Nachdem Siv den Garten – langsam zunächst, dann rennend, sobald sie sich außer Sicht- und Hörweite wähnte – durchquert und die Terrasse wieder erreicht hatte, blieb sie für einen Moment stehen. Wohin sollte sie gehen? So aufgewühlt, durcheinander und verletzlich, wie sie sich im Moment fühlte, wäre ihr erster Zufluchtsort Garten oder Stall gewesen. Beides kam derzeit nicht in Frage. Im Garten, obwohl sehr groß, war die Gefahr zu groß, dass sie Corvinus und seiner Besucherin über den Weg lief und sich die Frage gefallen lassen musste, was sie noch dort zu suchen hatte, und um in den Stall zu gelangen – der ihr ohnehin nach wie vor verboten war – musste sie ebenfalls durch den Garten hindurch. Und sie wollte um keinen Preis das Risiko eingehen, noch einmal den beiden zu begegnen. Für heute hatte sie wahrhaftig genug, genug an seelischem Aufruhr, genug an Gefühlschaos, genug… einfach genug. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht einmal Wut in sich schüren über diese arrogante Römerin, die sich für so viel besser hielt, und die sich so selbstverständlich an Corvinus Seite bewegte, als sei sie dafür geboren worden… was sie im Grunde ja auch war. Siv rang nach Luft, und das Geräusch, das sie dabei machte, klang nach einer Ertrinkenden. Hilflos ballte sie die Hände zu Fäusten, und im nächsten Augenblick hatte sie sie wieder vor den Mund gepresst, biss in die zarte Haut ihres rechten Handrückens, um den Schrei zu ersticken, der sich diesmal nicht mehr unterdrücken ließ. Aber immerhin waren nur gedämpfte Laute zu hören, nichts, was über die nächste Umgebung hinaus zu hören war. Und kaum war der Schrei verklungen, wurde er abgelöst vom ersten Schluchzer. Während die Tränen über ihr Gesicht rannen, lief sie ins Haus und suchte nach einer Nische, einem unbeobachteten Winkel, in dem sie sich verstecken konnte, und fand ihn schließlich beim Hausaltar.
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Die Sonne scheint, der Tag ist wie neu
Keinen Augenblick den ich bereu'
Das Gewitter ist weg und war wichtig für jeden
Die Luft ist feucht, es riecht noch nach Regen
Ich hab Angst gehabt, als es über mich hereinbrach
Mich gefragt, ist das heute wirklich dein Tag ?
Nicht gewagt, mich den Wolken zu stellen
Hielt ich es fest an Momenten um mich noch zu erhellen
Doch ich war zu verschwommen in alledem
Mit Sicherheiten so angenehm
Da wurd' mein Leben leider zu bequem
Und überraschend wie'n Schaltjahr war Zahltag
Alle hatten's kommen sehen, ich stellte mich dumm
Hatte Angst zu versagen und das machte mich stumm
Jedoch mich nicht zu verschonen war richtig
Denn die Lektionen des Lebens war'n wichtig
Es ist klar - der Regen wäscht auf jeden Fall
Weg was war - und es erscheint mir überall
Schenkt er auch neues Leben - 'ne neue Chance für jeden
Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht, wie nach 'nem Sommerregen
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Siv wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder hervor kam. Die Flavia musste inzwischen schon wieder gegangen sein, und das seit geraumer Weile, denn es war bereits später Nachmittag. Vermutlich hatte in der Zwischenzeit auch schon irgendjemand nach ihr gesucht, weil irgendeine unangenehme Arbeit zu erledigen war – aber momentan war ihr das egal. Sie wollte nach wie vor einfach nur ihre Ruhe haben. Inzwischen hatte sie sich wenigstens etwas wieder gefangen, auch wenn sie um keinen Schritt einer Lösung näher gekommen war, auch wenn sie immer noch das Gefühl hatte, einfach nicht zu wissen, was um alles in der Welt sie tun sollte. Vielleicht wäre es das Beste, Corvinus einfach zur Rede zu stellen. Aber dazu hatte sie im Moment nicht die Kraft, geschweige denn einen möglichen Versuch, mit ihm zu sprechen, erneut scheitern zu sehen. Er wollte nicht mit ihr reden, wollte ihr nicht zuhören, das hatte er in den vergangenen Wochen überdeutlich gezeigt, und sie… konnte nicht mehr. Sie fühlte sich seltsam ausgelaugt, so als ob die Gefühlsausbrüche, die ihr dieser Tag abgenötigt hatte, den letzten Rest an Kraft verzehrt hätten, die sie noch gehabt hatte. Nicht einmal Wut oder Trotz hatten sich einstellen wollen, obwohl sie es beinahe verzweifelt versucht hatte, diese Reaktion in sich zu wecken, und das war, auch für sie selbst, das deutlichste Zeichen dafür, dass es ihr zu viel wurde. Sie hatte die letzten Wochen in einer Art Dämmerzustand verbracht, hatte mehr einem Schatten geglichen denn sich selbst, und jetzt, wo ihr altes Ich wieder hervorgebrochen war, schien alles nur noch schlimmer geworden zu sein. Corvinus hatte sie heute beachtet, was sie sich seit Wochen gewünscht hatte, aber hatte das etwas verbessert? Nein. Es hatte sie nur noch tiefer in Verwirrung gestürzt, zuerst seine ablehnende Haltung zu spüren auf der Terrasse, dann die Wut und der anschließende Ausbruch beiderseitiger Leidenschaft in seinem Cubiculum, nur um danach wieder auf Abweisung und Missbilligung zu stoßen… und Unverständnis über Verhalten, so als ob er nicht die geringste Ahnung hätte, warum sie so durcheinander war nach dem, was passiert war. Hatte stattdessen von ihr erwartet, die brave Sklavin zu spielen vor der Flavia. Aber wenigstens hatte er sie schließlich gehen lassen.
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Der Sonnenschein der uns beiden gefiel
Brachte allein noch keinen ans Ziel
Wir gingen zu zweit, um uns zu begleiten
Mieden den Streit, suchten nur gute Zeiten
Doch die Spannung bleibt, statt zusammen zu schweigen
Bedrückende Stille zwischen uns beiden
Ab wann ist's zu spät, um sich zu begegnen
Und mein Lebensweg, Baby, sehnt sich nach Regen
Doch wir mieden den Sturm, blieben daheim
Wir alle bauen diesen Turm und schließen uns ein
Um sicher zu gehen, bleibt jeder allein
Und mit Sicherheit gehen wir genau daran ein
Komm, wir lehnen uns wieder gegen den Wind
Und wir erleben im Regen wessen Wege es sind
Wenn wir schicksalsergeben uns im Tal begegnen
Um Tränen zu zählen im Rinnsal des Lebens
Es ist klar - der Regen wäscht auf jeden Fall
Weg was war - und es erscheint mir überall
Schenkt er auch neues Leben - 'ne neue Chance für jeden
Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht, wie nach 'nem Sommerregen
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Unschlüssig, wohin sie gehen sollte, stand die Germanin einen Augenblick da, dann wandte sie sich in Richtung der Unterkünfte. Dass sie geweint hatte, musste ihrem Gesicht deutlich anzusehen sein, und sie wollte sich erst das Gesicht waschen, bevor sie irgendjemandem über den Weg lief. Außerdem bewegte sie sich damit lange genug durch das Haus, dass ihr auffallen würde, wenn sie jemand suchte – und wenn das nicht der Fall war, dann konnte sie beruhigt verschwinden. In den Stall würde sie sich schleichen, zu Idolum, und die Nacht in seiner Box verbringen, dem einzigen Wesen, von dem sie momentan das Gefühl hatte, dass es ihr vorbehaltlos vertraute, dass es sie verstand. Selbst Brix, so gut sie sich mit ihm verstand und so sehr er zu ihr hielt, trotz allem, konnte ihr nicht dieses Gefühl geben, vielleicht, weil sie sich selbst nicht verstand. Idolum war einfach da, ohne Fragen zu stellen, ohne bewusst helfen zu wollen, und schon allein dadurch war seine Gegenwart tröstend. Leise zog sie die Tür auf zum Servitricium der Sklavinnen und ging hinüber zu der Waschschüssel, wo sie sich mit beiden Händen mehrmals Wasser ins Gesicht schüttete. Schließlich beugte sie sich vor und tauchte das ganze Gesicht in das kalte Nass, blieb so, bis ihr die Luft ausging, und hob dann prustend den Kopf wieder an. Gerade hatte sie nach einem Handtuch gegriffen und begonnen sich abzutrocknen, als Sofia hereinkam. "Oh, gut, dass ich dich hier treffe. Der Dominus meint er braucht dich, du sollst zu ihm kommen. Im Balneum." Siv erstarrte. Was wollte Corvinus denn noch von ihr? Reichte ihm nicht, was heute alles geschehen war? Die ganzen letzten Wochen hatte er sie ignoriert, obwohl auch ihm aufgefallen sein musste, wie sehr sie unter der Situation gelitten hatte, wenn er nur ein wenig aufmerksam gewesen wäre – und heute konnte er nicht genug von ihr kriegen? Weil er gemerkt hatte, wie groß sein Einfluss auf sie war, mit wie wenig er erreichen konnte, dass sie sich erbärmlich fühlte? Siv biss sich auf die Unterlippe, aber ihr fehlte die Energie, sich zu wehren. Und sie blendete schlicht aus, was es bedeutete, dass er im Balneum war, dass sie ihm nun beim Bad behilflich sein musste, nach allem was heute passiert war. Und Sofia hätte nur dumme Fragen gestellt, wenn sie sich jetzt geweigert hätte. "In Ordnung", murmelte sie schließlich. "Wie war es denn mit der Flavia? Wie ist sie so? Du warst doch mit ihnen im Garten. Oh, und siehst du, das ist doch ein gutes Zeichen, ich bin mir sicher, dass der Dominus jetzt der Meinung ist, du bist genug bestraft worden – er lässt dich den Garten zeigen, wenn er so wichtigen Besuch hat, und jetzt ruft er nach dir, das ist doch eindeutig. Wird auch langsam Zeit, finde ich", plapperte Soffchen weiter. Siv schloss kurz die Augen und nickte nur. Sie bezweifelte das, aber Sofia hatte auch keine Ahnung – wenn sie gewusst hätte, was draußen im Garten vorgefallen war, würde sie nicht so reden. Aber sie wusste es nicht, und im Gegensatz zu Brix hatte Sofia auch keine Ahnung davon, was in Siv wirklich vorging, wenn es um Corvinus ging. Weder hatte sie genug mit der Germanin zu tun, noch hatte sie die dafür nötige Menschenkenntnis, um derlei zu entdecken. Siv zwang sich zu einem Lächeln, hatte sie heute doch schon für genug Aufsehen gesorgt. Kurz fragte sie sich, ob Sofia von dem Vorfall – den Vorfällen – in der Küche wusste, und im nächsten Moment, ob Corvinus davon schon erfahren hatte.
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Nach Wegen gesucht und nicht gleich gefunden
Den Regen verflucht und doch nie überwunden
Statt durch Nebel zu gehen auf das was auf uns zukommt
Haben viele nur einfach Angst vor der Zukunft
Die Träume, sie enden und scheinen gescheitert
In Räumen, an Wänden, hier geht es nicht weiter
Denn wie alles da draußen erblüht unser Leben
Auch nur durch den Wechsel von Sonne und Regen
Es ist klar - der Regen wäscht auf jeden Fall
Weg was war - und es erscheint mir überall
Schenkt er auch neues Leben - 'ne neue Chance für jeden
Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht, wie nach 'nem Sommerregen
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Siv seufzte lautlos. Sie würde nur erfahren, was er wollte, wenn sie hinging, und kurze Zeit später stand sie vor der Tür des Balneums, klopfte und betrat dann leise und ohne ein Wort zu sagen den Raum.
[SIZE=7]Die Fantastischen Vier - Sommerregen[/SIZE]