut.“ Sie sagte es leichthin, um nichts von ihren eigentlichen Gedanken zu verraten. „Aber wenn du gleich bei Ma etwas erzählst, ist es ja gut.“


    Im nächsten Moment überraschte er sie, als er sein Pferd zu ihrem lenkte und einen Arm um sie legte. Sie lehnte sich kurz an und drückte ihn zurück. Sie musste sich arg zusammenreißen, um nicht einfach loszuweinen. Doch wenn dieser Damm brach, war so schnell kein Halten mehr, und dann würde nichts werden aus dem freudigen Wiedersehen zwischen Hadamar und ihrer Mutter. Es hatte sich einfach zu viel angestaut in den letzten Monden. Und sie hatte selbst dafür gesorgt, dass es dort blieb, hatte sich abgelenkt, damit sie nicht innehalten und nachdenken musste über das, was ihr fehlte. Weil sie selbst Angst hatte vor ihrer Reaktion. Sie wusste, dass sie ein emotionaler Mensch war und wenn sie allein war, weinte sie auch hin und wieder, ohne dass es ihr wirklich besser ging danach. Sie wusste auch, ohne dass er es sagen musste, dass Hadamar ebenfalls trauerte, insbesondere um Eldrid, der er einst nahegestanden hatte, so wie sie Rhaban nahestand. Sie selbst hatte gerade angefangen, den Tod von Eldrid zu verkraften und zu akzeptieren – und auch den von Audaod, was ihr leichter gefallen war, weil sie und er keine enge Bindung geteilt hatten. Aber Nelas Tod und Witjons und das schreckliche Schicksal von Alrik, mit dem sie sich überhaupt nicht auseinandersetzen wollte, weil es auf gewisse Weise sogar schlimmer war als der Tod, das alles ließ sie lieber nicht an sich heran. Gerade hier und gerade jetzt waren weder der Ort noch die Zeit dazu.


    Deshalb war sie erleichtert, als ihr Pferd ein wenig stampfte, sodass sie sich damit beschäftigten konnte, es zu beruhigen und scheinbar wieder unter Kontrolle zu bringen. Die letzte Strecke war schnell zurückgelegt und der Hof lag verlassen da, zumindest lief draußen gerade niemand herum. „Na schön, lass uns einfach reinplatzen“, entschied sie, jetzt wieder grinsend. „Wie du sagst, wird es so oder so ne Überraschung.“ Sie saß ab und band ihr Pferd draußen an. Sie wartete auf Hadamar und betrat dann gemeinsam mit ihm das Haus und den großen Gemeinschaftsraum, in dem ihre Mutter zum Glück auch direkt saß. Sie hatte neben dem Feuer Platz genommen und machte irgendeine Näharbeit, die Dagny so sehr verabscheute. „Heilsa Ma, schau mal, wenn ich mitgebracht habe! Ich dachte, du würdest dich bestimmt freuen!“ Ihre Mutter blickte auf, dann kullerte das Nähzeug aus ihren Fingern und machte Bekanntschaft mit dem Steinboden. Sie schlug die Hände vor den Mund und starrte ihre Kinder einfach nur eine Weile stumm an. Vermutlich war es ganz gut, dass sie gerade saß, ansonsten hätten die Beine wohl nachgegeben. Schließlich stand sie aber doch auf, ohne bisher ein Wort gesagt zu haben, lief zu Hadamar hinüber und schloss ihn in die Arme.

  • Irgendwie hatte Hadamar das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Allerdings wusste er nicht so genau was... war es wirklich nur, dass Dagny gern von ihm mehr hören würde, wie sie sagte? Sicher war er sich nicht, aber daran konnte und würde er sich ja noch mal versuchen, wie er ihr versichert hatte, wenn sie bei ihrer Mutter angekommen waren. Auf den Mund gefallen war er ja nicht wirklich, erzählen konnte er schon das ein oder andere. Das Problem war eher, was... er hatte nicht so einen Blick für die besonderen, die denkwürdigen Dinge. Als er beispielsweise nach Cappadocia gekommen war, war ihm freilich vieles aufgefallen, was anders war. Aber er hatte sich das Zeug angesehen, hatte irgendwas gedacht in der Art wie: Aha. Interessant, und hatte dann seinen Stiefel bei der Legio durchgezogen. Wo er sowieso über Grenzpatrouillen und sonstige Einsätze hinaus selten herausgekommen war, und bei Einsätzen hatte er nun wirklich nicht die Art von Blick für seine Umgebung, die man brauchte um später davon berichten zu können. Er musste sich wohl ein bisschen in Dagny hinein versetzen, sich an seine Zeit in Cappadocia erinnern und versuchen diese Erinnerungen mit ihren Augen zu betrachten... vielleicht fiel ihm dann das ein oder andere ein, was er erzählen und beschreiben konnte.


    Ob die kurze Umarmung nun richtig gewesen war oder nicht, auch darüber war er sich plötzlich nicht mehr so sicher. Sie erwiderte sie kurz, das ja, aber sie wirkte auch... froh? als die Verbindung erneut abbrach. Hadamar unterdrückte ein Seufzen. Ihn beschlich der Gedanke, dass es früher, als sie noch klein gewesen war, einfacher gewesen mit ihr. Einfacher sie zu trösten, einfacher sie zu begeistern, einfacher sie zufrieden zu stellen. Vielleicht waren die Verluste im letzten Jahr zu viel gewesen, all die Abschiede, die sie erwähnt hatte, die ja noch dazu alle endgültig gewesen waren. Und vielleicht musste er sich auch erst daran gewöhnen, dass sie kein kleines Kind mehr war, sondern erwachsen. Für einen Moment war er unschlüssig, ob er jetzt etwas sagen sollte. Ach was, jetzt – er war unschlüssig, ob er überhaupt etwas sagen sollte. Er wollte sich kümmern, er wollte da sein, aber er wusste nicht genau wie, und auch wenn er nach seiner Ankunft zunächst den Eindruck gehabt hatte, zumindest Dagny würde sich darüber freuen, war er sich jetzt plötzlich unsicher, ob das nicht einfach vermessen war von ihm. Weil auch sie erwachsen war, und weil auch sie all die Jahre ohne ihn ausgekommen war. Die Entscheidung, ob er jetzt konkret noch etwas sagen sollte, wurde ihm dann allerdings abgenommen, weil sie ankamen – und ob er überhaupt etwas sagen sollte... Er unterdrückte ein weiteres Seufzen. Würde er wohl, wenn sich die Gelegenheit ergab. Wenn er sich dann eine Abfuhr einfing, war es halt so, aber das war kein Grund, es nicht wenigstens zu probieren.


    Reinplatzen also, war Dagnys Entscheidung, und so machten sie es dann auch. „Heilsa, Ma“, sagte auch er, aber deutlich leiser als Dagny – er murmelte es fast. Er wusste nicht warum, aber ihn überkam in diesem Moment beinahe so etwas wie Scheu. Wo er bei seinen Geschwistern mit offener Wiedersehensfreude reagiert hatte, stand er bei seiner Mutter jetzt da und sah sie einfach nur an. So wie sie ihn ansah, das Nähzeug auf dem Boden, die Hände vor den Mund geschlagen, anstarrte vielmehr, als würde sie... einen Geist sehen oder so. Hadamar machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber irgendwie wollte nichts herauskommen. Er fühlte sich wieder als ob er noch keine fünfzehn Sommer gesehen hätte, jung und unbedarft, mit Sicherheit irgendwas auf dem Kerbholz, von dem sie wusste, auch wenn er jetzt noch nicht so genau wusste, von was genau sie erfahren hatte, aber irgendwas erfuhr sie immer irgendwie. Sie starrten sich an, die Mutter, die immer versucht hatte ihre Familie zusammenzuhalten und doch so gelitten hatte unter dem Tod des Vaters, und ihr Ältester, das schwarze Schaf, der, der die meisten Schwierigkeiten gemacht hatte, bei dem sie nicht gewusst hatte, ob aus ihm überhaupt was Vernünftiges werden würde, und bei dem sie dann, als er erwachsen geworden war, ähnlich wie bei ihrem Mann in ständiger Erwartung seines Todes leben musste.


    Hadamar kam dieser Moment vor wie eine halbe Ewigkeit. Er versuchte sich selbst dazu zu bringen etwas zu sagen, oder sich auf sie zu zu bewegen, aber er schaffte es nicht, er fühlte sich wie erstarrt. Erst als sie die Distanz zwischen ihnen überbrückte und ihn umarmte, kam endlich auch wieder Leben in ihn, und er schloss sie fest in die Arme. Sie wirkte so... so zart und zierlich. Irrte er sich, oder war sie noch kleiner und schmaler geworden als er sie in Erinnerung hatte? Oder lag es daran, dass er nur langsam von seinem fünfzehnjährigen Ich wieder zu seinem heutigen Selbst fand, und er nur in Erinnerung hatte, wie er sie als schmaler, drahtiger Jugendlicher umarmte? Er wusste es nicht. Er wusste gerade nur, dass er trotz der Tage, die er schon hier war, erst jetzt das Gefühl hatte wirklich heim gekommen zu sein. Auch wenn gerade er seine Probleme mit seiner Mutter gehabt hatte, Probleme, für die oft er verantwortlich gewesen war, wie er zumindest heute im Rückblick eingestand, war sie es, die ihm dieses Gefühl von Zuhause gab. Weil sie seine Mutter war. Weil sie auch schon schwierige Zeiten hinter sich gebracht hatten, allen voran den Tod seines Vaters. Weil sie ihm dieses Gefühl immer gegeben hatte, auch wenn sie sauer auf ihn gewesen war, wenn sie geschimpft hatte oder es ihr schlecht gegangen war. Selbst in den Zeiten, in denen er sich völlig unverstanden gefühlt hatte von ihr: dieses Gefühl von Heimat und dass er trotz allem kommen konnte, das hatte er immer bei ihr gehabt. Und er versuchte, all das irgendwie in seine Umarmung zu legen, zusammen mit der Dankbarkeit, die er in diesem Moment plötzlich empfand.

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