Die Räume von Penelope

  • Im Vertrauen gegeben, achso. Eben war es noch unwichtig gewesen! Und sie hatte ihm erzählt, er könne mit ihr jedes Geheimnis teilen-offenbar was das nur einseitig gedacht! Er würde wieder wütender und er merkte, dass er sich schon bald nicht mehr würde beherrschen können. Er wollte Penelope nicht verletzen, und ein randalierender Schwerathlet im Museion war auch nicht das, was er wollte.


    Sein Gesicht wurde zu einer Maske. "Aha, ich verstehe. Ich muss wieder an die Arbeit." meinte er kalt, trat zwei Schritte zurück und verließ dann ohne weitere Worte Penelopes Arbeitszimmer

  • Wie ein verschreckter Hase stand Penelope regungslos da, als Ánthimos sprach. Zu lange hatte sie da bei ihrem Großvater gelebt und immer wieder Prügel bezogen, als dass sie anders auf die Wut und Kälte in seiner Stimme reagieren könnte. Auf einmal wirkte er so viel größer und kräftiger, als Penelope ihren Mann sonst sah. Sie wollte das gar nicht, aber diese Reflexe hatten sich einfach zu tief in ihre Seele gegraben, und auch die schönen Monate, die sie mit Anthi nun schon verbringen durfte, machten das Leben und die Erfahrungen davor nicht ungeschehen.
    Und so rührte sie sich erst, als er zur Türe schon fast hinaus war.
    “Anthi? Ánthimos? Ánthimos, warte bitte! Ich bitte dich! Ánthimos?“
    Aber er kam nicht wieder, und sie wollte nicht den ganzen Gang ihm hinterher schreien. Er war auch schon aus ihrem Sichtfeld verschwunden.
    Zitternd ging Penelope wieder in ihren Raum zurück und setzte sich erstmal auf den Stuhl. Ihr Blick fiel auf die Blumen, dann auf den Zettel. In einem Moment war alles noch so wundervoll gewesen, und im nächsten schon so fürchterlich. Kurz vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und schluchzte ein paar Mal. Aber nur kurz, denn sie musste sich hier drinnen beherrschen. Sie durfte hier nicht losheulen, das hier war ein Tempel der Musen und der Apollo, und es könnte ein Schüler hereinkommen. Sie war jetzt Philologos, da konnte sie sich nicht einsperren und weinen.
    Aber dennoch wusste sie nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie wusste, Ánthimos würde ihr nie etwas tun, das wusste sie einfach. Aber sie hatte trotzdem schreckliche Angst davor, er könne doch so wütend sein, wenn sie nach Hause käme. Das saß zu tief in ihr, diese Furcht, als dass diese sich einfach so wegwischen ließ. Ihre Hände hielten vorsichtig ihren Bauch, als wolle sie das Leben darin allein vor den Gedanken beschützen.
    Zu Inhapy gehen und sie um Rat fragen ging auch nicht. Wenn Inhapy das erfuhr, würde sie fuchsteufelswild werden und wahrscheinlich zu Ánthimos marschieren und ihn zur Rede stellen. Und dabei wollte ihr Mann doch grade von ihr lernen, wie man ägyptische Medizin herstellte. Das konnte sie nicht riskieren, ihrem Mann das kaputtzumachen, nur weil sie feige war. Aber was konnte sie sonst tun?


    Penelope saß lange einfach da. weitere Schüler kamen heute nicht. Sie schaute immer wieder auf die Blumen und auf den Zettel. Sie wußte einfach nicht, was sie machen sollte. Nach Hause konnte sie nicht, wenn Ánthimos wütend auf sie war. Aber wo sollte sie sonst hingehen? Hier bleiben konnte sie ja auch nicht.
    Schließlich fiel ihr nur ein Ort ein, wo sie hingehen konnte. Zum Paneion. Der Gott hatte schon so oft seine schützende Hand über das liebende Paar gehalten. Er hatte ihnen sogar ein Kind geschenkt, davon war Penelope überzeugt. Vielleicht würde ihr eine Lösung einfallen, wenn sie bei seinem Heiligtum war. Es musste einfach. Also ging sie dorthin, als die Sonne schon unterging.

  • Sie waren im Museion angekommen und er hatte sie direkt zur Tür von Penelopes Arbeitszimmer geführt. Sie waren schon eine komische Gruppe, allerdings hatten die Schreiber nicht versucht sie aufzuhalten, denn sowohl Anthi als auch Marcus waren diesen ja mittlerweile allzu gut bekannt.


    Dieses Mal aber klopfte Anthi an, denn der Vorfall mit Nikolaos war ihm noch sehr gut in Erinnerung. Bei dem Gedanken, stich es ihm leicht ins Herz, den der Streit mit seiner Verlobten und die Angst die er um sie gehabt hatte, hingen ihm immernoch ein wenig nach.

  • Das Musikstück wehrte sich. Anders konnte man es nicht sagen. Penelope wurde ja selten wütend, aber sie war kurz davor, die Wachstafel gegen die Wand zu schleudern. Heute war sie unruhig, und das war nicht gut, um Musik zu schreiben. Aber sie wollte dieses Stück unbedingt fertig bekommen! Der Anfang war so wunderbar gewesen, als würden die acht Noten der Tonleiter nur darauf warten, von ihr in unterschiedlichsten Reihenfolgen aufgeschrieben zu werden. Und dann plötzlich war es weg!
    Und jetzt saß sie schon seit bestimmt einer Stunde vor dem Stück, spielte es wieder, wieder und wieder, und kam nicht weiter. Das war doch zum verrückt werden!


    Da war Penelope geradezu froh, als es an ihrer Tür klopfte. Hoffentlich jemand, der ein lösbares Problem für sie hatte. Denn sonst würde sie früher oder später doch noch einer Wachstafel das Fliegen beibringen.
    “Intra!“ klang es daher hell und klar durch die Tür, als die vermaledeite Tafel beiseite geschoben wurde und Penelope sich bequem an ihren Schreibtisch setzte, um zu sehen, wer denn da gleich hereinkäme.

  • Anthi öffnete die Tür einen Spalt und streckte seinen Kopf hinein. Er st wollte er mal schauen, ob die Luft auch wirklich rein war. Dann sah er Penelope an, grinste breit und machte die Tür ganz auf.
    "Hallo mein Schatz, du schaust so bös. Wehrt sich Harmonia heute?" Er ging auf sie zu und blieb dann vor ihrem Schreibtisch stehen. "Ich habe diese kleine Gruppe in Rhakotis getroffen als ich auf dem Heimweg von Inhapy war. Ich soll di liebe Grüße ausrichten. Sie suchen nach Philolaos. Dieser hier," er zeigte auf Lycidas, "meinte sein Herr wolle einen Kitharisten für eine Festlichkeit oder so etwas mieten. Da dein Großvater das ja nicht mehr kann, dachte ich ich bringe sie einfach zu dir."

  • Nikolaos ging zu dem Raum, den Penelope als Arbeitszimmer im Mouseion nutzte. Höflich klopfte er an die Tür. An diesem Tag hoffte er, sie nicht wieder einmal in Verlegenheit zu bringen. War er gar milde geworden, nachdem er allzu oft Isis, Nemesis und die alte Hekate angerufen hatte? Er wusste es selbst nicht.


    In einer Hand trug er eine Kithara, ein teures Instrument, das jedoch bisher unbespielt war. In der anderen trug er eine Rolle aus dünner Bronze, die mit Leder bezogen war und in der sich Papyrus befand sowie ein Griffel und eine kleine Schatulle.

  • Leise zupfte Penelope eine der Melodien von Sappho. In Gedanken sang sie die Verse, die so romantisch anmuteten, während sie nur ganz leise mitsummte.
    Then, as the broad moon rose on high,
    The maidens stood the altar nigh;
    And some in graceful measure
    The well-loved spot danced round,
    With lightsome footsteps treading
    The soft and grassy ground.


    Sie war ganz in Gedanken und gar nicht so richtig bei der Sache, als es plötzlich an der Tür klopfte. Fast erschrocken zuckte sie zusammen und entlockte dabei der Kithara ein paar weniger harmonische Töne, die sie aber sofort mit ihrer Hand auf den dünnen Saiten zum verstummen brachte.


    “Empros!“ ließ sich klar und deutlich vernehmen, und Penelope wartete gebannt, wer hereinkommen würde.
    Als die Türe sich dann öffnete und sie den Gymnasiarchos mit Kithara und Schreibzeug bewaffnet sah, war sie doch fast verwundert. Sie hatte schon angenommen, er hatte sie doch vergessen. Aber so war es natürlich eine besonders freudige Überraschung für die junge Philologe.
    “Nikolaos, welch Freude, dich zu sehen. Wie ich sehe, hast du dein Instrument dabei. Setz dich doch“
    Mit einer Geste auf ihren Stuhl lud Pelo den Gymnasiarchos in ihre Stege. Endlich hatte sie vielleicht doch einen Schüler, obwohl sie jung und eine Frau war. Manchmal lächelte Tyche doch einem Sterblichen zu.

  • "Vielen Dank."


    Nikolaos trat ein und setzte sich. Die Art, wie er die Kithara in der Hand hielt, war fast ein wenig linkisch und schüchtern. Es war ihm ein wenig peinlich, mit diesem gar nicht abgenutzten, teuren Instrument vor die Meisterin zu treten, die er bis vor kurzem noch in den Sitten der Polis belehrt hatte. Er lächelte verlegen und stellte die capsula auf den Boden. Die Kithara blieb, nutzlos, wie etwas, das er nicht anzufassen verstand, auf seinem Schoß liegen.


    "Die Freude ist ganz auf meiner Seite... . Du sahst richtig, wie ich dich vor einiger Zeit bat... Nun wäre es mir Ehre, wenn du dich, die du berühmt bist für deine Kunst, des armen Stümpers - meiner- für eine Weile annähmst..."


    Die Art, wie er nun sprach, passte gar nicht zum Gymnasiarchos, der ohne Verlegenheit und fehlerfrei zu tausenden sprechen konnte.

  • Irgendwie wirkte Nikolaos unsicher, wie Penelope leicht verwundert feststellte. Sie hatte ihn noch nie so schüchtern erlebt wie in diesen Momenten, als er vor ihr saß und sein Instrument unsicher vor sich auf dem Schoß liegen hatte. Sonst war sie eher diejenige, die sich unwohl und ängstlich fühlte, auch wenn sie zu gut gedrillt worden war, das nicht nach außen zu zeigen. Aber Nikolaos war sonst immer so souverän und selbstsicher, dass sie gar nicht geglaubt hätte, er könne wirklich bei irgendetwas schüchtern sein. Schon gar nicht ihr gegenüber, die sich selbst ungefähr so erschreckend wie ein Katzenbaby fand. Es ließ den großen Gymnasiarchos richtig menschlich erscheinen mit einem Mal.
    Sie hingegen fühlte sich hier drinnen vollkommen sicher. Vielleicht manchmal etwas gelangweilt, eben weil sie keine wirklichen Schüler hatte. Auch wenn Nikolaos meinte, sie sei für ihre Kunst berühmt, bislang hatte sich noch niemand zu ihr verirrt. Was auch nicht weiter verwunderlich war, da sie bisher noch nicht von sich Reden gemacht hatte durch besondere Leistungen.


    “Oh, ich bin wahrlich nicht berühmt, werter Nikolaos. Nicht der kleinste Lorbeer schmückt mich, und auch hab ich keine Werke geschrieben, die alle Welt zu singen weiß. Aber ich hoffe, du nimmst auch mit den bescheidenen Möglichkeiten vorlieb, die ich dir trotz meiner unbedeutenden Person bieten möchte.“


    Penelope lächelte freundlich und aufmunternd zu Nikolaos hinüber. Ihr schien es ein wenig, als hätten sie die Rollen getauscht, denn vor wenigen Monaten noch war sie unsicher gewesen und hatte von ihm lernen wollen. Aber sie hoffte, dass sie zwar ebenso lehrreich, aber nicht genauso ehrfurchtgebietend war. Wobei bei näherer Überlegung das vielleicht auch gar nicht schlecht wäre.


    Penelope kam um ihren Schreibtisch herumgelaufen, nachdem sie Harmonia vorsichtig darauf gelegt hatte, um näher bei ihrem Schüler zu sein. Immerhin musste sie vielleicht Hilfestellung leisten. Wobei Nikolaos ja gemeint hatte, er habe bereits in seiner Jugend Stunden erhalten, so dass sie wohl nicht ganz am Anfang beginnen müsste.


    “Und dein Instrument ist gestimmt und du hast ein Plektron?“
    Am besten sie fing einfach mal an, zu fragen, was er dabei hatte, wovon er ihr erzählen konnte. Vielleicht würden sie so in die ungewohnten Rollen leichter hineinkommen, denn Penelope hatte noch nie einen Schüler gehabt.

  • Als Penelope seine Schmeichelei abwehrte, lächelte Nikolaos sanft und müde.


    "Ich fürchte, auf dem Gebiet der Kunst des Kitharaspiels und des Gesangs bin ich nicht deinen kleinen Finger wert... ."


    Seine Augen zuckten. Seine Hände zitterten. Das jedoch kaum merklich. Er behielt die Selbstbeherrschung.


    Er zog unter seinem Gewand einen kleinen Seidenbeutel hervor, dem er ein Plektron aus Elfenbein entnahm und eines aus Schildpatt. Er hielt sie beide Penelope hin, als erwarte er, sie würde die Plektra nun prüfen.


    "Die Kithara ist noch nicht gestimmt.", sagte er langsam. "Das heißt, sie ist eigentlich gestimmt, oder besser war-" Er brach im Satz ab. "Doch seitdem ist einige Zeit vergangen."

  • “Gut, dann wollen wir hören, auf welche Klänge sie einst gestimmt war und sie erneut stimmen.“
    Immerhin gab es sowas wie einheitliche Grundnoten nicht. Nicht jede Kithara war auf dieselbe Tonleiter gestimmt, es hatten noch nicht einmal alle dieselbe Anzahl an Saiten. Penelopes Harmonia hatte zwölf Saiten und umfasste damit mehr als eine volle Tonleiter. Jede Kithara hatte mindestens fünf Seiten, im Höchstfall jedoch zwölf. Die meisten und gängigsten hatten acht Saiten, so dass man eine volle Tonleiter auf ihnen spielen konnte, ohne mit der Hand die Saiten zu verkürzen um die höheren Töne zu erhalten.
    “Am besten nimmst du das Plektron aus Schildpatt, das klingt dann weicher. Halt es mir Daumen und Zeigefinger, und schlag damit jede Saite einzeln an, beginnend beim höchsten Ton.“
    Immerhin ging die klassische Tonleiter vom höchsten zum tiefsten Ton, Penelope konnte sich noch nicht einmal vorstellen, dass irgendjemand mal Töne als Punkte auf Linien zeichnen würde und diese vom tiefsten zum höchsten Ton als Oktave anordnen würde. Ihre Musik war noch nicht in absoluten Werten bemessen, sondern eher in Relationen zum vorangegangenen Ton und der Abfolge von Volltönen und Halbtönen, daher war es ganz normal, dass nicht jedes Instrument jede Melodie spielen konnte. Auch wenn sich einige Töne als die gängigeren und andere als die weniger gängigeren durchgesetzt hatten. Und wenn sie Nikolaos das Spielen beibringen wollte, sollten sie ihre Instrumente aufeinander abstimmen.
    “Wünscht du nur Unterricht im Spiel oder auch in der Theorie der Musik?“
    Für Penelope gehörte das Wissen um die theoretischen Grundlagen mit dazu, wenn man ernsthaft musizieren wollte. Aber sie wusste ja nicht, ob Nikolaos nicht doch nur seine Spielkünste ein wenig auffrischen wollte und nicht vorhatte, selbst auch zu komponieren und zu verstehen. Er sah zwar aus, als hätte er durchaus Sinn für Mathematik – und immerhin war die Musik Teil dieses Gebietes, wenn auch ein sehr spezieller – aber sie wollte ihn da nicht mit Informationen dann überfüttern. Und da er ihr erster Schüler war, war sie auch noch etwas unsicher, wie sie es am besten beginnen sollte.

  • Nikolaos konnte sich erinnern, vor einigen Jahren bereits am Mouseion Lehrstunden über die Theorie der Musik beigewohnt zu haben. Auch war er, als einer, der in einem wohlhabenden hellenischen Haus aufgewachsen war, nicht völlig unbedarft in den Angelegenheiten der Musik.


    "Ich denke, es kann nicht schaden, wenn ich meine bescheidenen Kenntnisse der Theorie unter deiner Anleitung und mit dir als Lehrerin vertiefe.", antwortete er.


    Das Elfenbeinplektron hatte er beiseite gelegt. Mit dem aus Schildpatt schlug er, wie ihm geheißen, die Saite mit dem höchsten Ton an.


    Der Ton war schief, hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit dem höchsten Ton einer Phrygischen Skala. Der zweite Ton lag sehr dicht am ersten, womöglich war weniger als ein Viertelton dazwischen. Der dritte hingegen war sehr viel tiefer. Vielleicht war die Saite nicht ausreichend gestrafft.


    Nikolaos Hand zitterte ein wenig. Er versuchte, es vor Penelope zu verbergen. Wenn sie wüsste... Nikolaos biss sich kurz auf die Lippe. Brav schlug er die fünfte Saite an, die sechste, die siebte, die achte und schließlich die letzte und neunte.

  • Selbst für Penelope war es schwer, genau herauszuhören, wie die Töne hätten sein sollen. Ursprünglich war ihre Tonhöhe wohl genau berechnet gewesen, ihre Beschaffenheit und die Dicke der Saiten genau bestimmt, um eben jene Töne hervorzubringen. Aber nun waren einige Seiten locker, andere von der langen Anspannung im Instrument etwas dünner geworden, und das galt es auszugleichen.
    Sie glaubte, dass dieses Instrument dereinst auf die phrygische Skala gestimmt worden war, also entschloss sie sich, dasselbe wieder zu tun.
    “Darf ich?“, bat sie Nikolaos um des Instrument, und nachdem er es ihr übergeben hatte, machte sie sich mit geschickten Fingern und einigem an Kraft daran, zu lose Saiten über dem schmalen Steg zwischen den beiden Hörnern des Instrumentes zu spannen, während sie andere vorsichtig lockerte. Sie hatte sich nicht erst an einer Saite bei dieser Art von Arbeit geschnitten, aber heute schienen die Götter es gut mit ihr zu meinen, und mit etwas Hilfe von feinen Werkzeugen aus Bein und Holz waren die Seiten bald wieder auf eine Tonleiter gestimmt, die abwärts von d’ bis d ging.
    “Gut, unsere Skalen setzen sich zusammen durch eine genaue Abfolge der verschiedenen Tonschrittarten. Ein Tetrachord umfasst eine perfekte Quarte, also zweieinhalb Ganztöne, eine Skala eine Quarte und eine Quinte, also noch einmal dreieinhalb Töne, insgesamt 6 Volltöne zusammengesetzt aus 8 Noten.“
    Penelope erklärte ruhig und sachlich, während sie die Töne einzeln noch einmal anschlug, um sie mittels Gehör auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Die phrygische Skala war nicht ganz so einfach zu verstehen wie die dorische (von e’ nach e), da hierbei der Halbtonschritt nicht am Ende lag, sondern in der Mitte des Tetrachordes. Allerdings wollte Penelope nicht den Charakter des Instrumentes völlig verändern und beließ es bei der etwas komplizierteren Skala.
    “Nun, Nikolaos, du sagtest, du hast schon einmal Unterricht erhalten. Kannst du mir sagen, wer diese Gesetzmäßigkeit berechnet hat und damit die mathematischen Grundlagen unserer Musik erschaffen hat? Und wodurch er auf diese Idee kam?“
    Wenn er bereits Unterricht erhalten hatte, fand Penelope diese Frage nicht besonders schwer. Pytagoras war schließlich weithin berühmt und galt allenorten als Begründer der Musiktheorie.

  • Bereitwillig überließ Nikolaos sein Instrument der Penelope. Beeindruckt beobachtete er, wie sie es geschickt stimmte. Er wartete, bis Penelope ihre Arbeit beendet hatte, ehe er auf ihre Frage antwortete. Er wollte sie nicht stören.


    "Pythagoras war es. Man sagt, er habe beim Verweilen vor eine Schmiede den Zusammenhang zwischen dem Gewicht der Hämmer und den Tönen entdeckt. Andere sagen, er habe einzelne Saiten genommen und ihre Dicke und ihre Spannung verändert, und Unterschiede im Klang gehört. Wiederum andere-"


    Er wusste nicht, ob er Penelope dafür Verständnis hatte, schien sie doch gegenüber mysthischen Erklärungsansätzen eher abgeneigt.


    "-sprechen von göttlicher Eingebung."


    Von letzteren gab es im Mouseion einige. Pythagoras galt ihnen als großer Lehrer, ja als eine Art Prophet (beinahe auf solche Weise, wie es die Ioudäer mit einigen ihrer großen Männer zu halten pflegten.) Als Schüler war Nikolaos mit einigen Anhängern von neu- oder pseudopythagoräischen Geheimlehren in Berührung gekommen.

  • Penelope nickte leicht. Erfreulich, dass Nikolaos schon doch so viel Wissen mitbrachte, so musste sie nicht ganz von vorne beginnen. Überhaupt diskutierte sie lieber und fand Wahrheiten in der gegensätzlichen Konversation, als nur auswendig eine Lehre herunterzubeten – oder eben vorgebetet zu bekommen.
    “Göttliche Eingebung? Nun, da würde sich die Frage stellen, welchem Gott man diese Erkenntnis dann zuschreiben müsste. So man davon ausgeht, dass ihm diese Erkenntnis an jener Schmiede gekommen ist, müsste man dann dem Hephaistos diese Erkenntnis zuschreiben? Diesem Gott wohnt zweifelsohne große Kunst inne, doch für Musik?
    Dafür wäre doch wohl eher Apoll zuständig, als Gott der schönen Künste und der Musik. Oder doch eher Hermes Trismegistos, den die Ägypter Thot nennen? Immerhin der Erfinder der Musik, ebenso wie der Zahlen.“

    Penelope schaute leicht lächelnd zu Nikolaos hinüber. Er hatte recht, sie war zu empirisch, um solch eine Erkenntnis gänzlich nur auf die Götter zurückzuführen. Natürlich ehrte sie diese in jeder ihnen gebührenden Form, doch wusste sie selbst, welch schwierigen Weg man für Erkenntnisse teils beschreiten musste. Empirische Vorgehensweisen waren ihr daher lieber, als etwas auf göttliche Eingebung zurückzuführen.
    “In Bezug auf die Messbarkeit finde ich die Vorgehensweise mit dem Monochord. Auch wenn man sich hierbei nur auf das eigene Gehör verlassen kann, inwieweit ein Ton nun höher als der andere ist, so sind die Längen der Saite doch genau bemessbar. Und es hilft beim Verständnis des Spiels mit verkürzten Saiten, wenn man höhere Töne benötigt, als ein Instrument durch seine ursprüngliche Bespannung zu spielen in der Lage ist.“
    Das wäre doch eine herrliche Erfindung, Töne wirklich mathematisch bemessbar zu machen, sie mit Zahlen nach phytagoäischem Vorbild genau zu beziffern und ihnen so gänzlich exakte Werte zuordnen zu können, sie im Vornherein berechenbar zu machen und Harmonie nicht aus dem Gehör heraus nur zu erfahren, sondern direkt zu berechnen. Aber so etwas war wohl Träumerei, denn wie konnte man etwas unsichtbares wohl so genau bemessen?

  • Nikolaos lächelte, als Penelope begann, nach der zuständigen Gottheit zu suchen.


    "Ich denke, die Musik ist keine Erfindung des Apollons. Wie alle Götter so ist sie auch Bestandteil des Kosmos. Nur musste sie an uns Menschen herangetragen werden, wie eine kostbare Gabe."


    Wieder ein Lächeln.


    "Vielleicht gibt es Dinge, die sich nicht messen lassen. Eine Farbe ist sowenig messbar wie ein Ton. Vielleicht verwehren uns die Götter die Gabe, Farben und Töne zu messen - vielleicht muss in vielen Künsten ein kleines Geheimnis bleiben, damit sie uns und die Herzen der Götter erfreuen. Es gibt Dichter, die sich an alle Formen halten, korrekt den Rhythmus der Verse halten, kaum Wörter verstümmeln - und dennoch ist das, was sie tun, fade und hässlich. Es muss also hinter den sichtbaren und messbaren Dingen etwas geben, was die Schönheit ausmacht. Vielleicht handelt es sich dabei um eine höhere Form der Erkenntnis, ja, gar eine höhere Idee.


    Man kann Dinge tun, und sie gut tun, ohne genau zu wissen, was man tut. Die ersten Schmiede gingen ihrer Kunst nach, ohne sich auf Erfahrung stützen zu können. So auch die ersten Bootsbauer. Oft sanken Boote, doch es muss solche gegeben haben, die nicht sanken, und nach deren Vorbild alle Nachfolger ihre Werke bauten, und dabei das Vorbild verbesserten.


    Hätte keines der Boote dem Meer standgehalten, so hätte es auch keine Erfahrung darüber gegeben, wie man Boote bauen muss.


    Aber wie haben die ersten Erbauer jener Boote die richtige Form getroffen, das richtige Holz verwendet undsoweiter? Hatten sie vielleicht ein Gefühl, eine Ahnung?


    Doch ich schweife zu weit ab. Zurück zur Musik."

  • Penelope lächelte leicht zurück. Auch wenn Hermes der Sage nach auf dem Berg Kybele die Lyra und damit die Musik erfunden und dem Apoll nur zum Geschenk gemacht hatte, wollte sie Nikolaos nicht unterbrechen. Er hatte einen sehr philosophischen Ansatz gewählt, und so etwas gefiel Penelope. Sie hatte durchaus etwas übrig für Theorie, wenn sie auch eher praktisch veranlagt war und Dinge gerne in messbare Größen packte.
    “Nun, vielleicht stimmt ja auch, was die Inder sagen, und alle Götter sind letzten Endes nur Aspekte eines einzigen, göttlichen Gedankens, oder wie die Ägypter sagen, des männlichen und weiblichen Prinzips. Oder Teil der zwei Prinzipien des Plato.
    Aber du hast recht, das führt wahrscheinlich sehr weit, dort ein Anfang oder ein Ende zu finden, ist dieses Gebiet doch reine Theorie. Und letztendlich wissen die Wahrheit wohl nur die Götter, wenn überhaupt.“

    Sollte die Musik tatsächlich älter und dem Kosmos direkt entsprungen sein, so wussten es wohl nicht einmal die Unsterblichen. Denn diese waren jünger und nicht allwissend.
    “Wo wir gerade bei Platon sind. Für ihn verkörperte die Musik das Fundament, auf dem wir unsere Staaten gründen. ’Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne daß auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten.’“, zitierte Penelope den großen Philosophen. “Und gleichzeitig forderte er, dass die Musik nicht nur empirisch zu erfahren sei. Der Gedanke Musik muss berechenbar sein, um sich von der Empirie zu lösen. Scharf verurteilte er deswegen die Phytagoäer, die aufgrund der Unmessbarkeit der Töne sich eben nur auf ihr Gehör verlassen. Nun, Nikolaos, sag offen, was denkst du? Sollte man versuchen, Musik ohne Empirie erfahrbar zu machen, oder geht dann ihre Seele verloren? Die Phytagoräer meinen ja auch, dass die Musik unsere Seelen beruhigt und ihnen den Schmerz zu nehmen vermag durch bloßes Lauschen.“
    Penelope wollte ihm nicht einfach nur vorkauen, welche theoretischen Ansätze es gab. Sie wollte seine Meinung hören, was er glaubte, welcher Richtung zu folgen er geneigt war. Seinem Vortrag vor Monaten im Rosengarten nach zu urteilen, war er Platon wohl nicht abgeneigt. Allerdings wollte sie da nicht vorschnell etwas annehmen.

  • "Ich glaube, die Musik als Geschenk der Götter wird es überleben, wenn sie einst gemessen werden kann. Wobei ich nicht glaube, dass wir Sterblichen sie jemals völlig berechnen können. Wie bei allem in der Natur. Natürlich finden wir immer wieder neue Erkenntnisse und verstehen mehr und mehr. Vermutlich werden die Menschen in tausend Jahren mehr verstehen und wissen als wir*. Aber ist es nicht so, dass mehr Fragen gestellt werden müssen, je mehr man beantworten kann? Jede Erkenntnis führt zu vielen neuen Fragen. Ich glaube nicht, dass wir jemals zum Ende kommen. Die Natur, zu der die Musik gehört, besteht aus einer unermesslich großen Anzahl von Ideen die vielleicht zu einer Idee führen, die unermesslich tief in ihr verborgen liegt."


    Er lächelte fein. War da ein ironischer Zug auf seinen Lippen?


    "Ich glaube, dass wir die Musik nicht vollständig in allen Winkeln durchdringen müssen, um ihre heilsame Wirkung zu empfinden. Neugeborene, die nichts von ihr wissen, keine Ahnung von der Mathematik überhaupt haben, lassen sich durch Wiegenlieder beruhigen."


    Er lächelte wieder. Dieses Mal war da sicher keine Ironie. Ihm schienen diese Gedanken viel Vergnügen zu bereiten.


    "Beide haben Recht. Platon damit, dass es immer das Ziel unseres Strebens sein sollte, die Ideen hinter den Dingen zu erfassen - auch wenn wir dieses Ziel vielleicht nie erreichen sollen- und die Pythagoräer damit, dass uns auch die Gaben der Götter erfreuen können, wenn wir sie nicht verstehen.


    Das Kind beruhigen die Wiegenlieder. Den Erregten sanfte Klänge und die Worte alter Dichter. Den Niedergeschlagenen tröstet die Musik. Und früher, in den Heiligtümern des Asklepios, wurde, wie manche berichten, den Kranken Musik vorgespielt, um ihre Heilung zu beschleunigen.


    Auch bevor die Heilkunst zu ihrer gegenwärtigen Blüte gelangte, soll dies getan worden sein."


    *Dass in Wirklichkeit zu jener Zeit schon die verrückten Khristianer eine tyrannische Herrschaft innehatten, der vieles an Wissen zum Opfer fallen sollte, so auch die Schriften des Nikolaos von Alexandria, konnte er sich noch nicht einmal vorstellen ;).

  • Sim-Off:

    Auch hier Entschuldigung, aber wirklich, wirklich viel zu tun grad



    Penelope lächelte. Ihr gefiel Nikolaos Antwort, denn sie war nicht so starr wie die Meinung vieler ihrer Kollegen, die glühende Verfechter der einen oder der anderen Theorie waren und die jeweils andere nicht gelten lassen mochten. Doch Nikolaos bewies selbst mit dieser eigentlich belanglosen Antwort sein diplomatischen Geschick und gab beiden Recht. Penelope, die selbst diese Balance und Harmonie als goldenen Mittelweg für sich gefunden hatte und von jeder Lehre das nahm, was passen mochte, war daher sehr davon angetan.
    “Eine interessante Antwort. Vielleicht stimmt es ja, was im Osten gesagt wird, und die erste Sprache, die gesprochen wurde, war Musik, und wir erinnern uns an die Zeit vor unserer Geburt, wenn wir sie hören.“
    Penelope wusste nicht mehr genau, wo sie das gehört hatte, aber es hatte ihr gefallen. Irgendwie schien es zu treffen. So wie Mathematik eine allgemeine Sprache war, war Musik als ihr Teilbereich auch eine, die jeder verstehen konnte, unabhängig von seiner sonstigen, geistigen Leistung.


    “Aber verschieben wir diese Diskussion vielleicht auf später. Immerhin wolltest du auch lernen, zu spielen. Nimm das Plektron, so wie ich.“
    Sie zeigte ihr eigenes, wie sie es zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, damit Nikolaos es einfach nachahmen konnte.
    “Beginnen wir mit dem anzupfen der einzelnen Seiten. Erstmal nur eine Tonleiter, von Néte nach Hypáte. Immer einzeln.“
    Penelope spielte vor. Auf ihrer zwölfseitigen Harmonia konnte sie auch seine Skala problemlos spielen, und von der Untersten (Néte) zur Obersten (Hypáte) Saite zu spielen war nun wirklich keine schwere Aufgabe.
    Nachdem Nikolaos Sicherheit im Anschlagen der Töne gefunden hatte, probierte sie mit ihm eine kleine Melodie.
    “Gut. Dann wollen wir das Streichen probieren. Je nach der Richtung, in die du streichst, ändert sich die Klangfarbe. Der letzte Ton bleibt besonders im Gedächtnis, also spiel mehr nach unten zu den hohen Tönen, wenn du fröhlich spielen willst, und mehr zu dir, wenn es betrübter wirken soll. Du musst nicht immer alle Saiten nehmen, nur Start und Ende tragen den Laut“, erklärte Penelope und gab ihm auch hier eine Probe von dem, was sie meinte.



    Sim-Off:

    Mal zum Anhören, wie so eine Kithara dann klingt, HIER ein schönes Klangbeispiel

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