balneum | Sommerregen

  • Nachdem Siv den Garten – langsam zunächst, dann rennend, sobald sie sich außer Sicht- und Hörweite wähnte – durchquert und die Terrasse wieder erreicht hatte, blieb sie für einen Moment stehen. Wohin sollte sie gehen? So aufgewühlt, durcheinander und verletzlich, wie sie sich im Moment fühlte, wäre ihr erster Zufluchtsort Garten oder Stall gewesen. Beides kam derzeit nicht in Frage. Im Garten, obwohl sehr groß, war die Gefahr zu groß, dass sie Corvinus und seiner Besucherin über den Weg lief und sich die Frage gefallen lassen musste, was sie noch dort zu suchen hatte, und um in den Stall zu gelangen – der ihr ohnehin nach wie vor verboten war – musste sie ebenfalls durch den Garten hindurch. Und sie wollte um keinen Preis das Risiko eingehen, noch einmal den beiden zu begegnen. Für heute hatte sie wahrhaftig genug, genug an seelischem Aufruhr, genug an Gefühlschaos, genug… einfach genug. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht einmal Wut in sich schüren über diese arrogante Römerin, die sich für so viel besser hielt, und die sich so selbstverständlich an Corvinus Seite bewegte, als sei sie dafür geboren worden… was sie im Grunde ja auch war. Siv rang nach Luft, und das Geräusch, das sie dabei machte, klang nach einer Ertrinkenden. Hilflos ballte sie die Hände zu Fäusten, und im nächsten Augenblick hatte sie sie wieder vor den Mund gepresst, biss in die zarte Haut ihres rechten Handrückens, um den Schrei zu ersticken, der sich diesmal nicht mehr unterdrücken ließ. Aber immerhin waren nur gedämpfte Laute zu hören, nichts, was über die nächste Umgebung hinaus zu hören war. Und kaum war der Schrei verklungen, wurde er abgelöst vom ersten Schluchzer. Während die Tränen über ihr Gesicht rannen, lief sie ins Haus und suchte nach einer Nische, einem unbeobachteten Winkel, in dem sie sich verstecken konnte, und fand ihn schließlich beim Hausaltar.


    ~~~
    Die Sonne scheint, der Tag ist wie neu
    Keinen Augenblick den ich bereu'
    Das Gewitter ist weg und war wichtig für jeden
    Die Luft ist feucht, es riecht noch nach Regen
    Ich hab Angst gehabt, als es über mich hereinbrach
    Mich gefragt, ist das heute wirklich dein Tag ?
    Nicht gewagt, mich den Wolken zu stellen
    Hielt ich es fest an Momenten um mich noch zu erhellen
    Doch ich war zu verschwommen in alledem
    Mit Sicherheiten so angenehm
    Da wurd' mein Leben leider zu bequem
    Und überraschend wie'n Schaltjahr war Zahltag
    Alle hatten's kommen sehen, ich stellte mich dumm
    Hatte Angst zu versagen und das machte mich stumm
    Jedoch mich nicht zu verschonen war richtig
    Denn die Lektionen des Lebens war'n wichtig


    Es ist klar - der Regen wäscht auf jeden Fall
    Weg was war - und es erscheint mir überall
    Schenkt er auch neues Leben - 'ne neue Chance für jeden
    Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht, wie nach 'nem Sommerregen
    ~~~


    Siv wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder hervor kam. Die Flavia musste inzwischen schon wieder gegangen sein, und das seit geraumer Weile, denn es war bereits später Nachmittag. Vermutlich hatte in der Zwischenzeit auch schon irgendjemand nach ihr gesucht, weil irgendeine unangenehme Arbeit zu erledigen war – aber momentan war ihr das egal. Sie wollte nach wie vor einfach nur ihre Ruhe haben. Inzwischen hatte sie sich wenigstens etwas wieder gefangen, auch wenn sie um keinen Schritt einer Lösung näher gekommen war, auch wenn sie immer noch das Gefühl hatte, einfach nicht zu wissen, was um alles in der Welt sie tun sollte. Vielleicht wäre es das Beste, Corvinus einfach zur Rede zu stellen. Aber dazu hatte sie im Moment nicht die Kraft, geschweige denn einen möglichen Versuch, mit ihm zu sprechen, erneut scheitern zu sehen. Er wollte nicht mit ihr reden, wollte ihr nicht zuhören, das hatte er in den vergangenen Wochen überdeutlich gezeigt, und sie… konnte nicht mehr. Sie fühlte sich seltsam ausgelaugt, so als ob die Gefühlsausbrüche, die ihr dieser Tag abgenötigt hatte, den letzten Rest an Kraft verzehrt hätten, die sie noch gehabt hatte. Nicht einmal Wut oder Trotz hatten sich einstellen wollen, obwohl sie es beinahe verzweifelt versucht hatte, diese Reaktion in sich zu wecken, und das war, auch für sie selbst, das deutlichste Zeichen dafür, dass es ihr zu viel wurde. Sie hatte die letzten Wochen in einer Art Dämmerzustand verbracht, hatte mehr einem Schatten geglichen denn sich selbst, und jetzt, wo ihr altes Ich wieder hervorgebrochen war, schien alles nur noch schlimmer geworden zu sein. Corvinus hatte sie heute beachtet, was sie sich seit Wochen gewünscht hatte, aber hatte das etwas verbessert? Nein. Es hatte sie nur noch tiefer in Verwirrung gestürzt, zuerst seine ablehnende Haltung zu spüren auf der Terrasse, dann die Wut und der anschließende Ausbruch beiderseitiger Leidenschaft in seinem Cubiculum, nur um danach wieder auf Abweisung und Missbilligung zu stoßen… und Unverständnis über Verhalten, so als ob er nicht die geringste Ahnung hätte, warum sie so durcheinander war nach dem, was passiert war. Hatte stattdessen von ihr erwartet, die brave Sklavin zu spielen vor der Flavia. Aber wenigstens hatte er sie schließlich gehen lassen.


    ~~~
    Der Sonnenschein der uns beiden gefiel
    Brachte allein noch keinen ans Ziel
    Wir gingen zu zweit, um uns zu begleiten
    Mieden den Streit, suchten nur gute Zeiten
    Doch die Spannung bleibt, statt zusammen zu schweigen
    Bedrückende Stille zwischen uns beiden
    Ab wann ist's zu spät, um sich zu begegnen
    Und mein Lebensweg, Baby, sehnt sich nach Regen
    Doch wir mieden den Sturm, blieben daheim
    Wir alle bauen diesen Turm und schließen uns ein
    Um sicher zu gehen, bleibt jeder allein
    Und mit Sicherheit gehen wir genau daran ein
    Komm, wir lehnen uns wieder gegen den Wind
    Und wir erleben im Regen wessen Wege es sind
    Wenn wir schicksalsergeben uns im Tal begegnen
    Um Tränen zu zählen im Rinnsal des Lebens


    Es ist klar - der Regen wäscht auf jeden Fall
    Weg was war - und es erscheint mir überall
    Schenkt er auch neues Leben - 'ne neue Chance für jeden
    Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht, wie nach 'nem Sommerregen
    ~~~


    Unschlüssig, wohin sie gehen sollte, stand die Germanin einen Augenblick da, dann wandte sie sich in Richtung der Unterkünfte. Dass sie geweint hatte, musste ihrem Gesicht deutlich anzusehen sein, und sie wollte sich erst das Gesicht waschen, bevor sie irgendjemandem über den Weg lief. Außerdem bewegte sie sich damit lange genug durch das Haus, dass ihr auffallen würde, wenn sie jemand suchte – und wenn das nicht der Fall war, dann konnte sie beruhigt verschwinden. In den Stall würde sie sich schleichen, zu Idolum, und die Nacht in seiner Box verbringen, dem einzigen Wesen, von dem sie momentan das Gefühl hatte, dass es ihr vorbehaltlos vertraute, dass es sie verstand. Selbst Brix, so gut sie sich mit ihm verstand und so sehr er zu ihr hielt, trotz allem, konnte ihr nicht dieses Gefühl geben, vielleicht, weil sie sich selbst nicht verstand. Idolum war einfach da, ohne Fragen zu stellen, ohne bewusst helfen zu wollen, und schon allein dadurch war seine Gegenwart tröstend. Leise zog sie die Tür auf zum Servitricium der Sklavinnen und ging hinüber zu der Waschschüssel, wo sie sich mit beiden Händen mehrmals Wasser ins Gesicht schüttete. Schließlich beugte sie sich vor und tauchte das ganze Gesicht in das kalte Nass, blieb so, bis ihr die Luft ausging, und hob dann prustend den Kopf wieder an. Gerade hatte sie nach einem Handtuch gegriffen und begonnen sich abzutrocknen, als Sofia hereinkam. "Oh, gut, dass ich dich hier treffe. Der Dominus meint er braucht dich, du sollst zu ihm kommen. Im Balneum." Siv erstarrte. Was wollte Corvinus denn noch von ihr? Reichte ihm nicht, was heute alles geschehen war? Die ganzen letzten Wochen hatte er sie ignoriert, obwohl auch ihm aufgefallen sein musste, wie sehr sie unter der Situation gelitten hatte, wenn er nur ein wenig aufmerksam gewesen wäre – und heute konnte er nicht genug von ihr kriegen? Weil er gemerkt hatte, wie groß sein Einfluss auf sie war, mit wie wenig er erreichen konnte, dass sie sich erbärmlich fühlte? Siv biss sich auf die Unterlippe, aber ihr fehlte die Energie, sich zu wehren. Und sie blendete schlicht aus, was es bedeutete, dass er im Balneum war, dass sie ihm nun beim Bad behilflich sein musste, nach allem was heute passiert war. Und Sofia hätte nur dumme Fragen gestellt, wenn sie sich jetzt geweigert hätte. "In Ordnung", murmelte sie schließlich. "Wie war es denn mit der Flavia? Wie ist sie so? Du warst doch mit ihnen im Garten. Oh, und siehst du, das ist doch ein gutes Zeichen, ich bin mir sicher, dass der Dominus jetzt der Meinung ist, du bist genug bestraft worden – er lässt dich den Garten zeigen, wenn er so wichtigen Besuch hat, und jetzt ruft er nach dir, das ist doch eindeutig. Wird auch langsam Zeit, finde ich", plapperte Soffchen weiter. Siv schloss kurz die Augen und nickte nur. Sie bezweifelte das, aber Sofia hatte auch keine Ahnung – wenn sie gewusst hätte, was draußen im Garten vorgefallen war, würde sie nicht so reden. Aber sie wusste es nicht, und im Gegensatz zu Brix hatte Sofia auch keine Ahnung davon, was in Siv wirklich vorging, wenn es um Corvinus ging. Weder hatte sie genug mit der Germanin zu tun, noch hatte sie die dafür nötige Menschenkenntnis, um derlei zu entdecken. Siv zwang sich zu einem Lächeln, hatte sie heute doch schon für genug Aufsehen gesorgt. Kurz fragte sie sich, ob Sofia von dem Vorfall – den Vorfällen – in der Küche wusste, und im nächsten Moment, ob Corvinus davon schon erfahren hatte.


    ~~~
    Nach Wegen gesucht und nicht gleich gefunden
    Den Regen verflucht und doch nie überwunden
    Statt durch Nebel zu gehen auf das was auf uns zukommt
    Haben viele nur einfach Angst vor der Zukunft
    Die Träume, sie enden und scheinen gescheitert
    In Räumen, an Wänden, hier geht es nicht weiter
    Denn wie alles da draußen erblüht unser Leben
    Auch nur durch den Wechsel von Sonne und Regen


    Es ist klar - der Regen wäscht auf jeden Fall
    Weg was war - und es erscheint mir überall
    Schenkt er auch neues Leben - 'ne neue Chance für jeden
    Wenn Sonnenlicht durch Wolken bricht, wie nach 'nem Sommerregen
    ~~~


    Siv seufzte lautlos. Sie würde nur erfahren, was er wollte, wenn sie hinging, und kurze Zeit später stand sie vor der Tür des Balneums, klopfte und betrat dann leise und ohne ein Wort zu sagen den Raum.


    [SIZE=7]Die Fantastischen Vier - Sommerregen[/SIZE]

  • Unverhofft war dieser Tag bisher verlaufen, unvorhersehbar in jeder Hinsicht. Es gab so viel nachzudenken, dass ich nicht einmal wusste, wo ich damit beginnen sollte, ob bei den angenehmen oder unangenehmen Teilen des Tages, oder bei den verwirrenden. Als Celerina gegangen war, hatte ich noch eine gute halbe Stunde mit mir selbst verbracht, im Garten sitzend und hin und wieder an einem gekühlten Wein nippend. Es wirkte ganz so, als hätte ich gar allzu leichtes Spiel hier, und ehrlicherweise war dies eine Tatsache, die mich verwirrte und mein Misstrauen schürte. Zu gut hatte ich die Sache mit meiner Vorangegangenen Verlobung noch im Kopf, alsdass ich mich blindlinks und ohne angemessen zu überlegen ein weiteres Mal ins Abenteuer zu stürzen - zumal dies in meiner gegenwärtigen Position vermutlich eher ein Selbstmordkommando war als damals. Schließlich stand ich an der Schwelle zum Senat. Im Grunde wartete ich nur darauf, dass mich endlich ein Brief erreichte, und dies hatte ich auch Hungaricus zu verdanken. Im Grunde hatte ich nichts weiter eingeplant für den heutigen Tag, doch ein Bad im Anschluss wäre gut, und so hatte ich die Weisung erteilt, ein solches vorzubereiten.


    Der Becher war bald leer, ich hatte nicht einmal gemerkt, dass der Wein zur Neige ging, und dementsprechend überrascht war ich auch, als kein Tropfen in meinen Mund rann, als ich das nächste Mal den Becher hob. So stellte ich das Gefäß zurück auf den Tisch, seufzte und erhob mich, um mein Bad zu nehmen.


    Feuchter Dampf stieg aus dem Becken hinauf, wogte und ließ bei jedem Schritt die Malereien und Mosaike auf Wänden und Boden des balneum lebendiger wirken. Prächtige Schiffe schienen gen Süden zu segeln, riesige Seeungeheuer wurden von Neptun bezwungen. Ich schickte die beiden Sklaven fort, die mir zur Hand hatten gehen wollen, und war kurz darauf allein im Bad. Tunika und toga - schließlich hatte ich eben Besuch gehabt, den es angemessen zu empfangen gegolten hatte - landeten achtlos auf dem Boden. Dann stieg ich ins warme Wasser und genoss für beinahe eine Stunde die entspannende Wirkung, welche die Wärme auf mich hatte. Irgendjemand hatte dem Wasser Rosenblätter und angenehmen Duft zugefügt, in den Nischen entlang des Raumes brannten Öllampen und tauchten alles in einen zauberhaften Schein.


    Bald war das Wasser merklich abgekühlt, und nachdem ich mich gewaschen hatte, stieg ich aus dem Becken und griff mir ein Tuch. Notdürftig trocknete ich mich und rief dann nach Sofia, die vor der Tür wartete. Der kam hinein und öffnete die Wandklappen an der Decke, damit die schwüle Feuchtigkeit schon einmal entweichen konnte. "War das Bad angenehm, dominus?" fragte sie mich. "Ja. Aber du kannst mir Dina holen. Noch eine Massage wäre jetzt nicht schlecht", entgegnete ich und rubbelte kurz über die Haare, dann ließ ich das Handtuch auf einen Schemel fallen und nahm auf der hierfür vorgesehenen Liege Platz. Die Arme verschränkte ich unter dem Kopf, eine Wange seitlich daraufgebettet, den Blick zum Wasserbecken gerichtet. Und so wartete ich. Sofia sammelte die dreckige Wäsche ein und auch das Handtuch, dann huschte sie hinaus.


    Wer allerdings Sofia kennt, der weiß, dass sie an Tollpatschigkeit alles und jeden mit links in den Schatten stellt. Ein gewöhnungsbedürftiges Lied auf den Lippen, brachte sie zunächst die Wäsche zum Waschen, und hier mochte wohl auch ihr Fehler liegen, denn als sie sich wieder im atrium fand, hatte sie vergessen, wen sie hatte wohlen sollen. Und so glaubte sie, sich an Sivs Namen zu erinnern, und machte sich auf, um die blonde Germanin zu suchen. Naiv, wie das Soffchen war, verschwendete sie nicht einen einzigen weiteren Gedanken an diesen möglichen Fauxpas, suchte und fand Siv und richtete ihr die Nachricht aus, die nicht für sie bestimmt war.


    Zurück im balneum wartete ich auf Dinas erscheinen, und bald darauf hörte ich die Tür sich öffnen. Genüsslich an die kräftigen Hände denkend, die mich noch mehr entspannen würden, hatte ich die Augen geschlossen und wartete darauf, dass Dina mit der Massage begann.

  • Sivs Herz hatte unwillkürlich angefangen stärker zu klopfen, je mehr sie sich dem Balneum näherte, und als sie es schließlich betrat, verharrte sie mitten im Schritt. Corvinus befand sich auf der Liege, die in der Nähe des Wasserbeckens stand, offensichtlich bereit massiert zu werden. Er sah weder hoch noch sagte er etwas zu ihr, und Siv spürte erneut, wie schon öfter an diesem Tag, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Er hatte offenbar beschlossen, ihr nicht mehr aus dem Weg zu gehen – aber er ignorierte sie immer noch. Sie biss sich auf die Unterlippe. Immerhin hatte sie ihm heute ja deutlich genug gezeigt, dass das für sie eine noch größere Strafe war. Aber sie sagte nichts. Sie sehnte sich nach einem freundlichen Wort von ihm, sehnte sich noch mehr danach, endlich, endlich erklären zu können, was in ihr vorgegangen war in Mogontiacum, und was jetzt in ihr vorging, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie wusste nicht, ob sie heute noch eine Zurückweisung aushalten würde, und sie wollte nicht vor ihm in Tränen ausbrechen. Schweigend ging sie hinüber zu dem Regal, in dem verschiedene Badeutensilien sowie Öle – sowohl für das Bad als auch für Massagen – untergebracht waren. Ohne nachzudenken wählte sie unter denen, die Corvinus bevorzugte, dasjenige aus, das auch ihr am liebsten war – ein Massageöl mit einer herberen Duftnote, mit Zusätzen von Tannennadeln und einem Hauch Citrus.


    Anschließend wandte sie sich um und trat zu der Liege. Ihr Blick glitt über seinen Körper, während sie den kleinen Flakon öffnete und etwas Öl auf die Hände gab, um diese dann aneinander zu reiben – zum einen um das Öl zu verteilen, zum anderen um sie zu erwärmen, damit die Temperatur des Öls und ihrer Hände angenehm auf seiner Haut sein würden. Ohne es zu wollen wanderten ihre Gedanken dabei zu anderen Gegebenheiten, bei denen sie ihn massiert hatte. Bevor sie nach Germanien gedurft hatte, war es zumeist sie gewesen, die er gerufen hatte für diese Dinge. Sie wusste, wie er am liebsten massiert wurde, sie hatte Gelegenheiten genug bekommen, um es herauszufinden – und nicht nur dafür. Sachte, zärtlich berührte sie mit ihrer Linken seine Schulter, ließ die Fingerspitzen zur Wirbelsäule gleiten und dann langsam daran hinunter. Einen winzigen Moment lang gab sie sich ihrem Tagtraum hin, in dem alles so war, wie es vor ihrer Abreise gewesen war, und als das Zwischenspiel in ihren Gedanken eine Wende nahm, die es auch in der Realität nicht selten genommen hatte, seufzte sie, leise nur, aber wohl doch laut genug, dass er es hören konnte. Dann, plötzlich, fand sie wieder in die Realität zurück. Fast erschrocken zog sie für den Bruchteil eines Augenblicks ihre Hand zurück, die schon über die Höhe der unteren Rippen hinausgewandert war und verfluchte sich lautlos. Gleichzeitig legte sie die Hände auf seine Schultern und begann, ihn zu massieren.

  • Entspannt vom Wasser und ebenso träge geworden durch die Wärme und Diesigkeit des Raumes, lag ich dösend auf der Liege und lauschte den Geräuschen um mich herum, die wie durch Nebel an meine Ohren drangen. Da waren gedämpfte Schritte, ein kurzes Klappern, das quietschende Geräusch eines Korkens, der aus einem Flakon gezogen wurde und das sich nochmals wiederholte. Die Fläschchen wurden abgestellt, nicht auf das Regal, sondern auf einen anderen Untergrund, denn das Geräusch klang anders. Dann rieben Hände aneinander, eine Art schmirgelndes Geräusch. Ich seufzte tief, als ich die Wärme der zarten Frauenhände auf der Schulter spürte. Dass Dina nichts sagte, erschien mir nicht seltsam, im Gegenteil, ich genoss es und war ihr dankbar, dass sie den Genuss der Massage nicht durch Worte schmälerte. Allmählich drang der Duft des Öls an meine Nase, herb und frisch, nicht blumig und schwer, wie die Frauen ihn wohl bevorzugen mussten, da so viele von ihnen nach schwerem Parfum rochen.Meine Gedanken schweiften ab, und ich versuchte mich zu erinnern, wie Celerina eigentlich gerochen hatte. Ein Hauch von Weihrauch hing in der Luft, süßlich und herb zugleich, doch Celerina hatte nicht danach gerochen, sondern nach....


    Ganz versunken, störte das plötzliche Zurückschrecken der warmen Hände den Gedankenfluss, gerade als ich mich eines anderen Duftes erinnerte. Der Geruch nach Frische, Tannennadeln, herbem Laub... Siv roch so, hatte so gerochen, wenn sie bei mir gelegen hatte. Etwas an Dina stimmte nicht - das wusste ich spätestens in dem Moment zu sagen, in dem sie inne hielt. Doch was es war, das mich störte, konnte ich nicht benennen. Ich öffnete die Augen, doch sah nur ansatzweise die Hände aus den Augenwinkeln. Dina beschränkte sich nun wieder auf die Schultermuskulatur. Ein wenig nur hatte ich mich versteift, doch merklich. Ich wandte dann den Kopf, fort vom Becken und mit Blick in Richtung der Tür, und ich entdeckte Siv, nicht Dina. Im ersten Moment hatte ich einen Kloß im Hals, ob vor Verwunderung oder Ärger - oder etwas anderem, doch dann entspannte ich mich wieder und sah Siv nun, bequem liegend und aus den Augenwinkeln heraus, unverwandt an. Ich war des Streitens müde, ich war es so leid. Und so sagte ich nichts weiter, und sah sie nur aufmerksam von unten herauf an.

  • Siv bemühte sich, jeden Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, während sie sich auf Corvinus’ Schultern konzentrierte, versuchte sogar sich vorzustellen, ein anderer würde dort liegen – was ihr aber nicht gelang, hatte sie doch nie jemanden anderen außer ihn massiert, war noch nicht einmal einem der anderen Aurelier im Bad zur Hand gegangen, weil Corvinus recht früh bestimmt hatte, dass das nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Darüber hinaus schien Corvinus sich auf einmal zu versteifen, jedenfalls waren seine Muskeln nach der kurzen Unterbrechung angespannter als zuvor, und während sie noch darüber grübelte, warum – immerhin war er davor völlig entspannt gewesen –, drehte er auch schon den Kopf auf die andere Seite und sah sie. Sah sie an. Nun war es Siv, die versteifte. Corvinus wirkte… sie konnte es nicht sagen. In jedem Fall wirkte er nicht so, als ob er erwartet hätte sie zu sehen. Allerdings konnte das nicht sein, denn immerhin hatte er sie doch rufen lassen. Wieso sollte er nun erstaunt sein, sie zu sehen?


    Sivs Hände blieben noch auf seinem Rücken – warum, wusste sie selbst nicht so genau zu sagen, aber wenn sie ehrlich zu sich gewesen wäre, hätte sie zugeben müssen, dass sie es zu sehr genoss, seine Haut unter ihren Händen zu spüren. Aber sie hatte aufgehört, zu massieren, während sie seinen Blick erwiderte. Sie war ratlos, fühlte sich hilflos. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie sehnte sich so danach, dass zwischen ihnen wieder alles in Ordnung kam, aber sie wusste einfach nicht, wie sie das erreichen sollte. Er hatte ihr bis jetzt nicht zuhören wollen, hatte sie erst heute morgen abgewiesen, und sie fühlte sich so verletzlich in diesem Moment. Noch eine Zurückweisung von ihm, noch ein Nein, noch mal die Worte: du hast mich enttäuscht, ich will nichts weiter von dir wissen… Sie sah ihn an, zog ihre Hände dann doch zurück, und sagte schließlich, was sie ihm seit Wochen sagen wollte. "Es tut mir leid." Leise nur kamen die Worte über ihre Lippen, sie flüsterte sie fast. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, war zu spüren, wie ernst es ihr war. Nicht nur ihre Flucht, sondern all ihre Verfehlungen in der letzten Zeit, einschließlich der des heutigen Tages gegenüber seinem Besuch. Dass Corvinus mit seinem Verhalten einen großen Teil dazu beigetragen hatte, dass Siv so oft die Beherrschung verloren hatte, spielte für sie in diesem Moment nur untergeordnet eine Rolle. Was sie dazu getrieben hatte, war nicht so wichtig, es war immer noch sie gewesen, die sich nicht hatte kontrollieren können. Sie flehte nur die Götter darum an, dass er sie verstand. Dass er sie endlich verstand.

  • Während ich mich noch fragte, was Siv hier eigentlich tat, und ob man wirklich ihren Namen mit dem Dinas verwechseln konnte oder ob Dina nur anderweitig beschäftigt schien, hielt Siv in ihren Bewegungen inne und starrte mich an. Ruhig und eintönig glitt mein Atem über die Haut, die Schulter hinab und sich dann verlierend. Ihr Blick war eine undefinierbare Mischung aus den verschiedensten Gefühlen, wirkte kurz gar weinerlich, dann wieder gepeinigt oder schamerfüllt. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, zumal das warme Bad ohnehin jedweden Gedanken aus meinem Kopf getilgt hatte. Ab und an blinzelte ich, den Augenkontakt nur für den Bruchteil eines Wimpernschlags unterbrechend, um sie danach wieder stumm anzusehen. Bis sie sich entschuldigte. Für...was eigentlich? Es gab so viele Dinge, für die es einer Entschuldigung bedurft hätte, dass ich auf Anhieb nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Also reagierte ich zunächst gar nicht, sondern sah Siv nach wie vor an.


    Es mussten beinahe zwei Minuten vergangen sein, ich war mir inzwischen mehr als deutlich bewusst, dass ich nackt vor ihr auf dem Bauch lag, den Kopf auf die Arme gebettet. Auf einer Anrichte neben der Tür musste noch ein Tuch liegen. Ich erhob mich langsam, ein Tropfen Öl perlte quälerisch kitzelnd an meiner Leiste hinab, und ging zur Tür, wo ich mir eines der säuberlich gefalteten Tücher nahm und mir um die Hüften schlag. Nicht, weil ich mich etwa geschämt hätte, sondern weil ich überlegte, was ich sagen sollte. Allerdings hatte ich auch nach dieser Tat keine Ahnung diesbezüglich. Ich ging zurück zu Siv und der Liege, zog mich rückwärts empor und saß dann vor ihr, ein wenig erhöht. Der Unterricht bei den Flaviern schien ihr gut zu tun, wie ich wieder einmal feststellte, und ihre Aussprache war weitaus angenehmer als noch vor einem Jahr. "Was tut dir leid, Siv?" fragte ich nun, sparte es mir allerdings, noch einmal aufzuzählen, was meiner Ansicht nach alles wert gewesen wäre, sich dafür zu entschuldigen.

  • Schweigen. Es herrschte Schweigen, und für Siv wurde es innerhalb weniger Lidschläge beinahe unerträglich – aber sie brach es nicht. Es hätte so viel gegeben, was sie hätte sagen können, hätte sagen wollen, aber nichts davon kam über ihre Lippen. Ihre Kehle schien wie zugeschnürt zu sein, und sie hatte das Gefühl, sich nicht rühren zu können unter seinem eindringlichen Blick. Im Gegensatz zu ihm war ihr nicht mehr bewusst, dass er nackt war. Sie war gefesselt von seinem Blick. Als er sich dann erhob, wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück, aber als er sich anschließend abwandte, da hob sie halb die Hand, wie um ihn aufzuhalten. Für einen Augenblick war sie sich sicher, dass er gehen würde. Dass er sie allein lassen würde. Sie wollte ihn zurückhalten, wollte ihn beim Namen nennen, aber weder konnte sie sich bewegen, noch kam ein Ton über ihre Lippen. In ihrem Inneren schien auf einmal nur Leere zu herrschen, während ihre Hände kraftlos an ihren Seiten hinunter sanken. Es war zu spät. Was auch immer sie hätte tun können, tun müssen, um irgendetwas zu verbessern, es war zu spät dafür.


    Nur einen Augenblick später war die Leere in ihrem Inneren auf einmal wieder gefüllt, mit Hilflosigkeit, Verwirrung und einer Sehnsucht, die immer stärker wurde. Sie folgte Corvinus mit Blicken, beobachtete, wie er wieder zurückkam, und kämpfte mit dem Impuls, ihn zu berühren – und gleichzeitig noch weiter zurückzuweichen. Er kam ihr so fremd vor in diesem Moment. Sie tat nichts, gab keinem der beiden Impulse nach, sondern sah ihm nur zu, wie er sich auf die Liege setzte, die etwas erhöht war, so dass er immer noch ein bisschen größer war als sie. Sie stand nur einen Schritt entfernt, hätte sie den Arm ausgestreckt, hätte sie ihn berühren können. Aber sie tat es nicht. Und als er dann endlich etwas sagte, holte sie zitternd Atem. Was ihr leid tat? Sollte sie ihm alles aufzählen, was sie falsch gemacht hatte? Irgendwo in ihr blitzte ein Hauch von Trotz auf, weil er offenbar keinen Gedanken an das verschwendete, was er falsch gemacht hatte, dass er ihr nie die Gelegenheit gegeben hatte, sich zu entschuldigen. Aber dieser Hauch erstickte unter einer Last von Schuldgefühlen und Reue. "Alles." Sie machte eine vage Handbewegung und musste auf einmal wieder mit den Tränen kämpfen, verfluchte sich selbst dafür und senkte den Kopf, in der Hoffnung, dass er nichts gesehen hatte. Dass ihre Stimme verdächtig zitterte, konnte sie aber nicht verhindern.


    "Mir tut leid. Heute, im Garten. Und die Küche. Die Tunika von Artorius." Sie konnte sich für alles rechtfertigen, in ihren Augen zumindest. Ihr Temperament war nie einfach so herausgebrochen, es hatte immer einen Anlass gegeben. Aber darum ging es nicht, und das wusste sie auch. Und das war auch nicht das einzige, noch nicht einmal der Hauptteil, was ihr leid tat. "Das… was in Mogontiacum ist. Gewesen ist." Sie war nicht geflohen. Sie hatte nicht fliehen wollen. Sie hatte einfach nur in den Wald gewollt… ohne weiter nachzudenken. Und das tat ihr leid, dass sie nicht überlegt hatte, und dass sie die Beherrschung verloren hatte, kaum dass die Soldaten auf sie aufmerksam geworden waren. Sicher war da, als sie den Soldaten zunächst entkommen und erst einmal draußen gewesen war, der Gedanke da gewesen zu fliehen. Aber sie hatte es nicht getan. Jetzt flog ihr Kopf wieder hoch, sie sah ihn an, mit brennenden Augen, in denen immer noch Tränen schimmerten, aber das war ihr egal in diesem Augenblick. "Ich wollte nicht fliehen. Ich… ich wollte in Wald, ich habe Wald gesehen, beim Tor… Und ich… habe nicht gedacht. Da war kein Gedanke, an nichts… Nur, nur Wunsch, wieder in Wald zu sein, einen Tag, wie früher…" Sie verstummte, suchte in seinem Gesicht, seinen Augen nach einem Zeichen, das ihr zeigte, dass er verstand. Oder dass er wenigstens gewillt war, ihr diesmal zuzuhören. Aber bevor sie womöglich etwas fand, was ihr das Gegenteil von dem zeigte, was sie sich wünschte, senkte sie ihren Blick erneut und starrte auf den Boden.

  • Alles tat ihr leid. Zitterte sie? Zumindest schwankte ihre Stimme. Ich runzelte ansatzweise die Stirn und betrachtete Siv, die soeben den Kopf senkte. Ob sie hier war, weil sie reden wollte, mich zum Reden zwingen wollte, und nicht weil Sofia wieder einmal etwas verbaselt hatte? Moment, die Küche? Und Mogontiacum tat ihr leid. Ich hob die Brauen, wollte schon wie automatisiert etwas entgegnen, als sie schneller war als ich und weitersprach. Ich unterbrach sie nicht. Die Trägheit schien auch meinen Geist mit Honig bestrichen zu haben.


    Lange Zeit betrachtete ich sie einfach nur, nachdem sie geendet hatte. Mir fielen diese seltsamen Träume wieder ein, die Wälder, das Dorf, der See... "Skradan", murmelte ich, blinzelte und schüttelte kurz den Kopf, um sogleich weiterzusprechen. "Und warum hast du dich wie toll gebärdet, als man diesen Ausflug für einen Fluchtversuch gehalten hat und dich festnehmen wollte?" fragte ich sie, nur um gleich darauf wieder den Kopf zu schütteln. Im Grunde wollte ich davon nichts mehr hören. Es war genug, und es hatte genug verursacht, als dass ich schon wieder darüber nachdenken wollte. Ein Teil von mir allerdings war seltsam erleichtert, dass es diese Aussprache nun endlich gab. Wenn man sie denn so nennen konnte.

  • Corvinus schwieg. Er hatte sie nicht unterbrochen, das war immerhin etwas, aber er forderte sie auch nicht auf weiterzusprechen. Und Siv schwieg. Sie schwieg, und sie weigerte sich aufzusehen. Ihr Atem ging zitternd, und ihre Hände bebten sacht, während sie wartete, auf was wusste sie selbst nicht so genau. Auf irgendeine Reaktion. Sie rechnete schon damit, dass er erneut aufstand und diesmal wirklich ging. Als er dann aber etwas sagte, war es etwas, was sie zutiefst überraschte. Ihr Kopf flog erneut hoch, während sie ihn verwirrt und sogar etwas erschrocken anstarrte. Skradan? Er nannte sie Skradan? Woher kannte er dieses Wort? Einige Momente lang starrte sie ihn einfach nur an, ihr Mund leicht geöffnet, während er weitersprach. Skradan… Waldteufel. Ihr Vater hatte sie immer so genannt. Wie in jenem Traum, den sie gehabt hatte in Germanien, einer von denen vielen, in denen sie Corvinus geträumt hatte. Von ihnen beiden. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, ihm jemals davon erzählt oder ihm auch nur dieses Wort beigebracht zu haben. Auf einmal fiel es ihr noch schwerer zu atmen. Dieses Wort zu hören, das für sie immer einer Liebkosung gleich gekommen war, und das aus seinem Mund… "Skradan? Was, woher…? Woher hast du…?"


    Siv schluckte mühsam. Sie wusste nicht, woher er dieses Wort hatte, aber er konnte nicht wissen, was es ihr bedeutete. Immer noch fühlte sie sich so hilflos und verletzlich, nicht zuletzt, weil Corvinus nichts tat, um ihr irgendwie zu helfen, weil er ihr keinen Schritt entgegen kam. Siv war versucht, einfach zu gehen. Er hatte nachgefragt, aber gleich darauf schüttelte er den Kopf, und er machte nicht den Eindruck auf sie, als ob er noch mehr hören wollte. Sie war versucht, aufzugeben. Was für einen Sinn hatte es denn, ihm zu erklären, was in ihr vorgegangen war, wenn er es doch nicht verstand? Wühlte sie nicht gerade dadurch wieder den Schmerz auf? Aber sie war niemand, der davonlief. Sie hatte ihre Fehler, aber Aufgeben gehörte nicht dazu, genauso wenig wie die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, wenn sie sie einmal erkannt hatte. Und er hatte sie Skradan genannt… Vielleicht war es ein Zeichen ihres Vaters, das er schickte, oder der Götter… Ein Zeichen, dass sie weitermachen sollte. Sie sah ihm in die Augen, auch wenn es ihr schwer fiel, seinem Blick standzuhalten, der so seltsam zu sein schien. "Weil sie Soldaten sind."


    Ihre Stimme schwankte. So einfach war dieser Satz gewesen, und doch sagte er alles aus, für sie. Und was jetzt kam, fiel ihr noch schwerer. Einzugestehen dass sie Angst gehabt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, je zugegeben zu haben, dass sie vor etwas Angst hatte. "Ich… habe sie geseht. Sie sind da, sie… wollen reden mit, mit mir. Und ich… habe Angst. Da ist, da war nur… Panik." Ihre Stimme brach beinahe, während sie sich durch die Worte quälte. Sie hatte Corvinus nie erzählt, was sie genau erlebt hatte, auf dem langen Weg nach Rom. Nur von diesem einen Überfall, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen und sie in Gefangenschaft geraten war, hatte sie ihm erzählt, sonst nichts verlauten lassen, höchstens Andeutungen gemacht. Sie sprach nicht gern darüber. Genauso wenig wie sie gern über ihre Ängste sprach. "Nur Panik. Da ist immer nur Panik, wenn… Römersoldaten da sind", flüsterte sie, seinem Blick zwar nicht ausweichend, aber ihrer schien seltsam blicklos zu sein, verlor sich in schmerzhaften und demütigenden Erinnerungen. "Ich bin gelaufen. Ich war… bei Karren. Eine Frau hat helfen gewollt, hat gewollt mich verstecken, in Karren von ihr." Jetzt fanden ihre Augen wieder in die Realität zurück, sahen ihn an. "Da war Gedanke, zuerst, erstes Mal. Da war Panik, und ich, ich wollte weg, von Soldaten. Aber da war Gedanke an dich…" Sie biss sich auf die Lippen. Es wäre so leicht zu verschweigen, dass da auch noch andere Gedanken waren – aber selbst wenn sie nicht ein so ehrlicher Mensch gewesen wäre, in diesem Moment hätte sie die Wahrheit gesagt. "Da war auch… Gedanken an Heimat. An meine Familie. Aber du, du… warst stark. Stärker." Ihr Blick glitt durch das Balneum, nun wieder unfähig, seinem zu begegnen. Noch mehr Angst als vor römischen Soldaten hatte sie in diesem Moment vor seiner Reaktion. Davor, was er nun sagen würde. " Ich wollte nicht weg… von dir. Also bin ich gebleibt. Bis Soldaten da waren. Aber dann, hatte ich wieder Angst, Panik, vor ihnen."

  • Ich konnte den Drang nicht unterdrücken und begann, ein wenig mit den Beinen zu schaukeln. Als sie mich ansah, als hätte ich soeben ein Wunder gewirkt, hielt ich jedoch wieder inne. Ich ahnte nicht, was nun wieder mit ihr los war, bis sie mich schließlich fragte, woher ich das Wort kannte, von dem ich nicht wusste, was es bedeutete. Es war plötzlich einfach da gewesen. Mit tief gerunzelter Stirn erwiderte ich Sivs Blick. Ich wusste nicht, woher es gekommen war, also schwieg ich.


    Es war auch gar nicht nötig, darauf zu antworten. Siv sprach die Soldaten an, und wie weckte damit die Erinnerung an die Worte in mir, die sie mir vor langer Zeit anvertraut hatte. Die Angst vor Sodaten, die sie hatte, die in ihrer Stimme mitschwang - und die mir schlicht entfallen war. Dennoch war das kein Grund. Es kostete Siv sichtlich Überwindung, das auszusprechen, was sie vor langer Zeit hätte tun sollen. Natürlich verdrängte ich in diesem Moment sämtliche Eigenschuld, denn ich hatte sie ja nie ausreden lassen. Jetzt jedoch tat ich es, und während ich die ersten paar Worte lang noch stillschweigend genoss, dass es ihr schwerfiel, es auszusprechen, hatte ich gen Ende schon fast ein schlechtes Gewissen - worüber ich mich insgeheim ärgerte, denn sie war schließlich weggelaufen, und da verdiente sie das Misstrauen mehr als sonst jemand, das ich ihr entgegengebracht hatte. Entgegenbrachte, immer noch. Auch wenn es schwand, obwohl ich es festhalten wollte, weil das Misstrauen einfacher war als jedwede andere mögliche Empfindung Siv gegenüber.


    Das letzte Wort war schon eine Weile verhallt. Mein Blick ruhte auf einem kleinen, silbernen Pferdekopf, der unter dem Kragen ihrer tunica hervorlugte. Vorhin im Zimmer war mir gar nicht aufgefallen, dass sie den Anhänger noch trug, den ich ihr geschenkt hatte. Damals. Ich ließ den Blick schweifen und seufzte. Was sollte ich nun dazu sagen? "Weißt du..." begann ich, hatte aber immer noch keine Idee, was ich nun eigentlich dazu sagen sollte. Wollte. Auf eine kuriose Art ging diese ganze Sache gerade an mir vorbei, so als würde sie mich nicht oder nicht mehr tangieren, und das war seltsam. Und dann war da ihre Aussage, dass sie meinetwegen nicht tatsächlich geflohen war. Konnte ich ihr das glauben? Mit gerunzelter Stirn sah ich sie an, nachdenklich und auf der Suche nach sinnigen Worten, die ich meinem Geist jedoch nicht abringen konnte, und so schwieg ich und sah weiterhin Siv an. Was sollte ich auch sagen? Dass ich ihr verziehen hatte, wollte mir nicht über die Lippen kommen, doch abfällige Worte ebensowenig.

  • Er schwieg. Er sagte nichts. Siv riskierte einen kurzen Blick zu ihm und wünschte sich, sie hätte es nicht getan. Er wirkte so… unbeteiligt. Als würde ihn das alles nichts angehen. Einen Augenblick ruhte ihr Blick noch auf ihm, dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie sah wieder weg. Hörte, wie er dazu ansetzte etwas zu sagen. Und wie er wieder in Schweigen verfiel. Er sagte nichts, hatte nichts zu sagen, weder zu ihrer Erklärung, wie dieser unselige Fluchtversuch zustande gekommen war, noch dazu, was sie letztlich davon abgehalten hatte. Siv spürte Tränen aufsteigen, und jetzt senkte sie ihren Blick zu Boden. Sie wollte nicht vor ihm weinen, wollte nicht, dass er sie so sah, ihr Stolz, den sie nach wie vor hatte, verhinderte das. Aber sie wusste nicht, wie gut sie die Tränen wirklich zurückdrängen konnte. Sie schimmerten bereits in ihren Augen, und nicht einmal davon wollte sie, dass er es erkannte. Es war ihm gleichgültig, das war alles, woran sie denken konnte, es hämmerte in ihrem Kopf, in ihrer Brust, in ihrem Herz. Es war ihm gleichgültig. Er hatte ihre Erklärung nicht zugelassen, weil er endlich so weit war, sie zu hören, sondern weil es ihn nicht mehr kümmerte. Die Gründe, die sie ihm nannte, die Angst, die so tief in ihr saß, und dann ihr Geständnis, das ihr noch schwerer gefallen war, dass er der Grund gewesen war zu bleiben… Sie war ihm gleichgültig. Und zum ersten Mal stellte sich ihr wirklich die Frage, was sie eigentlich getrieben hatte. Sie hatte die Freiheit aufgegeben, die Chance, ihre Familie wiederzusehen – für das hier. Für einen Mann, dem sie gleichgültig war. Siv fühlte sich in diesem Moment wie jemand, der mit voller Wucht gegen eine Wand gelaufen war, gewappnet für den unvermeidlichen Aufprall, und nun feststellen musste, dass diese Wand nicht nur nicht vorhanden war, sondern dass dahinter ein bodenloser Abgrund lauerte. Und sie fiel. Sie meinte zu spüren, wie etwas in ihr begann Risse zu bilden, und sie schwieg, starrte weiter auf den Boden, wartete auf seine nächsten Worte, von denen sie meinte, befürchtete, dass sie etwas in ihr endgültig zerbrechen lassen würden.

  • Es war wie verhext, es wollte mir einfach nichts Passendes einfallen. Und waren da plötzlich tatsächlich Tränen? Ich sah genauer hin. Tatsächlich, im spärlichen Licht der Öllampen und dem wenigen Tageslicht, das noch hereindrang, schimmerten Sivs Augenwinkel feucht. Es war zum Mäusemelken. Warum passierte immer mir das? Ich konnte Tränen bei einer Frau nicht sehen, das war immer schon gewesen, und immer schon hatte mir dieser Umstand ein schlechtes Gewissen bereitet. Schlechter als schlecht noch, wenn ich mir darüber im Klaren war, dass ich an diesen Tränen Schuld war. Siv hätte sonstwas anstellen können, aber Tränen - noch dazu von ihr, die ich sie niemals hatte richtig weinen sehen - berührten mich stets. ich presste die Kiefer aufeinander und sah weg. Ich wollte nicht weich werden, das würde zu nichts führen.


    Schweigen dehnte sich wieder. Schluchzte sie gar? Ein flüchtiger Blick belegte, dass sie nicht aufgehört hatte. Ich schmatzte leise. "Das war falsch, Siv. Es war nicht richtig. Ich hatte gedacht... Ich habe gehofft, dass es dir hier gut geht. Besser als in deiner Heimat." Wenigstens irgendetwas sagte ich, wenngleich es auch nichts Originelles war. Hoffentlich hörte sie auf zu weinen. Ich kratzte mich kurz auf der Brust. "Ich bin ziemlich enttäuscht gewesen. Und das vorhin im Garten... Da hat mich dein Verhalten auch enttäuscht. Celerina ist wichtig für mich, verstehst du das? Ich werde sie vermutlich heiraten."

  • Siv sah weiter überall hin, nur nicht ihn an. Sie wagte es nicht, sie hatte Angst davor. Und sie verfluchte sich innerlich, dass sie die Tränen nicht komplett zurückhalten konnte, dass immer mehr davon in ihre Augen stiegen. Sie hasste sich dafür, war sie doch kein Mensch, der schnell zu weinen begann – oder sich gern anmerken ließ, wenn sie sich danach fühlte. Sogar ihre Lider senkten sich nur selten und wenn, dann sehr schnell, hatte sie doch Angst, ein paar Tränen würden sich herausstehlen aus ihren Augen, wenn sie sie normal schloss. Und das Schweigen dehnte sich aus. Siv war inzwischen so weit, dass sie sich nicht einmal mehr getraut hätte etwas zu sagen, wenn sie gewusst hätte was – aus Angst, ihre Stimme würde brechen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging. Es war so still in dem Raum, so schrecklich still…


    Als Corvinus dann schließlich doch etwas sagte, rührte sie sich zunächst nicht, aber dann konnte sie nicht anders – ihr Kopf fuhr hoch. Jetzt, wo sie ihn wieder ansah, fiel ihr auf wie nahe sie nach wie vor vor ihm stand, und obwohl ihr diese Nähe im Moment eher unangenehm war, rührte sie sich immer noch nicht. Hätte sie sich bewegt, sie wüsste nicht ob sie dann davon gelaufen wäre. "Ich weiß!" Ihre Stimme klang erstickt, aber sie bemühte sich verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten. "Ich weiß, dass falsch war. Ich weiß doch." Jetzt trat doch eine Träne aus ihrem Augenwinkel, rann hinunter, zog eine glitzernde Spur über ihre Wange hinab. Siv schluckt mühsam und kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. Sie hatte wahrlich genug geweint an diesem Tag. "Es tut mir leid. Es geht gut, hier, mir geht gut hier." Sie biss sich auf die Lippen und folgte mit ihrem Blick seiner Hand, wie er sich kratzte. Seine nächsten Worte dann ließen etwas in ihr gefrieren. Sie sah ihm wieder in die Augen, starrte ihn an. "Was?" wisperte sie. Sicher, sie hatte es im Grunde schon gewusst, Sophia hatte es gesagt, und es war deutlich geworden im Garten. Aber aus seinem Mund zu hören, dass er heiraten wollte, war noch einmal etwas ganz anderes. Siv schluckte erneut, und ihre Stimme klang wieder erstickt. "Also… du…"


    Was sollte sie darauf schon sagen? Dass sie allein schon den Gedanken hasste, dass er heiraten würde? Dass sich ihr der Magen umdrehte, wenn sie sich ihn mit ihr vorstellte? Oder dass die Situation im Garten sie deshalb so mitgenommen hatte, weil der Gedanke, dass diese Frau ihm mehr bedeutete als sie, unendlich weh tat? Jetzt trat sie einen Schritt zurück, wankte eher, und jetzt presste sie die Handballen auf ihre Augen, so fest, dass sie Sterne sah. Sie wollte nicht weinen. Vor niemandem. Schon gar nicht vor ihm. Sie wollte Stärke beweisen. Dabei wünschte sie sich nichts mehr, als von ihm in den Arm genommen zu werden. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch die Haare und ließ die Arme dann wieder sinken, während sie ihn ansah. Ihre Stimme zitterte immer noch so verräterisch. "Du… Ich wollte nie enttäuschen. Nicht dich. Nie dich. Du… du bist… so wichtig… für mich, in mir…" Bei Hel, wie sollte sie ihm sagen, was in ihr vorging? Es wäre ihr schwer genug gefallen in ihrer Muttersprache die richtigen Worte zu finden, aber auf Latein, wo sie sich doch noch nicht einmal sicher war, wie viel sie ihm überhaupt sagen sollte? "Der Garten war… da ich war… es tut so weh, weißt du, zu sehen, sie und du… und zu wissen, dass ich nicht bin wichtig für dich. Oder nur weil Garten. Die Wochen, seit Germanien, es tut nur weh, so sehr, weil du enttäuscht, und weil du… nicht magst, mich. Nicht mehr."

  • Siv klang, als hätte sie jemand gewürgt, um die Worte aus ihr hinauszuquetschen. Dementsprechend gequält hörte sie sich ab. Meine Brauen rutschten ein wenig näher zusammen, eine zweite Falte gesellte sich zur der auf meiner Stirn bereits vorhandenen hinzu. Ich fixierte die Träne, die nun zögerlich an ihrer Wange hinabrann, kurz an ihrem Kinn hängen blieb und schließlich irgendwo in der tunica verschwand. Zurück blieb eine feuchte Spur. Sie machte mir nichts vor, das wusste ich, allein schon angesichts der Tränen war mir das klar. Auch wurde mir durch ihre weiteren Worte klar, dass sie die eben gegebene Information nur noch mehr aufrieb. Vermutlich wäre ein anderer Zeitpunkt besser gewesen, überlegte ich, und war im nächsten Moment schon wieder erstaunt darüber, dass ich mir Gedanken darum machte, wie ich eine Sklavin weniger verletzen konnte, indem ich ihr die Nachricht von einer Heirat schonender beibrachte. Ich blinzelte und sah Siv erneut an. Sie war schon immer anders gewesen, anders für mich. Dieser törichte Fluchtversuch erst hatte alles verändert, und auch wenn ich mir recht erfolgreich einredete, dass es ohnehin besser war, wenn es so blieb wie es jetzt war, so drängten mich die Tränen und ihr ehrliches Geständnis förmlich in eine Ecke und knabberten an meiner Entschlussfähigkeit. Ich schürzte die Lippen, haderte mit mir selbst. Wenn ich sie nun wegschickte, tat sie sich womöglich noch etwas an, und das wollte ich nicht.


    Siv vergrößerte den Abstand zwischen uns, ich blickte kurz auf ihre Füße hinab und hob den Blick dann wieder an. Siv hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, und ich fand mich ratloser denn jemals zuvor vor ihr auf der Massageliege sitzend wieder. Was sie dann sagte, verwirrte mich zutiefst. Nie hatte einer von uns auch nur ansatzweise über das geredet, was wir füreinander gewesen waren. Ich hatte stets nur argwöhnen können, wer ich für Siv war, wer ich war, doch nie war es so offensichtlich gewesen wie jetzt und hier. Sicherlich, da war Anziehung und etwas Undefinierbares zwischen uns gewesen, wir hatten das Lager geteilt und normal miteinander reden können. Aber das jetzt... Ein Gesicht tauchte aus meinen Gedanken auf, Deandra, die lockigen Haare und die intelligenten Augen, und auch die Empfindungen, die ich seinterzeit gehabt hatte. Verwirrung, Schmerz, Wut, Resignation, letztere überwiegend. Niemals sollte mir wieder so etwas widerfahren. Und doch stand Siv nun vor mir, ein kleines Häufchen Elend, und rief diese Gedanken in mir wach. Meine Kehle war zugeschnürt, so intensiv war die Erinnerung und so stark versuchte ich, jetzt nicht nachzugeben. Nie wieder, das hatte ich mir geschworen, denn wie konnte man sich für das Reich aufopfern, wenn es nicht das war, was man am meisten liebte?


    Ich wandte den Blick ab, die in Blautönen gehaltenen, kleinen Mosaiksteinchen schienen im Licht des verstreichenden Tages schlicht grau zu sein, doch nicht minder interessant. Die vergangenen Wochen waren nicht nur für sie ein Klingentanz gewesen, auch mir hatten sie zu schaffen gemacht, wenngleich nicht nur Sivs wegen. "Ich muss heiraten, Siv", entgegnete ich zu den Mosaiksteinchen gewandt. "Es ist...das wird verlangt, weißt du. Irgendwann werde ich vergehen, und wer sollte den Namen der Familie forttragen und ausbauen, was ich erreicht habe, wenn ich keinen Erben vorweisen kann?" Ich sah auf und zu ihr hin. "Ich will versuchen, zu vergessen, was in Germanien gewesen ist. Ich glaube dir", sagte ich. Sie in den Arm zu nehmen überstieg meine Kraft in diesem Moment einfach. Und es durfte nicht sein...Celerinas wegen.

  • Siv wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Was richtig war. Was falsch war. Sie fühlte sich verloren und so hilflos wie noch nie in ihrem Leben. Sie starrte ihn an, Tränen zitterten in ihren Augen, und sie… wusste nicht, was sie sagen sollte. In all den Monaten, die sie hier gewesen war, hatte sie nie darüber nachgedacht, was sie für Corvinus empfand, war ihr nie wirklich der Gedanke gekommen, dass es etwas Besonderes war. Sie hatte es einfach hingenommen, hatte sich über ihn aufgeregt und ihn dann als Römer abgestempelt, wenn er sie verwirrte, und hatte es einfach genossen, wenn sie sich verstanden. Sie war so überzeugt davon gewesen, dass Liebe für sie nicht in Frage kam, dass sie darüber überhaupt nicht nachgedacht hatte, und selbst wenn – sie hatte keinerlei Erfahrung darin. Sie wusste nicht, wie es war, einen Menschen zu lieben. Sie wusste nur, was sie aus Beobachtungen anderer erfahren hatte, und die hatten ihr vor allem eines gezeigt: bei ihren Brüdern führte sie dazu, dass sie sich lächerlich machten. Bei ihrem Vater hatte Liebe zu Trauer und Schmerz geführt. Oh nein, sie hatte das nicht gewollt für sich, hatte es kategorisch abgelehnt, und jetzt stand sie da, stand diesem Mann gegenüber, konnte immer noch nicht laut sagen, was sie empfand, gestand es sogar sich selbst nur selten wirklich ein, und konnte es doch nicht mehr abstreiten: sie liebte ihn. Sie hatte für ihn die Chance auf Freiheit aufgegeben. Obwohl sie wusste, dass sie seine Sklavin war, dass sie niemals mehr würde haben können als das, was sie bisher geteilt hatten, niemals mehr als gemeinsame Nächte und das Wissen um eine Vertrautheit zwischen ihnen, die sie nur dann wirklich zeigen konnten, wenn sie allein waren. Und doch wäre ihr das genug. Wenn es nur tatsächlich so war. Wenn sie nur wüsste, dass es ihm genauso ging wie ihr…


    Aber davon sagte er nichts. Nun war er es, der ihrem Blick auswich – und er ging nur auf die mögliche Hochzeit ein. Darauf, dass er heiraten musste. Er sagte, was Brix ihr im Grunde schon gesagt hatte. Und er sprach von Erben. Den Namen der Familie fortzutragen. Ausbauen, was er erreicht hatte. Sie konnte dazu nicht viel sagen, waren ihr Überlegungen dieser Art doch weitgehend fremd. Wenn sie starb, würde sie ins Reich der Götter eingehen, und dort würde zählen, wie sie gelebt hatte – nicht ob sie Sorge dafür getragen hatte, dass irgendjemand das fortführte, was sie angefangen hatte. Aber sie lebte lange genug hier um zu wissen, dass Römer das anders sahen. Jedenfalls die Römer, die sich Sklaven leisten konnten. Letztlich war ihr das egal. Vor allem im Moment. Er ging nicht auf das ein, was sie sonst noch gesagt hatte. Er widersprach ihr nicht. Also war es so… Siv rang nach Luft und musste wieder den Impuls einfach wegzulaufen unterdrücken. Aber was sie sagen sollte, wusste sie auch nicht. "Ich weiß. Dass du heiraten musst. Dass das wichtig ist." Sie verstummte wieder. "Du glaubst. Aber ich nicht bin wichtig für dich. Ich bin Sklavin. Ich bin nicht wichtig, wie du für mich. Aber ich… ich will…" Erneut verfiel sie in Schweigen. Sie sah ihn an, suchte in seinem Blick nach irgendetwas, das ihr mehr verriet, und trat dann einen Schritt nach vorn. Sie dachte nicht mehr nach. Sie konnte nicht mehr. Sie sehnte sich nur danach, einfach bei ihm zu sein, so wie früher. Ihre Hand hob sich, und langsam, zögernd, berührte sie mit ihren Fingerspitzen seine Wange. Ihre Stimme war nur noch ein Wispern. "Marcus…"

  • Dass Siv nach Luft schnappte, entging mir, denn ich war tief in meinen Gedanken versunken. Celerinas Duft schien mit einem Male im Raum zu hängen, gleich den schweren Wasserdampfwolken, die sich nur schwerfällig einen Weg aus den geöffneten Oberlichtern nach draußen bahnten. Das schlechte Gewissen hielt mich im Griff, doch konnte ich nicht einmal sagen, wem es nun galt. Ich fühlte mich zermürbt, die Entspannung war dahin, und mein Kopf begann nun allmählich wieder zu schmerzen, gleichzeitig sehnte ich mich nach dem Rausch des Vergessens, dem Wein, und wünschte mich gleichsam etliche Jahre in die Zukunft, wo hoffentlich alles klarer und einfacher wäre als jetzt.


    Siv trat an mich heran und ein seltsamen Gefühl stieg in mir auf. Es war aufkeimende Panik, die Angst, an mir selbst zu scheitern. Das Herz hämmerte mir bis in den Hals hinauf, wieder bemerkte sie, dass sie nicht wichtig für mich sei. Ich wünschte mich fort, um der Versuchung zu widerstehen, mit ein paar Worten wieder auf die falsche Bahn zu gelangen. Schweigen tropfte zäh wie Honig in den Raum hinein, schien mir mit jedem Atemzug die Luftwege mehr zu verkleben. Ihre Fingerkuppen strichen über meine Wange, so zart und weich, und ich konnte den Blick nicht abwenden... dis pater! Der unsinnige Verdacht keimte in mir auf, sie mochte vielleicht eine Hexe sein, die mich verzauberte, um ihr zu Willen zu sein - und dann tat sie es Celerina gleich und nannte mich Marcus. Mir stockte der Atem, ich zuckte zurück und starrte sie entsetzt an, viel entsetzter darüber, dass es mich derart traf denn darüber, dass sie es überhaupt getan hatte. Ich griff nach ihrem Handgelenk. Flüchtig schoss mir die Erinnerung an unsere Begegnung vor wenigern Stunden durch den Kopf, wo ich sie ebenfalls festgehalten hatte. Und ich ließ sie wieder los, schluckte und begann, ganz langsam den Kopf zu schütteln. "Nicht. Lass mich jetzt allein." Ich unterdrückte ein Räuspern, um meine Stimme wieder in den Griff zu bekommen. "Geh, bitte."

  • Für einen Moment dachte sie, etwas zu entdecken. Meinte in seinem Blick zu sehen, wie etwas erwachte, etwas, das auf sie reagierte, auf ihre Worte und ihre Berührung antwortete. Aber dann nannte sie ihn beim Namen. Und er zuckte zurück. Starrte sie an. Sie konnte nicht sagen, was das in seinem Blick war, ob Fassungslosigkeit, Empörung oder gar Wut über das, was sie gewagt hatte. Sie, eine Sklavin. Es war auch nicht wichtig. Sie wusste selbst nicht, was sie getrieben hatte in diesem Moment. Sie hatte nicht nachgedacht… und genau das war ihr Problem. Sie dachte nicht nach, sondern ließ sich von ihren Gefühlen leiten, seit jeher, und es brachte sie jedes Mal in Schwierigkeiten, so schien es ihr in diesem Moment.


    Er griff nach ihrem Handgelenk, hielt es kurz fest und ließ es dann wieder los, so hastig, als hätte er sich verbrannt. Schüttelte den Kopf. Und sagte endlich etwas. Nur kam nicht das über seine Lippen, wonach Siv sich sehnte. Sie zuckte zusammen wie unter einem Hieb, unter beinahe jedem seiner Worte. Lass mich allein. Aus. Geh. Vorbei. Wenn sie noch einen Beweis gebraucht hätte für die Wahrheit dessen, was sie dachte, dann schien er dies zu sein. Diese Worte. Sie war ihm nicht wichtig. Sie bedeutete ihm nichts. Die Tränen in ihren Augen vermehrten sich schlagartig, schienen zu einem kleinen Meer zu werden, das ihren Blick verschleierte. Aber immer noch hielt sie sie zurück, so gut es ging, obwohl sie mehr denn je das Gefühl hatte zu fallen, unendlich tief, in ein schwarzes Loch, in dem es keinen Halt gab. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie ihre Hand sinken. Und ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich nach einem letzten Blick um und ging.

  • Zahlreich wie die Tautropfen am Morgen scheinen Sivs Tränen mit einem Mal zu werden. Ich wandte den Blick ab, denn ich konnte es nicht sehen und ich wollte es auch gar nicht. Mir war das alles zu viel. Unsere Begegnung am Morgen, Celerinas Besuch und die - wenn ich so im Nachhinein darüber nachdachte - doch recht deutlichen Reaktionen Celerinas, ihre Vertrautheit, Sivs Verhalten und jetzt dieses Gespräch... Irgendwann war es selbst mir zuviel. Ich war nie einer der geduldigsten Menschen gewesen, doch hier verlor ich nicht die Geduld, sondern beinahe den Verstand. Wie mochte ich mich so verhalten, dass es richtig war? Was musste ich sagen, was dafür tun? Mir erschien das alles auf einer Stufe zu liegen, die sich weit über meinem Kopf befand, und an die ich einfach nicht herankam. Ich zweifelte an mir selbst, was richtig war und was falsch, und ob ich wohl jemals aus dieser misslichen Lage würde entfliehen können.


    Siv wandte sich um, ich sah das, weil ich den Blick nun wieder ihr zugewandt hatte, und ich sah es mit einem Stein in der Brust. Doch was hätte ich schon anders tun sollen als sie bitten, mich allein zu lassen? Es konnte nicht einfach werden wie früher, das ging nicht. Jede Faser meines Seins sehnte sich plötzlich nach Prisca, meiner kleinen, lieben Prisca, der ich alles erzählen konnte, ohne mich schwächlich zu fühlen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass allein sie mich davor bewahrte, wahnsinnig zu werden, und in dieser Situation schien ich nicht weit davon entfernt. Siv hatte den Raum verlassen, und mit ihr war auch die letzte Möglichkeit gegangen, sie zurückzuhalten. Stille kehrte ein in den Raum, Einsamkeit blieb zurück. Ich fühlte mich unvollkommen, und ich war es auch. Die Senatorenwürde sollte mir angetragen werden, doch wer war ich schon? Ein Gesichtsloser, einer von vielen, der nicht einmal einen Erben hatte. Nun, wenigstens dafür wollte ich Sorge tragen, auch wenn dies vielleicht nicht meine Seele retten würde.


    Stumpfsinnig saß ich noch eine Weile im Bad und brütete vor mich hin. Mit jedem Gedanken, den ich dachte, erschien es mir unmöglicher, jemals wirklich und wahrhaftig glücklich zu sein. Schließlich rutschte ich von der Liege hinunter, streifte mir die tunica über und verließ diesen Raum der Erkenntnis, um Prisca aufzusuchen. Wenige Minuten später stellte ich fest, dass sie nicht im Hause weilte, und mit noch missmutigerer Laune als zuvor wandte ich mich meinen Gemächern zu, um mich zum Schlafen zu zwingen, denn im Schlaf war man nicht dazu verurteilt, die Gedanken wieder und wieder kreisen zu lassen.

  • Blind vor Tränen taumelte Siv durch die Gänge, ohne zu sehen, wo sie hinging. Sie stolperte, weil ihre Beine so sehr zitterten, sie stieß gegen ein Tischchen und prallte gegen einen Türrahmen, aber nichts davon drang wirklich vor in ihr Bewusstsein. Ihr Kopf war wie leergefegt. Jegliche Kraft schien sie verlassen zu haben, und sie fühlte sich gefangen in Schwärze. Weiter ging sie, wankte mehr, ohne auf den Weg zu achten. Sie war ihm nicht wichtig. Es war kein bewusster Gedanke, sie dachte in diesem Moment gar nichts mehr. Aber sie fühlte es. Es schien sie auszufüllen, dieses Bewusstsein. Er mochte gesagt haben, dass er ihr glaubte, dass er versuchen würde zu vergessen, was sie in Germanien getan hatte – aber was brachte das schon? Was nützte ihr das, wenn sie ihm egal war? Wenn es sich so verhielt, wenn sie ihm nichts bedeutete, dann war es ihr lieber, er verzieh ihr nicht. Denn so würde er weiter darauf achten, sie nicht zu Gesicht zu bekommen. Sie war seine Sklavin, sie konnte ihm nicht aus dem Weg gehen, wenn es nicht er war, der vermied sie anzutreffen. Und sie wollte ihn nicht mehr sehen. Sie hatte das Gefühl, es nicht aushalten zu können, nicht nach dem, was er gerade hatte deutlich werden lassen.


    Weiter trugen sie ihre Füße, und Siv prallte gegen eine weitere Tür und stieß sie ohne nachzudenken auf. Ohne es wirklich bewusst zu realisieren, ging sie in den Garten hinein. Die Tür blieb hinter ihr weit offen stehen. Die Germanin ging weiter, langsam, ohne etwas zu sehen. Ein Tränenmeer verschleierte ihre Sicht. Erst als sie an ihren Zehen etwas Feuchtes spürte, blieb sie stehen. Einen Moment verharrte sie, regungslos, dann wandte sie sich zur Seite und ließ sich zu Boden sinken, neben einer Weide, die am Teich stand. Sie lehnte sich gegen den Stamm und starrte auf das Wasser hinaus, in dem sich das letzte Licht der bereits untergegangenen Sonne und das erste Licht der Sterne glitzernd brach, ohne das schöne Schauspiel wirklich zu sehen, ohne es zu würdigen. Und so blieb sie, starrte vor sich hin, schlief zwischendurch ein, wachte wieder auf durch Schmerzen ob der ungewohnten Haltung und starrte wieder auf das Wasser. Sie verharrte regungslos, bis der nächste Morgen anbrach und jemand nach ihr zu suchen begann.


    ~~~ Finis ~~~

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!