Cubiculum MFG | Ein Quantum Trost

  • Schrecklich, einfach schrecklich war die Nachricht! Epicharis hatte es vor einigen Stunden von einem Sklaven erfahren und war einfach schockiert gewesen. Aquilius war nicht im Hause, wusste daher noch nichts vom Tod seiner Nichte. Wo Aristides war, wusste Epicharis gerade nicht. Antonia war mit ihrem Kind beschäftigt, ob sie es wusste, konnte Epicharis nicht sagen. Aber sie wollte nicht Gefahr laufen, es ihr preiszugeben. Das wäre nicht rechtens gewesen, denn sie kannte Celerina bisher kaum. Gracchus aber wusste es mit Sicherheit, denn er hatte den Boten empfangen, wie Epicharis hatte herausfinden können. Was musste jetzt in ihm vorgehen?


    Epicharis hatte nicht lange gezögert. Ihren Brief an Aelia hätte sie ohnehin nicht fertigschreiben können, so plötzlich, wie die Nachricht sie getroffen hatte. Nach einer Weile des Hin-und-her-Überlegens schob sie also das Tintenfass fort und legte die Feder ab, dann stand sie auf und legte sich im Hinausgehen eine Palla um die Schultern.
    Auf dem Weg hin zu Gracchus' Cubiculum, wo sie es zuerst versuchen wollte, kam ihr eine Idee, und sie machte einen Umweg über die Culina. Gute zehn Minuten später stand sie dann endlich vor der fein gemaserten Tür zu Gracchus' Reich, hielt die filigrane Schale, deren Seiten stilisierte Vögel zeigten, in der einen Hand und klopfte mit der anderen an.

  • Ob der Tragödie wegen hatte Gracchus bereits mit seinem Sklaven Sciurus gesprochen, welcher die Überreste Celerinas sollte aus Ostia in die Hauptstadt überführen, sonstig wusste bisherig vermutlich nur die halbe Sklavenschaft des Hauses davon, welche dies über die bei dem Gespräch mit dem Angehörigen der Flotte anwesenden Sklaven im Atrium hatte mitbekommen, da solcherlei Inhalt sich stets wie ein Lauffeuer in den niederen Schichten des Hauses verbreitete. Im Anschluss an eben jenes Gespräch hatten Gracchus' Schritte ihn in den Garten hinaus gelenkt, wo Antonia mit dem kleinen Minor beschäftigt war, doch der Anblick der beiden in ihrer vollkommenen Unschuld hatte ihn umkehren lassen, da er die Nachricht ein wenig wollte hinauszögern, bis zum Abend allfällig, womöglich auch bis zum nächsten Tag oder zu jenem Zeitpunkt, an welchem unvermeidlich würde sein, es auszusprechen. Caius war in Belangen des Cultus Deorum unterwegs - nicht nur ob der Tatsache wegen, dass er Celerinas nähester Verwandter im Hause war, wollte Gracchus ob dessen zuerst mit ihm sprechen -, so dass nichts blieb außer innerer Ruhelosigkeit. Einige Zeit lang versuchte Gracchus mit einigen Schriftstücken in seinem Arbeitszimmer sich abzulenken, doch die rechte Konzentration wollte nicht sich einstellen, so dass schlussendlich er sich in sein Cubiculum zurück zog, wo er nicht glaubte, dass irgendjemand ihn zu dieser Stunde würde suchen. Er saß auf seinem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, starrte unzählige Löcher in die Wand ihm gegenüber, welche ob des Starrens längstens nicht mehr bestand, und wanderte in seinem Gedankgengebäude durch die Halle der Ahnen, durch die Flure der Vergangenheit und umging mehrmals den Saal der Entscheidungen, um stets wieder im Flügel der ungelösten Fragen anzugelangen. Zu viele Fragen blieben wie eh und je und so sehr Gracchus auch suchte, letztlich blieb wie stets die Schuld an ihm verhaften. Ein Klopfen riss ihn aus seinen desperaten Gedankengängen, doch da er niemanden erwartete denn einen Sklaven mit einer Nachricht, blieb er auf dem Bett sitzen, sandte nur ein deutliches
    "Ja"
    zur Türe hin und ließ sich, bevor diese sich konnte öffnen, zu einem tiefen Seufzen hinreißen.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Ein knappes - und so gar nicht Gracchus-typisches, einfaches - Ja später konnte der Bewohner des Zimmers sehen, wie sich die Klinke langsam gen Boden senkte und eine schmale Gestalt in zartem Violett schob sich in den recht dunklen Raum hinein. Epicharis' Augen mussten sich erst ein wenig an die vorherrschende Dämmerung gewöhnen, doch als sie die Tür schloss, konnte sie bereits mehr erkennen als undeutliche Schemen verschiedenster dunkler Nuancen. Zunächst wunderte sie sich, dass Gracchus keine Lampen entzündet hatte, dann erinnerte sie sich daran zurück, wie sie empfunden hatte, als die Nachricht wegen Aristides kam. Sie hatte sich auch nur verkriechen wollen und war froh gewesen, wenn die Dunkelheit ihre Tränen verborgen hatte.


    Eine Welle des Mitgefühls schwappte über Epicharis' Empfinden hinweg. Als sie sich umwandte, suchten ihre Augen Punkte des Raumes ab, an denen Gracchus sich verborgen halten konnte. Sie fand ihn nicht dort, wo sie vermutet hatte, jegliche Sitzgelegenheit war verlassen, doch auf dem Bett sitzend entdeckte sie ihn dann. Mehr als einen winzigen Augenblick brauchte sie nicht für die Ortung ihres neuen Verwandten, und schon gesellte sie sich zu ihm, ließ sich neben ihm nieder, ehe er aufstehen konnte und platzierte die Schüssel, deren Schönheit im Dunklen nur noch zu erahnen war, zwischen sich und ihm auf der weichen Unterlage.


    Sie sagte nichts. Momente verstrichen, in denen Epicharis einfach dort neben Gracchus saß und schwieg. Erst dann suchte ihre Hand nach seiner, fand sie schließlich und drückte sie tröstend. Worte erschienen ihr belanglos und oberflächlich. Die Geste drückte all das aus, was sie nicht in Worte hätte fassen können, ohne die Situation zu verändern. Verschlossen in einem anderen, stillen Kämmerlein ihres Gedächtnisses war die Freude der Hochzeit wegen, ihr Verstand beschäftigte sich nur mit dem Verlust, der Celerinas Tod für die Familie darstellen musste. Und sie hatte sie nicht einmal richtig kennenlernen können, hatte es auf später verschoben. Nun war dazu keine Zeit mehr. Epicharis, die bis eben auf der Bettkante gesessen hatte, streifte mit geübter Bewegung die einfachen Sandalen von den Füßen und platzierte sich selbst dann, begleitet von leisem Stoffrascheln, direkt neben Gracchus, der mit dem Rücken an der Wand saß. Eigentlich, so rief sie sich in Erinnerung, wäre es Antonias Aufgabe gewesen, ihn nicht allein zu lassen. Aber Antonia hatte, wenn sie bereits von der Tragödie wusste, sicherlich selbst genug damit zu tun. Epicharis war vermutlich die einzige, welche die Tatsache nicht gar so schlimm traf wie alle anderen. Und so saß sie nun an Gracchus' Seite, hielt seine Hand und schwieg gemeinsam mit ihm, ohne etwas aufdrängen zu wollen.

  • Er hatte den Kopf bereits wieder gesenkt, nahm nur aus den Augenwinkeln wahr, wie eine Gestalt leise sich in den Raum hinein schob, die Türe wortlos wieder schloss, so dass Gracchus in seinem Gedanken sich bestätigt sah, dass ein Sklave es war, einer der cubicularii allfällig, welcher etwas zu richten hatte, dies würde tun, ohne seinen Herrn zu stören, klandestin und leise, wie ein Windhauch, welcher durch das Zimmer strich und sich wieder verflüchtigte, ehedem man ihm wurde gewahr. Erst als Epicharis an das Bett heran trat, die Schüssel abstellte, sah er auf, blickte in ihr Gesicht, desinteressiert erst, doch mit dem Erkennen ihrer Person breitete Verwunderung auf seiner eigenen Miene sich aus. Er ahnte nicht, dass sie bereits ob Celerinas Tod unterrichtet war, hielt dies gar für vollkommen abwegig, ahnte nichts ob ihrer Beweggründe, war darob gänzlich verwirrt ob ihres für ihn deswegen merkwürdig anmutenden Gebarens, regelrecht perplex deswegen, so dass er den Mund zwar langsam leicht öffnete, keinen Ton jedoch herausbrachte und schlussendlich wieder schloss, als die erst kürzlich angeheiratete Verwandte seine Hand ergriff. Ihre Berührung ließ jegliche Gedanken augenblicklich ihm entschwinden, verwirrte seine Sinne nur mehr noch, sein Herz begann in wildem Galopp in seiner Brust zu rasen und Hitze breitete sukzessive in seinem Leibe sich aus. Es war nicht nur nicht der richtige Augenblick, es war zudem nicht die richtige Person, es war nicht einmal das passende Geschlecht, es war ganz einfach eine Unmöglichkeit, und dennoch schlich sich die Erkenntnis gleich einem Schlage ins Gesicht in Gracchus' Geist, dass es eine seltsame Art und Weise gab, auf welche er sich zu Epicharis hingezogen fühlte, eine Mischung aus Wertschätzung, Bewunderung, Verbundenheit und Sympathie, jene Facette der Emotion, welche bisweilen ihn Frauen verfallen ließ auf gänzlich andere Art als Männer dies üblicherweise taten, welche in traumwandlerischer Entzückung ihn ihnen folgen, ihn an ihren Lippen hängen und ein Übermaß an Bewunderung in ihm erwachsen ließ. Epicharis war eine dieser Frauen, jener Perlen im endlosen Oceanos, jener glimmenden Edelsteine im Staub der öden Wüste, jener Harmonien in der Kakophonie der Welt - doch dass sie so wortlos den körperlichen Kontakt, seine Nähe suchte und derart ihm zu Leibe rückte, dies ließ nur eine einzige Emotion in Gracchus zu: Panik. Er wusste nicht, was ihre Beweggründe waren, doch er wollte dies gleichsam nicht wissen, da er Gründe fürchtete, welche er nicht wollte wissen - Reminiszenzen an ihren Besuch in der Villa drängten sich ihm auf, als sie beteuert hatte, nur seinetwegen gekommen zu sein -, gerade und insbesondere, da sie die Gemahlin seines Vetters Aristides war, seines größten Vorbildes, von welchem zweifellos er wusste, dass ihm nicht nur an ihr gelegen war, sondern er gleichsam ihr mehr nur als Zuneigung entgegen brachte. Flucht - ob nach vorn oder zurück - war stets Gracchus' erste Wahl in solcherlei Bedrängnis, so dass er hastig ein Stück von Epicharis abrückte, dem Kopfende des Bettes zu, seinen Herzschlag zu beruhigen und seine Gedanken zu ordnen suchte.
    "Ep'cha..ris ..."
    Die Konfusion seines Geistes ließ die Sprache erneut ihm wirr werden, obgleich einen solchen Grad der Zerstückelung er längst hinter sich geglaubt hatte, gleichsam wollte kein passendes Wort ihm in die Sinne geraten, kein passender Sinn für Worte.
    "I'h ... "
    , suchte er zu beginnen, doch nach sich selbst musste er bereits wieder zum Ende gelangen, leergefegt sein Geist, angefüllt mit der Hitze seines Leibes.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Die Schale mit den Honigkeksen kippte ein wenig, als Gracchus sich bewegte und von ihr wegrutschte. Seine Hand entglitt Epicharis, und sie runzelte im Ansatz die Stirn ob seines Verhaltens. Gleichzeitig interpretierte sie es als Abwehrmechanismus hinsichtlich der Sache, bezog seine Reaktion nicht etwa auf sich selbst und ihre trostspendende Berührung. Das ließ auch die entstandenen Runzeln auf der vormals claudischen Stirn wieder weichen und einen milden Ausdruck auf ihre Züge treten. Gracchus war verwirrt, natürlich war er das, sie wäre es auch gewesen, wenn jemand eine so schlechte Botschaft an sie herangetragen hätte. Und so über die Maßen verantwortungsbewusst, wie er war, wollte er wohl keinen Trost. Sich nicht die Blöße geben, jemandem zu zeigen, dass er verletzlich war. Epicharis kannte Gracchus nun schon lange, wenn auch aus der Entfernung, aber sie war findig und klug, und so war es nicht schwer zu erraten, was in ihm vorgehen mochte. Zudem wollte sie Gracchus so sehen, den starken, stets beherrschten und so intelligenten Gracchus, dem die Familie so wichtig war, dass er darüber bisweilen sich selbst vergaß. Das machte ihn umso liebeswerter und auf eine Weise attraktiv, die zwar nicht Aristides' Attraktivität entsprach, aber in Epicharis große Anziehungskraft ausübte und ihr das Gefühl gab, behütet zu sein. Und sie war stolz darauf, nun mit Gracchus verwandt zu sein. Es war zum Teil auch sein Verdienst, dass Epicharis mit der Heirat eine große Last von der Brust genommen worden war, denn nicht nur ihr Gemahl, sondern die ganze Familie hatte sie wirklich herzlich empfangen.


    Epicharis überlegte kurz, ob sie Gracchus nachsetzen sollte, verwarf den Gedanken dann aber. Nicht nur seine Körperhaltung, auch seine Stimme wirkten so, als würde er einfach nicht damit fertig werden, dass sie sich um ihn kümmern wollte. Die Flavia beschlich der Verdacht, dass sich die vormalige Beziehung zwischen Antonia und Gracchus wohl nicht gerade zum Positiven hin gebessert hatte, wenn er nun so...scheu war. Sie nagte einige Male an ihrer Unterlippe, nahm dann die Schale auf und stellte sie auf den Platz, an dem Gracchus eben noch gesessen hatte. "Ich habe dir Plätzchen mitgebracht." Stille. Sie schien zu knistern in der Dunkelheit, und Epicharis wurde es allmählich unbehaglich zumute. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, herzukommen?


    So schnell, wie der Gedanke sich gebildet hatte, löste er sich auch schon wieder auf. Natürlich war es gut, hergekommen zu sein! Gracchus brauchte jetzt jemanden, ganz sicher. Sie konnte ihn nicht allein lassen. Und überhaupt, diese triste Dunkelheit brachte ihn nur auf trübe Gedanken! Epicharis rutschte nach vorn, hin zur Bettkante, und erhob sich. Sie zog die Vorhänge auf, die wenigstens ein kleines Bisschen der hereinbrechenden Nachtschwärze vertrieben. In Gracchus' Cubiculum kannte sie sich nicht aus, hätte zuerst die Öllampen suchen müssen, ehe sie sie vielleicht gefunden hätte. Und um einen Glimmstängel zu organisieren, hätte sie ihn kurz allein lassen müssen, und das wollte sie nicht. Als das erledigt war und die dunkelgrauen Schatten sich um ein paar Nuancen erhellt hatten, kam sie zurück und setzte sich wieder auf die Kante des Bettes. "Du solltest nicht allein sein." Aufmerksam sah sie zu ihm hin, die geringe Entfernung mutete ihr wie Meilen an, zwischen ihnen ein klaffender Abgrund, den es zu überwinden galt. "Gräme dich nicht. Du kannst nichts dafür. Ich weiß, wovon ich rede." Doch sie ahnte nicht, dass Gracchus ihre Worte und das darauf folgende, aufmunternde Lächeln durchaus missinterpretieren konnte.

  • Ratlos blickte Gracchus auf die Plätzchen, gar als könnten die unförmigen Gebilde in der Schale ihm eine Antwort geben auf all die Fragen, die sich seit Epicharis' Auftauchen in seinen Geist drängten. Er gehörte nicht zu jener Sorte Menschen, welche begierig auf allerlei Süßkram aus waren, auch nicht zu jenen, welche stets irgendwelche Kleinigkeiten zu Essen in ihrer Nähe mussten wissen, so waren es Opfergaben, welche er mit den Gebäckstücken in Verbindung brachte, um die Gewinnung der Aufmerksamkeit des Gegenübers zu forcieren. Doch weshalb wollte Epicharis seine Aufmerksamkeit, weshalb glaubte sie jener mit Naschereien nachhelfen zu müssen, gerade hier, in seinem Reich, wo sie doch musste wissen, dass er jederzeit für ein Gespräch ihr würde zur Verfügung stehen, wie stets allen Mitgliedern des Hauses? Mit einem Male stand sie auf, entfernte sich von ihm und Gracchus wurde ein wenig leichter, da er bereits überstanden zu haben glaubte, was er nicht wollte überstehen, denn allfällig würde sie ebenso klandestin sich wieder entfernen, wie sie gekommen war, und sie beide würden nie wieder ein Wort ob dessen verlieren. Doch sie ging nicht, zog die Vorhänge bei Seite, vertrieb die triste Düsternis und kehrte zurück. 'Du solltest nicht allein sein.' - die Worte hallten in seinen Sinnen nach, echoten durch seinen Geist und waberten durch jede seiner Zellen hindurch. 'Du kannst nichts dafür.' - woher wusste sie davon? War es so deutlich ihm anzusehen, was er empfand, hatte er so schlecht seine Emotionen verbergen können? 'Ich weiß, wovon ich rede.' - mit einem Donnerschlage krachte ihr letzter Satz in seine Sinne, brach jede verzweifelte Hoffnung, er würde all dies sich nur einbilden, ließ keinen Zweifel mehr zu an ihren Beweggründen. Mit einem Male umspülte ihn ein gewaltiger Fluss aus schlechtem Gewissen gegenüber seinem Vetter Aristides, welcher unbezweifelt nichts hiervon ahnte, nicht von ihr, nicht von ihm, und Epicharis' Nähe wurde ihm mehr und mehr unerträglich, da nun zudem er befürchtete, es gäbe gänzlich andere Gründe, weshalb Epicharis die Hochzeit hatte forciert. Leise war seine Stimme, und doch schien sie die Stille zu laut zu durchbrechen, schien durch den Raum hindurch zu beben und musste der gesamten Villa in den Ohren klingen.
    "Es mag der Seele gegeben sein, zu empfinden, do'h es ist an unserem Geiste zu zügeln, was ni'ht sein darf."
    Unbezweifelt musste auch Epicharis sich dessen gewahr sein, dass dies nicht durfte sein, nicht auf ihre Weise und nicht auf die seine, nicht über jene Bindung der Verwandtschaft zwischen ihnen hinaus, gleich, ob sie angeheiratete Base oder die Gemahlin seines Vetters war. Zu tief hatte Gracchus sich bereits ob seines Vetters Caius wegen in einem Gespinst aus Lügen und Furcht verrannt, und obgleich er sich stets nach einer solchen Vertrauten sehnte, wie seine Base Leontia dies einst gewesen war, nach jener perfekten platonischen Hingabe, so konnte er nicht zulassen, dass Epicharis aus anderer Anziehung heraus sich ihm zuwandte.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Eine erneute Woge der Zuneigung zu Gracchus schwappte über Epicharis hinweg, als er sich selbst das Wissen darum eingestand, Selbstkastei zu üben, indem er sich nicht gestattete, die Trauer offen zu zeigen. Das ehemals claudische Kinn senkte sich gemächlich gen Brustbein, ihr Blick wurde nochmals eine Spur weicher und sie unterdrückte den Impuls, erneut nach seiner Hand zu greifen. Warum nur tat er sich das an? Ließ sich nicht helfen, indem er mit ihr sprach und sein Leid teilte? Epicharis verstand es nicht. "Lieber Gracchus, du weißt, dass alles, was wir hier miteinander teilen, niemandes Ohr erreichen wird, wenn du es nicht möchtest", erwiderte sie, nicht minder leise im Tonfall, doch um so viel mehr Emotionen reicher in der Stimmlage.


    Warum nur wollte er sich ihr nicht anvertrauen? Schon im Garten, als sie ihn besucht hatte vor einiger Zeit, und als er kaum ein verständliches Wort herausgebracht hatte, war da dieses Gefühl gewesen, dass er ihr einfach nicht genügend vertraute. Genaugenommen war es verständlich, immerhin gehörte sie nicht richtig zur Familie. Und doch machte es sie traurig, nicht, weil nicht sie es war, deren Hilfe er zurückwies, sondern weil er sich niemandem anvertraute, so schien es ihr. Irgendwann mochte er daran zerbrechen, denn gleich wie stark ein Mensch war, irgendwann einmal war selbst das größte Fass gefüllt und bereit zum Bersten. Epicharis nagte an ihrer Unterlippe und suchte nach Worten, die es Gracchus erleichtern würden, sich zu öffnen. Auch ihr Blick fiel nun auf die Schale mit den unangetasteten Honigkuchen, die nicht mehr als eine Geste der Umsorgung darstellten. Das Relief einer Gänsemutter, die ihre Küken unter den Fittichen barg, fing kurz ihren Blick ein. "Irgendwann musst du dir selbst eingestehen, dass es so nicht weitergehen kann. Ich meine... Was ist das für ein Leben, wenn man sich selbst so isoliert, wie du es tust? Auf Dauer kann das doch nicht gut gehen. Und es tut dir auch nicht gut, das sehe ich doch." Auf Epicharis' Stirn war nun eine Falte entstanden, ein Anzeichen dafür, dass ihr Gracchus' Problem am Herzen lag, denn dass es eines gab, war für sie offensichtlich. Ein tiefer Seufzer entwich ihrer Brust. "Niemand hat gewusst, was passiert."

  • I-V


    Zweifel rann durch Gracchus' Sinne, honigfarben und ebenso zähflüssig, Derangierung in Blaugrau, durchbrochen von jenem zarten Zitronatzitronengelb, in welchem die feinsinnige, epiphane Leichtigkeit schimmerte. Epiphane Epicharis, so ephemer streifte sie durch sein Leben, ließ seinen Geist in Entzückung sich ergehen, nur um stets seine Sinne wirr und glimmend zurück zu lassen. Warum sie, die sie Aristides als Frau gegeben war, sie, die sie nun ein und aus in dieser Villa ging, sie, der gegenüber es ihn beständig drängte, sein Herz ihr auszuschütten ob ihrer filigranen Leichtigkeit wegen, ob ihrer einnehmenden Art, die er auf Händen wollte tragen durch sein Gedankengebäude, sie, der erste Mensch überhaupt, welche nicht in blinder, unerklärlicher Liebe ihm verfallen war und dennoch nur seinetwegen kam. Nun saß sie vor ihm und zerstörte mit ihren Worte jegliche Hoffnung, randalierte durch sein Innerstes hindurch und ließ nur Desperation zurück, ein zerbrochenes Bildnis aus perfekten Momenten der Harmonie, die Erkenntnis, dass ohne das devastive Element des Verlangens ein seinetwegen nicht möglich war. Stets führte nur eines zum anderen, stets zu dem einzig möglichen Ende, stets blieb nur bittere Wahrheit zurück, stets nur der Fluch seines Lebens.
    "Unwissenheit ist keine Entschuldigung und darf keine Re'htfertigung sein, ni'ht dafür."
    Obgleich sie seine Isolation missbilligte, welche niemals er als diese hatte empfunden, welcher er sich allfällig nicht einmal tatsächlich war bewusst, so sehnte er sich in diesen Augenblicken nach der stillen Wärme der Einsamkeit, denn mochte die Leere auch in sich keine Freude bergen, so fasste sie zumindest auch keinen Kummer in sich, barg stattdessen stillen Trost aus sich selbst heraus.
    "I'h habe diese Familie schon zu oft zu tief hinab gezogen, ganz ohne dass dies in meiner Absi'h lag, do'h i'h werde es ni'ht zudem in vollem Bewusstsein tun, insbesondere ni'ht wenn es Marcus betrifft."
    Er wagte nicht, sie anzusehen, mochte nicht in ihre Augen blicken, mochte in die Leere starren, das Nichts blicken, mochte nicht die Zukunft sehen, welche mit einem Male durch Epicharis' Einzug in die Villa nurmehr unerträglich ihm schien, dann an ihrem Ende konnte nur erneut der Fluch stehen, welcher sukzessive um ihn herum zerstörte, und obgleich er stets hatte gefürchtet, dass eines Tages er auch Caius und Marcus in seiner Zerstörung würde von ihm hinfort reißen, so hatte er doch stets sich an die Hoffnung geklammert, dass wenigstens dies würde ihnen erspart bleiben. Doch es war nie ein Entrinnen vorgesehen, allfällig würde nur der Tod ein Ende sein, mehr oder minder.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Unverständnis trat in den wehmütigen Blick, mit dem Epicharis Gracchus betrachtete. Den Inbegriff der römischen Tugenden, auch wenn das für ihn scheinbar bedeutete, nichts und niemanden an sich heran zu lassen. Auf das Nichtverstehen folgte Enttäuschung, denn seine erneute Zurückweisung konnte nur bedeuten, dass er ihr nicht genügend Vertrauen entgegenbrachte oder sie nicht einmal annähernd in dem Maße schätzte wie sie ihn. Epicharis biss sich auf die Lippe und senkte den Blick wieder auf die Schale, deren frohgemuter Inhalt sie jetzt mit hämischen Mandelaugen anzugrinsen schien. Das Herz zog sich in ihrer Brust zusammen, nicht um ihretwillen, sondern um der Qual wegen, der er sich selbst fortwährend aussetzte. Auch als er die Kunde vom vermeintlichen Tode Aristides' in die Villa Claudia getragen hatte, kurz auf die boshafte Ankündigung in der Acta Diurna folgend, hatte sie diesen Blick gesehen. Sie erinnerte sich noch ganz genau. Inzwischen aber schmerzte es ungleich mehr, einen so lieben, nahen - störrischen! - Menschen derart gepeinigt reden zu hören. Und wieder gab er sich die Schuld am Tod eines Familienmitglieds. Erst beim zweiten Teil des Satzes riss Epicharis förmlich das Kinn in die Waagerechte und starrte Gracchus an.


    Und starrte.
    Die Kehle war ihr zugeschnürt, als sich ihr der Fehler erschloss, den sie begangen hatte, ihn misszuverstehen. In einem anderen Licht betrachtet, gab alles einen anderen Sinn. Es erschien ihr schlagartig so klar, seine Reaktion, die Flucht vor ihrer Berührung, seine Worte von eben... Aber wie hatte er annehmen können, dass sie...? Zumal seit der Hochzeit nicht einmal eine Woche vergangen war? Epicharis' Herz schlug einen schnellen Rhythmus, ihre Pupillen hatten sich in Erkenntnis geweitet. Ein seltsames Kribbeln durchzog ihren Körper, so als hätte sie ihr Schiff eben noch rechtzeitig um einen tückischen Eisberg herummanövriere können. Sie schluckte, benetzte die Lippen. Und Gracchus hatte sich immer noch abgewandt und vermied jeden Blick. Ohne Frage glaubte er wohl, sie vor den Kopf gestoßen zu haben. Ihre Stimme schwankte leicht, als sie, nach einer Ewigkeit, wie es schien, endlich Worte fand. "Ich liebe Marcus. Ich bin... Ich war nicht mit der Absicht hierher gekommen..." Zerstreut blickte sie auf die weiche Unterlage. Was hatte sie sagen wollen? Jedes Wort schein fortgewischt. Epicharis schloss die Augen, hob eine Hand und strich sich in verlorener Geste über die Wange. Nach erneutem Ein- und Ausatmen setzte sie erneut an, sich zu erklären. "Celerina. Ich habe gehört, was passiert ist. Ich wollte nach dir sehen, das ist alles. Ich dachte..." Erneut verstrickte sie sich in unkoordinierten Sätzen. Die Eloquenz lag ihr nicht einmal halb so gut wie Gracchus, selbst jetzt, da ihn diese seltsame Krankheit in zähem Honig gefesselt hielt. Mit zunehmender Hitze - denn Epicharis' Gesicht hatte eine Rötung angenommen, die bei normalen Lichtverhältnissen unmissverständlich sichtbar gewesen wäre - verstrickte sie sich mehr und mehr in den Fäden ihrer Gedanken, und so entschloss sie sich in einem letzten, verzweifelten Versuch, alle Rhetorik über Bord zu werfen und sich einfach das von der Seele zu reden, was ihr wichtig war. "Du gibst dir die Schuld dafür, nicht wahr? Das hast du bei Marcus getan, du tust es jetzt wieder. Du bist nicht derjenige, der sich abschottet und allein auf seinem Bett sitzt, das bist du sonst nicht. Ich weiß das. Du möchtest für deine Familie das Beste und jeglichen Rückschlag von ihr fern halten, damit das Schiff nicht kentert. Aber dabei vergisst du, dass deine eigene, kleine Jolle mit jedem Sturm mehr und mehr Schaden nimmt, wenn du dir nicht helfen lässt, sie zu reparieren!" Epicharis schnappte nach Luft und kam in der gleichen, schnellen Bewegung so nahe an Gracchus heran, dass sie ihn sozusagen zwischen sich und der Wand einkeilte. Die Schale war gekippt und ergoss ein Honigkuchenallerlei auf das Bett, doch Epicharis sah es nicht. "Dein Gewissen plagt dich, du schläfst schlecht, jeden Morgen hast du tiefe Augenringe, auch wenn Sciurus sich in Schweigen hüllt, wenn man ihn fragt, was dich bedrückt und wie man dir helfen kann. Denkst du denn, ich sehe das nicht? Ich bin nicht blind, Manius Gracchus!" Epicharis' Augen glitzerten nun verräterisch, sie war den Tränen nahe. Inzwischen hatte sie ihre Hände auf seine Schultern gelegt und ruckelte ein wenig an ihm herum. "Du bist mir wichtig, ich bewundere dich, aber in diesem Punkt bist du so halsstarrig, dass ich alles tun würde, damit du endlich aufwachst und erkennst, dass ich dir nichts Böses will. Mir war meine Familie auch immer wichtig. Ihr seid jetzt meine Familie, ich bin eine von euch, eine Flavia. Im Leben nicht fiele mir ein, Antonia das anzutun, was du dachtest! ... Ich möchte dir so gern helfen, aber wie kann ich das, wenn du dich immer wieder zurückziehst, ob das nun dieser blöde Sprachfehler ist oder...oder das jetzt hier?" Inzwischen kullerten die Tränen munter hinunter. Epicharis schniefte herzhaft und ließ dann plötzlich Gracchus wieder los, um ihn schmerzlich anzustarren. "Ich hab doch nur noch euch", flüsterte sie.

  • I-XVIII


    Celerina - im ersten Augenblicke konnte er nichts anfangen mit jenem Namen, tief gefangen im Labyrinth des Durcheinanders in seinem Innersten. Doch schlussendlich sprach Epicharis es erneut aus - seinetwegen, sie war seinetwegen gekommen, nach ihm zu sehen, nicht aus Verlangen, nicht aus Begehren oder der Suche eines gewagten Abenteuers wegen. Eine flüchtige Woge der Erleichterung schwappte über ihn hinweg, gleichsam schlich Scham sich ein in ihn, dass er überhaupt hatte solcherlei annehmen können, doch beides war machtlos gegen jene immense Flut der Emotion, war nichts gegen das Chaos, welches hernach folgte. Mit der gewaltigen Faust ihrer gnadenlosen Offenheit durchbrach Epicharis die endlos dicken, steinernen Schichten der harten Oberfläche, welche Gracchus Stück um Stück in jahrelanger Mühe hatte über sich errichtet, unter welchen ein brodelnder See aus Magma verborgen lag, unter gewaltigem Druck sich hatte angestaut, der nun durch die aufgerissene Fläche nach außen zu drängen suchte, das gesamte Gebilde, welches seit seinem Zusammenbruch während des Aedilates ohnehin bereits mit feinen Rissen war übersät, langsam in sich zerbrechen ließ, gleichsam prasselten Epicharis' unverblümte Worte wie ein Meteoritenschauer auf ihn hinab und schlugen weitere Löcher in die immer dünner werdende Membran seines Selbstschutzes. Regungslos saß er, ließ ihre Berührung, ihr drängendes Rucken über sich ergehen und suchte vor der Wahrheit ihrer Worte sich zu verbergen, suchte nicht sie an sich heran zu lassen gleich der Emotionen in ihm, suchte ihre Worte bezüglich seiner selbst nicht zu vernehmen, suchte sie zu ignorieren, zitternd am ganzen Leibe, beinahe erfolgreich, doch machtlos gegen ihren letzten Satz. Es war dieser so similär zu Antonias Worten, fast schien es, als war die Villa Flavia zu einem Auffangbecken für gestrandete Claudia geworden, doch war es gleich, welcher Familie Epicharis letztlich entstammte, sie gehörte nun zu der seinen, zu den Seinen, und in jenem Augenblicke, da ihm dies wurde vollends bewusst, kehrte neuerlich die Furcht in ihn zurück, die Furcht davor, mehr Kummer noch zu verschulden, ihren Tod, den Antonias oder gar Minors. Er hatte geglaubt, der Fluch hätte endlich sein Ende gefunden, hatte letztlich der Hoffnung sich ergeben, mit der Berührung seines eigenen Todes jegliche Schuld abgeglichen zu haben, hatte Manius Minor als untrüglichen Garant erachtet, dass eben dem so war. Doch Celerinas sinnloses Vergehen strafte diese Hoffnung Lügen, denn alles war wie stets, unersättlich forderten die inferiores ihre Beute, entrissen jene der Welt, die er einst so töricht hatte geopfert.
    "Ihre larven haften mir an"
    , presste er zwischen seinen Lippen hervor, wankend in dem letzten Rest Gravitas, welchen er noch konnte aufbringen, in vergeblicher, Sisyphoshafter Qual mit bloßen Händen versuchend, die Spalten in seinem Erdreich zu schließen, mit bloßem Willen dem Drängen seiner Welt Einhalt zu gebieten.
    "Na'ht um Na'ht fordern sie ihren Tribut, ... all jene, wel'he dur'h meine Schuld ihren Tod fanden, ... mein Vater, ... meine Mutter, ... meine Schwestern, Quintus, Arrecina, selbst Leontias verlorene Seele giert nach meinem Geiste ..."
    Brodelnd und kochend drängten die Emotionen in ihm empor, und auch das salzig Nass, welches langsam sich aus seinen Augen stahl, konnte nicht die Hitze eindämmen.
    "Und nun wird au'h Celerina si'h zu ihnen gesellen, des Na'hts meinen Namen rufen, des Tags ihren Atem in meinen Nacken hau'hen, die Klauen ihres Schattens in meinen Leib reißen ..."
    Sein Körper erbebte, verlor sich im Zittern, welches aus seiner Furcht erwuchs, ließ die Knie ihn anziehen und die Arme darum schlingen, während in seinem Inneren das Magma beständig brodelte, sich seinen Weg unermüdlich bahnte und mit einem Male eine Eruption seine Hülle durchbrach.
    "I'h ... habe das ni'ht gewollt ..."
    , brach es mit einem Schluchzen aus ihm heraus und er ließ seinen Kopf auf die Knie sinken, um die Flut an Tränen zu verbergen, welche ihren Tribut forderten für all die Jahre der Unterdrückung. Nicht einmal Caius hatte er je diese Schuld gestanden, denn die Last auf den zarten Banden ihrer Liebe war bereits zu groß, seine Liebe zu kostbar, um der Gefahr des Zerbrechens sie auszusetzen. Doch Epicharis' Worte, ihre Taten, ihr Wesen an sich hatten mit aller Gewalt auf das Schloss in seinem Inneren eingedrängt, die Büchse der Pandora in ihm geöffnet, aus welcher alles Übel seiner Welt nun herausbrach.
    "I'h wollte es ni'ht ... i'h ... i'h war nur so wütend. I'h wollte do'h nur, dass sie stolz auf mi'h sind. I'h wollte doch nur ..."
    Ein neuerliches Schluchzen durchbrach seine Worte, so dass auch in diesem Augenblicke nicht jener drängendste Wunsch sein Innerstes verließ, jene kindliche Begierde nach Aufmerksamkeit und Liebe, welche mit dem Knaben erwachsen war, welche in immer neuen Varianten sich stets gegen ihn hatte gekehrt, bis dass er letztlich der Überzeugung anheim gefallen war, dass ihnbezüglich solcherlei nicht möglich sei, nicht einmal in abgeschwächter Form, in keinerlei Spielart. Einzig Aquilius und Aristides waren hierbei Ausnahmen, die einzigen, die von Anbeginn an ihn stets hatten genommen wie er war, niemals ihn zur Aufgabe seiner selbst hatten gezwungen, doch obgleich er nie an ihrer Liebe und Freundschaft hatte gezweifelt, so war doch auch dies Gebaren ihm immer unverständlich geblieben. Gracchus' Körper erbebte weiter unter den Erschütterungen seines Innersten, sein Selbst bäumte sich auf gegen den Geist, der all dies unter Verschluss zu halten suchte, triumphierte in aller Heftigkeit über die seltene, ungewohnte Freiheit, vergaß die Welt um sich herum, vergaß das weit verzweigte, komplexe Gebilde in ihm, welche in all seinen filigranen Ausprägungen erschaffen war aus eben diesem Kern.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Vor einer halben Stunde wäre es ihr noch schrecklich peinlich gewesen, vor Gracchus zu weinen - wieder einmal. Sie hätte angenommen, dass er glaubte, sie würde stets nur in seiner Gegenwart weinen. Doch jetzt war alles fort. Ausgelöscht von der Woge der Gefühle, dem Chaos, in das sie sich hineinmanövriert hatte, nur weil sie es wieder nicht hatte lassen können. Vermutlich war das ihr Fluch – eine höchst ungesunde Mischung aus Optimismus, Hilfsbereitschaft, Mitleid, Frohsinn, Verweichlichung und Leichtigkeit. In ihrem eigenen, kleinen Dilemma gefangen, bemerkte Epicharis die Veränderung Gracchus' erst, als er zu zittern begann. Ihr erstes Blinzeln daraufhin war fasziniert, das zweite tendierte gen liebevoll und beim dritten zog sich ihr Herz zu einem festen Knoten zusammen, so übermächtig war das Bedürfnis plötzlich geworden, ihn einfach nur zu schützen. Experten würden diese Empfindung wohl abstruserweise als Mutterinstinkt bezeichnen.


    Epicharis sog die Luft ein, als er von den Larven sprach, verstand nicht, wie er sich so etwas nur einreden konnte - doch kam es sogar noch schlimmer. Er machte sich allen Ernstes für den Tod so vieler aus seiner Familie verantwortlich. Mit zusammengezogenen Brauen und ratlos nach unten verbogenen Mundwinkeln hockte Epicharis dort wusste zum ersten Mal in Gracchus' Gesellschaft nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Am liebsten hätte sie herausgeschrien, dass er ein Hornochse war, wenn er sich so etwas selbst eintrichterte, aber sie verstand nur zu gut, was er sich dabei dachte, und so schwieg sie. Sie selbst hatte auch lange Zeit keine andere Möglichkeit gesehen als ihre Existenz, dass ihre Familie sich von ihr abgewandt hatte, ihr Vater, ihre Stiefmutter und ihre Geschwister. Doch das hier war noch eine Spur schärfer. Gerade, als Epicharis den Mund öffnen und etwas erwidern wollte, von dem sie erst im genau selben Moment gewusst hätte was es sein würde, glitzerte verräterische Flüssigkeit in Gracchus’ Augen. Und Epicharis saß wie gelähmt, betrachtete, wie ein Blinzeln später sich eine erste, einzelne Träne ihren zögerlichen Weg über die Wange und das glattrasierte Kinn bahnte. Ihr war die Kehle wie zugeschnürt, als sie das sah. Niemals hätte sie vermutet, dass er sich ihr öffnete, geschweige denn weinte. In einem klaren Moment wäre es ihr vermutlich als eine logische Schlussfolgerung auf ihr Drängen hin erschienen, doch da war keine Logik in Epicharis, nicht einmal mehr kontrolliertes Denken. Was er beschrieb, klang so schrecklich, so furchteinflößend und grauenvoll, dass sie es sich gar nicht vorstellen wollte. Da war es kein Wunder, dass Sciurus das Thema wechselte oder Gracchus morgens nicht ausgeschlafen aussah. Immer noch war Epicharis unfähig, sich zu rühren. Mehr und mehr Tränen drängen hinaus und schüttelten die geschundene Seele. Epicharis weinte stumm. Erst die Bewegung, die Gracchus noch den letzten Rest der Selbstbeherrschung raubte, ließ ihre Starre dahinschmelzen. Sie konnte sich nicht länger all dieser Verzweiflung entziehen, es machte sie ganz krank, ihn so zu sehen und nicht zumindest zu versuchen, ihm zu zeigen, dass sie ihn nicht allein lassen würde. Ein leises Rascheln verursachte die Bewegung, mit der sie sich direkt neben den warmen Körper Gracchus’ setzte, mit dem Rücken ebenfalls an die kühle Wand. Ein Arm legte sich um seine Schultern, zog ihn mit sanfter Gewalt nach rechts und damit hin zu Epicharis, die inzwischen ebenfalls die Beine angewinkelt hatte. Auch ihr anderer Arm umschloss nun Gracchus. Wie ein kleines Päckchen. Sie legte ihre Wange an sein Haar und begann wie von selbst, ihn sachte zu schaukeln. Dabei rollte unermüdlich, doch leise Träne um Träne, versickerte in Tunika, Palla oder Haar. Es war Epicharis vollkommen egal, ob er sich nun dagegen sträubte, dass sie ihn so hielt oder nicht. Mit eiserner Sanftmut hielt sie ihn so geborgen, ihr eigener Kopf vollkommen leergefegt und nur mit trüber Düsternis angefüllt, wattig und warm. Gracchus’ Worte nahm sie einfach so zur Kenntnis, erwiderte für den Moment jedoch nichts, sondern ließ ihn einfach in Ruhe. Sie war da für ihn, das sollte er wissen, es spüren. Und auch, wenn böse Zungen etwas anderes behaupten würden, so trieb Epicharis nichts anderes als ihr ureigenstes Wesen dazu, hier bei Gracchus zu sitzen und nichts weiter zu tun als ihn festzuhalten.


    Er wollte nur, dass sie stolz waren. Epicharis presste die Lider aufeinander, wollte die unaufhaltsam quellenden Salzperlen endlich zurückdrängen, aber die Art, wie Gracchus sich ihr anvertraute – dass er es tat – führte eher zum Gegenteil. Wieder erbebte der nicht mehr grave, sondern so zerbrechliche Körper, ungeachtet dessen, was der Verstand wohl zu verhindern suchte. Epicharis’ Rechte veränderte ihre Position ein wenig und fuhr nun beruhigend durch das flavische, kurz geschorene Haar. Zum ersten Mal nahm sie ganz bewusst den Geruch wahr, der Gracchus anhaftete. Wie ein Sommerregen, der so wechselhaft war, erschien er ihr. Ihre Nägel strichen gleichförmig sanft über seine Kopfhaut, wieder und wieder, in ebenso eintöniger Geste wie das fortwährende Wiegen ihrer beiden Körper. Immer noch fand sie in ihrem Kopf nichts, keine Worte, die ihn vielleicht trösten konnten. Nur der stetige Rhythmus ihres Herzschlags, den er sicher auch hören musste, war da. So präsent wie Epicharis. Stetig und stark. Kaum mehr als ein Hauch war ihre Stimme, als sie dann sprach. Keinen Gedanken verschwendete sie mehr an die richtige Ansprache. In diesem Moment gab es nur eine, die ihr geeignet erschien. „....Manius.“ Er war weg, der Gedanke. Plötzlich vergangen in Düsternis. „Ich bleibe bei dir.“ Mehr war nicht zu sagen. Sie hätte ihm versichern können, dass es nicht seine Schuld war, dass sie stolz auf ihn war - wie die kleine Schwester, die sich immer einen großen Bruder gewünscht hatte, der so war wie er. Aber das alles wären zu viel der Worte gewesen, hätten vermutlich nicht einmal bewirkt, dass Gracchus sie erwog, und so beschränkte sich Epicharis nur darauf, ihm das Gefühl zu geben, nicht allein vor dem vermeintlichen Scherbenhaufen zu stehen.



    inspired by I-IV

  • I-II


    Nicht länger suchte Gracchus gegen sein Innerstes zur Wehr sich zu setzen, denn längst war er machtlos gegen sich selbst, vergessen jede Scham, vergessen jede Pflicht, vergessen die stets auf Perfektion bemühte Hülle um ihn herum, nurmehr ein in sich zerfallenes Häuflein einzelner Partikel, ein immenser Komplexhaufen, stets mit roher Gewalt hernieder gekämpfter, verdrängter Emotion. Bereitwillig ergab er sich der Nähe Epicharis', wand nicht länger sich gegen ihren Trost, weinte hemmungslos in ihrem Schoße einem verängstigten Kinde gleich. In ihm weinte der kleine Junge, der niemals hatte verstehen können, weshalb seine Eltern seinen Bruder ihm hatten entrissen und auf einem Scheiterhaufen verbrannt, der niemals hatte verstehen können, weshalb sie nicht mehr ihn hatten sehen wollen, in ihrer Nähe erdulden, ihn hatten fort gesandt in die Ferne, in ein fremdes Land, zu fremden Menschen, der niemals hatte verstehen können, weshalb seine Geschwister gegensätzlich zu ihm bei den Eltern durften verweilen. In ihm weinte der Knabe, auf der Schwelle zur Mannwerdung, der verzweifelt suchte eine Frau zu lieben, um in der Konkurrenz seiner Gefährten bestehen zu können, dessen Geist und Körper sich dennoch nur immer nach seines Vetters Liebe verzehrten, welche nicht durfte sein und die er darob immer tiefer in sich verbarg, der stets davon träumte, der Realität zu entrinnen und ein gänzlich anderes Leben zu führen als den Plänen seines Vaters zu folgen, so gänzlich different, dass allein der Gedanken daran ihn stets in Scham versetzte. In ihm weinte der junge Mann, der voller inwendiger Furcht und Wut aufbegehrte, sich der Familie abwandte, sie dem Untergang Preis gab, und allem widersetzte, was seine Welt für ihn hatte vorgesehen, der sich selbst suchte und dabei nurmehr in einen tiefen Sumpf fiel, welcher noch weniger ihm entsprach, der schlussendlich nicht nur seinen Halt verlor, sondern gleichsam sich selbst. Und in ihm weinte Manius Gracchus, der so von Furcht vor Verlust durchdrungen war, dass er beständig in allen Ecken ihn lauern sah, der von fortwährendem Selbstzweifel geplagt längst jedes Maß an sich hatte verloren, der getrieben von seiner Schuld sich immer tiefer in jener hatte verrant, der beständig gegen sich selbst kämpfte im Glauben, äußeres Übel abzuwenden, der verzweifelt suchte seine Familie um sich zu halten, welche er einst so unbedarft hatte von sich gestoßen. Bereitwillig ließen all jene in ihm Epicharis' Versuch des Trostes über sich ergehen, die so unvertraute und gleichsam beruhigende Berührung, sogen sie in sich auf wie ein ausgedörrter Schwamm die nährenden Tropfen des Regens. Doch letztlich schüttelte er den gesenkten Kopf unter ihrer Hand, noch immer von forwährendem Schluchzen geleitet, der Leib bebend.
    "Ni'hts hält sie auf ... niemand ... niemals ..."
    Nur die Zukunft konnte wissen, ob nicht gar Epicharis die nächste war, welche die inferiores in ihrem gierigen Wahn würden fordern, und Gracchus wünschte sich, sie wäre weit weg, weit fort von ihm, um dem unheilbringenden Sog seines Daseins zu entrinnen.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Epicharis hatte jegliches Zeitgefühl vergessen. Draußen senkte sich die dieser Tage ohnehin unsichtbare Sonne weiter und weiter dem Horizont entgegen, küsste ihn schließlich und vereinte sich mit ihm. Im Zimmer wurde es entsprechend dunkler. Düstere Schatten legten sich über alles, einer wärmenden Decke gleich, krochen das Bett hinauf und hüllten schließlich auch Epicharis ein und Gracchus, den sie immer noch fest und geborgen hielt. Ihre eigenen Tränen waren irgendwann versiegt, Gracchus' Leib erzitterte dann und wann jedoch noch, sodass sie weder sprach noch ihre Position änderte, auch wenn ihr linker Fuß kribbelte, weil er eingeschlafen war. Nachdenklich und gedankenlos zugleich, starrte sie Löcher in die Luft, vorbei an Gracchus' wirrem Haar.


    Irgendwann dann brach er das Schweigen wieder, und mit dem, was er sagte, stellte er Epicharis erneut vor die Schwierigkeit, eine passende Antwort zu finden. Eine, die ihm einerseits versicherte, dass sie ihn ernst nahm, andererseits deutlich machte, dass sie ganz und gar nicht seiner Meinung war - und das am besten noch, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. Wieder einmal musste ihre Unterlippe dran glauben, denn sie sog sie zwischen die Zähne und dachte nach. In beständig gleichförmiger Bewegung zogen die Finger ihre Bahnen durch das flavische Männerhaar und suchten Gracchus die Angst vor den habgierigen Geistern zu nehmen. So verzweifelt, wie er diese Worte geflüstert hatte, so ratlos was Epicharis, was sie tun konnte, um ihm zu helfen. Einem Kind hätte sie angeboten, bei ihr zu schlafen, aber bei Gracchus war das eine Sache, die sie einfach nicht tun durfte. Nicht nur, dass es hässliche Gerüchte geschürt hatte, sie würde ihn mit einem solchen Vorschlag nur glauben machen, dass sie ihn nicht ernst nahm. "Doch", widersprach sie ihm schließlich mit einer Entschlossenheit, die sie selbst im ersten Moment verwirrte. "Sie sollten dir nicht die Schuld für ihr Schicksal geben, du kannst nichts dafür." Es stand für Epicharis vollkommen außer Frage, dass es Geister gab. Sie selbst glaubte daran, wie wohl jeder Römer. Doch Gracchus musste sich einfach irren, oder aber die Geister der Verstorbenen irrten sich. Eine andere Erklärung gab es nicht dafür. Epicharis hatte aufgehört, Gracchus durchs Haar zu fahren. Sie hatte sich ein wenig zurückgelehnt und sah ihn nun von schräg oben an. Sein Gesicht war eine einzige Grimasse, verweint, traurig, ängstlich und verwzweifelt, befand sie. Es tat ihr in der Seele weh, ihn so zu sehen.


    "Ich werde dir helfen. Das muss aufhören. Und du darfst dir auch nicht die Schuld daran geben, Manius. Dann werden sie einsehen, dass sie fehlgeleitet wurden", erklärte sie ihm entschlossen und berührte seine Wange, die ein ganz klein wenig kratzig war, mit den Fingerspitzen der rechten Hand. Was sonst konnte sie ihm anbieten, um zu helfen? Sie wusste es nicht. Deswegend sah sie ihn aufmerksam an, eine Mischung aus Zuneigung und Frage im Blick.

  • I-XV


    Langsam, beinah widerwillig, hob Gracchus schlussendlich den Kopf, zog seinen Oberkörper zurück, bis dass er wieder neben Epicharis saß, noch immer nicht in sein Bewusstsein dringen lassend, was geschehen war, nur ein wenig verschämt ob der Tränen, deren Spuren er vergeblich mit dem Handrücken hinfort zu wischen suchte. Mit einem tiefen Luftzug, welchen er lange in seinen Lungen hielt, ehedem er ihn zurück in die Freiheit entließ, verdrängte er das stoßhafte, erstickte Atmen zwischen dem Schniefen, suchte seinen Kopf zu klären, welcher voller Leere und doch angefüllt mit wattigem Nebel im dämmernden Licht des Abends lag. Einige Herzschläge lang mochte Epicharis' Überzeugung ihn glauben machen, dass allfällig es doch einen Ausweg gab, doch rührte jene Überzeugung schlussendlich nur aus Unwissenheit her. Die Kälte der einbrechenden Nacht ließ Gracchus weiter frösteln, ob dessen er seine Arme vor sich verschränkte, sich selbst zu umfassen suchte. Erst starrte er nur in die konturlosen Schatten des Raumes, schließlich begann er zögerlich, was ohnehin längst seinen Anfang hatte genommen.
    "I'h war stets der ... Feigling, wel'her i'h no'h heute bin, und mehr no'h als die Wut darob, ... wie ein Spielball zwischen dem we'hselnden Begehr meines Vaters und ... den Erwartungen der Familie umher zu springen, für'htete i'h den Dienst im Militär. Er hatte bereits ein Amt für mi'h in Aussi'ht, ... in einer Legion irgendwo in den Provinzen, wollte ob dessen, ... dass i'h na'h Rom zurück kehre. I'h ... i'h schrieb ihm, dass i'h ni'ht würde kommen, ... dass seine Wünsche mir einerlei waren, glei'hsam wie der Rest der Familie. ... I'h ... i'h hatte immer nur getan, was sie von mir erwarteten."
    Wieder schniefte er und drängte mühsam neuerliche Tränen in sich zurück.
    "Caius war ni'ht in Athen dieser Tage, so dass i'h am Abend meine Wut und ... meine Fur'ht in Wein ertränkte und letztli'h ..."
    Ohne sich seinem Willen zu unterwerfen, rollten erneut einige feuchte Perlen seine Wangen hinab.
    "... letztli'h die inferiores beschwor, dass sie meinen Vater konnten holen, ... meine Mutter und ... den Rest der Familie dazu ..."
    Er rieb sich die Tränen hinfort, ehe das salzige Nass bis zu seinen Lippen konnte herab rinnen, die Bitternis zu schmecken war. Es drängte ihn danach zu schweigen, in sich zu verwahren, was nicht für die Welt war bestimmt, doch all dies würde nichts eklären, würde keinen Sinn ergeben ohne jenes Ende, welches so weit zurück lag, so fern und doch noch immer zu deutlich.
    "Am nä'hsten Morgen hatte i'h es vergessen, hing nurmehr das Elend des übermäßigen Weines und die Glut der Enttäuschung mir an, ... do'h zwei oder drei Wo'hen herna'h traf Na'hri'ht aus Rom ein ... und mein Vater war tod. Spätestens nun hätte i'h na'h Rom zurück kehren müssen, ... meiner Pfli'ht mi'h stellen, ... do'h i'h floh nur weiter, kehrte Athen den Rücken. Ni'ht viel später wählte meine Mutter das ihrige Ende, während i'h ..."
    Verlegen schüttelte er den Kopf, verschwieg die blamablen Tage, welche folgten.
    "Als ich endli'h umzukehren bereit war, ... ni'ht ohne am Ende angelangt zu sein, ... war es längst zu spät."
    Er starrte vor sich in die Finsternis, starrte auf den bleichen, nackten Leib, in dessen Rücken das Messer blitzte, das dunkle, geronnene Blut auf der hellen Haut, welches dem saftigen, grünfarbenen Gras entgegen strebte, und schämte sich ob dessen, dass er kein Bedauern beim Tode seines Vaters hatte empfunden, dass seiner Mutter Tod keine Regung in ihm hatte empor gebracht denn vage Furcht, dass schlussendlich nur ein Sklave ihn hatte zur Besinnung gebracht. Nur ein Sklave. Sein Sklave. Sein Sciurus. Jener, welcher diesen Namen zuerst hatte getragen.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Zögerlich zog er sich zurück und seufzte tief. Es war ihm jetzt sicher peinlich, geweint zu haben. Aber statt sich wieder zu verschließen und sie fortzuschicken, was Epicharis insgeheim schon ein wenig befürchtet hatte, begann er zu erklären, was vor ihr vermutlich kaum jemand aus seinem Munde vernommen hatte. Ohne ihn zu unterbrechen und ohne durch eine Regung eine Wertung abzugeben, saß sie neben Gracchus, das Gesicht ihm zugewandt, und hörte ihm einfach nur zu.


    Selbst jetzt, in dieser verzweifelten Situation, büßte er nichts von seiner Eloquenz ein, wenn er auch ab und an noch Buchtsaben verschluckte oder stockte. Epicharis bewunderte diese Eigenschaft an Gracchus. Ohne seine Sprache wäre er nicht mehr er selbst gewesen, und sie hoffte wirklich, dass die Götter einen wirklich guten Grund gehabt hatten, ihn dergestalt zu quälen. Die Frage, ob er glaubte, dass er die Schuld am Tod seiner Eltern trug, stellte sie nicht. Es war nur allzu offensichtlich, dass das Übel hiermit seinen Anfang genommen hatte und mit jedem weiteren Familienmitglied schlimmer geworden war. Doch was konnte sie nun tun, um Gracchus davon zu überzeugen, dass es nicht seine Schuld gewesen war? Ein winziger Funken Zweifel war selbst in ihr selbst: Was, wenn die Geister wirklich begonnen hatten, die Lebenden zu holen, nur weil Gracchus sie dazu aufgefordert hatte? Mit einem entschiedenen Blinzeln schob sie diesen unsinnigen Gedanken fort. Natürlich war das nicht so! Sie kannte niemanden, der sich so sehr bemühte wie Gracchus, sei es als Pontifex, als Senator, Magistrat oder Familienoberhaupt. Dennoch wusste sie nicht, was sie Logisches sagen sollte, das ihn von diesem Weg ins Dunkel holte, auf den er sich selbst immer wieder zurückverfrachtete. So blieb sie erst stumm sitzen, wandte den Kopf und blicke ebenfalls in die Schatten des Zimmers, nachdenklich.


    "Es sind doch die Absichten, die zählen", sagte sie plötzlich in die Stille hinein und sah Gracchus nun seitlich an. "Es gibt niemanden, der im Zorn nicht schon einmal so etwas gesagt hat." Sogar ihr war das schon passiert. Und noch schlimmer - sie hatte an den Göttern gezweifelt, damals, als die falsche Nachricht von Aristides gekommen war. "Es kann doch nicht falsch gewesen sein, dass du deinem Vater einst die Stirn geboten hast. Schau, wo du jetzt stehst. Du hast eine liebenswürdige Frau und einen Sohn, bist einer der angesehensten Männer des Reiches. Dein Vater hat nicht erkannt, dass du es allein schaffen kannst, und deswegen warst du wütend. Das ist doch vollkommen normal." Epicharis hob, während sie sprach, beide Schultern und ließ sie dann wieder sinken, nagte an ihrer Unterlippe, ehe sie erneut sprach. "Wie..wie ist er denn gestorben?" fragte sie vorsichtig nach. Vielleicht konnte sie mit der Antwort dann ihre Aussage noch untermauern.


    An sich war das alles schon eine verzwickte Sache. Für Epicharis hörte es sich an, als sei Gracchus' Vater als sehr willkürlicher Mensch gewesen. Wie ihr eigener Vater... Epicharis seufzte leise. Und seine Mutter hatte sich umgebracht, nachdem ihr Ehemann gestorben war. Wenn Gracchus sich also die Schuld am Tod des Vaters gab und die Mutter sich genau deswegen umgebracht hatte, dann lag auf der Hand, dass er sich dafür auch verantwortlich fühlte. Und all jene, die danach folgten, glaubte er ebenfalls verurteilt zu haben mit dieser ominösen Anrufung der Inferiores. Aus der Saat war inzwischen ein mächtiger Baum erwachsen. Da brachte es nichts, die Zweige zu stutzen - es musste die ganze Wurzel heraus, oder der Baum würde bei jedem Regenguss wieder zu wachsen beginnen. Nur wie Epicharis das anstellen sollte, ohne die rechte Schaufel zu haben, war ihr noch schleierhaft.

  • Mehr und mehr drängte die Dunkelheit in den Raum hinein, umschmeichelte die Konturen des Mobiliars und der Gegenstände, welche ihre Schärfe verloren, die Härte der Realität, sich in weiche, undeutliche Schemen zersetzten. Einzig Epicharis löste sich nicht, blieb deutlicht präsent durch die Wärme ihres Körpers, ihren leisen, ruhigen Atem, und die nicht unangenehme Nähe, ein Band zwischen ihnen, so filigran und zerbrechlich, dass es allein unter der Last einer einzigen Träne, eines winzigen, tröstenden Wortes schien brechen zu müssen, doch letztlich auf eine ungeahnte Art und Weise belastbar, gegeben durch den Augenblick, den in Vergangenheit und Gegenwart verhafteten Moment. Epicharis' Stimme durchbrach die aufziehende Stille, suchte erneut gegen den längst festgefahrenen Defätismus anzukämpfen, brachte jedoch nicht Einsicht zutage, nur resignierende Apologie. Obgleich Gracchus die Existenz seiner liebenswürdigen Frau und seines Sohnes konnte in Epicharis' Argumentation akzeptieren, so überhörte er geflissentlich jenen einer der angesehensten Männer des Reiches, denn dies war keine Rolle, in welcher er selbst sich sah, nicht sich jemals würde sehen. Einer aus vielen, akzidentiell, beliebig, auswechselbar, dies war sein Schicksal. Neben ihm seufzte die Gemahlin seines Vetters, und einige Herzschläge lang schwankte Gracchus zwischen Schweigen und Sprechen, denn er wollte nicht ihr zu Lasten fallen, wollte nicht sie mit seinen Sorgen beschweren, doch ihre Frage bewog ihn schlussendlich, zu antworten, zudem gedrängt durch die eigene Last.
    "Es war ni'ht allein, dass er ni'ht daran glaubte, i'h könne es schaffen. Es war seine Willkür, wel'he den Zorn in mir emporsteigen ließ. Von Anbeginn seiner Familie hatte er die Zahl und Zukunft seiner Söhne geplant, sah die militärische Laufbahn vor für den Erstgeborenen, die kultische für den ihm Sukzedierenden und jene in der Verwaltung für den Dritten, dabei letztli'h selbstredend alle im Senat endend, jeder eine wi'htige, politische Position innehaltend. Mein Bruder Animus - er ist bereits seit langem ... tot -, wurde früh auf das Militär vorbereitet, mir selbst fiel der Kult zu und Lucullus die Verwaltung."
    Er verschwieg seinen Zwilling, welchem zweifelsohne ebenso eine Rolle war zugedacht gewesen, welche nach dessen geglaubtem Tode durch Lucullus nur war aufgefüllt worden.
    "Obglei'h als Junge i'h ein wenig Fur'ht verspürte vor den Göttern, fand i'h mi'h schlussenli'h in diesen Weg ein, fand gar Freude daran, do'h als Animus die Familie ... als er aus meines Vaters Plänen schied, schob dieser nur einfa'h unsere Positionen auf, ... als wären wir Spielfiguren auf einem Brett."
    Im Nachhinein bedauerte Gracchus manches mal, dass er nicht nur auswechselbare Figur war in einem Spiel, welches er selbst nicht musste überblicken, die Figur einer Person, welche würde wissen, was sie tat, welche ihn lenkte und sein Leben gestaltete - doch letztlich wäre auch jene Person nur zu bedauern, welche in ihrem Spiel das Pech hatte, ein solch marodes Leben ihrer Figur zu gestalten, gleichsam war er sich mit der Überzeugung des denkenden Geistes dessen bewusst, dass er tatsächlich aus sich selbst heraus existierte.
    "Er starb an jenem Tage, da er meinen Brief erhielt. Er las ihn während eines Mahles, bra'h es ab, sandte seine Gäste na'h Hause und zog si'h zurück in sein Arbeitszimmer, erzürnt und äußerst aufgewühlt, wie sein Vilicus mir später beri'htete. Jener fand ihn ni'ht lange herna'h dort, zusammengesunken über seinem Tisch, tot. Die inferiores hatten meinen Worten angehaftet, waren über den Schwung meiner eigenen Schrift, der dur'h mi'h vergossenen Tinte an ihrem Ziel angelangt."
    Unzählige Male hatte er dies Bild vor Augen gesehen, den leblosen Leib, die stierenden Augen, hatte geträumt von dem verwesenden Leichnam, welcher bei genauer Musterung emporfuhr, dessen knöcherne Finger seinen Hals umfassten und würgten, dessen skelettierter Kopf schaurig mit seinen Zähnen klapperte, die spärlichen, grauen Haarfetzen auf seinem Haupte in wildem Lachen tanzen ließ, der wieder und wieder seinen Namen rief, flüsterte, sang, schrie, murmelte, rezitierte, der ihn durch die Macht seines Namens band und zu vernichten suchte.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Figuren auf seinem Schachbrett. Das war wohl wirklich das, was der Vater in seinen Söhnen gesehen hatte. Zwar war dies weit verbreitet, doch Epicharis hielt nichts davon, wenn Väter ohne Rücksicht auf Wünsche und Begabungen bestimmten, wer was zu tun und zu lassen hatte. Es war ihr daher nur allzu verständlich, dass Gracchus sich geweigert hatte, einer der aufrückenden Bauern zu sein. Epicharis horchte geduldig all den Worten, die aus Gracchus hinausflossen. Jeder dieser Informationen war neu für sie, integrierte sie allerdings auch ein Stückchen mehr in die flavische Familie, deren Mitgleidern diese Geschichte vermutlich gut bekannt war. Doch sie bezweifelte, dass ebenso viele von Gracchus' daraus resultierender innerer Pein wussten, denn sie wusste, dass er zu denen gehörte, die ihr Innerstes nicht bereitwillig auf einem Silbertablett servierten. Umso mehr schätzte sie, dass er sie einweihte, ihr Vertrauen mit seiner Geschichte schenkte, als sei sie mehr als nur angeheiratet.


    Als er vom besiegelten Unheil gesprochen hatte, wurde es still im Raum. Epicharis schwieg und dachte nach. Konnte es sein, dass man Wut und Verderben schriftlich übermitteln konnte? Dass die Geister aus der Unterwelt einem Brief folgten und den Empfänger heimsuchten? Epicharis glaubte an Geister, aber dass sie einem in jugendlichem, weingeschwängertem Leichtsinn gesprochenen Fluch folgten, war doch sehr fragwürdig. Und was hatte Gracchus gesagt? Sein Vater habe sich sehr aufgeregt und sei dann gestorben. Da war ein fehlendes Puzzlestück. Sie versuchte, sich die Situation vorzustellen. Ein Mann, der am Schreibtisch saß, schäumend vor Wut. Der Zeter und Mordio brüllte, der Dinge durch die Gegend warf und einen hochroten Kopf hatte.... Und dann sah sie ihren Verwandten Myrtilus vor dem geistigen Auge, und alles ergab plötzlich einen Sinn. Epicharis war nun aufgeregt. Ihr Herz machte einen angestrengten Hüpfer und ihre Wangen begannen zu glühen. Einiges an Zeit war verstrichen seit Gracchus' letztem Wort, aber nun schüttelte Epicharis plötzlich hastig den Kopf. "Nein, Manius, das waren nicht die Geister der Unterwelt! Mein Urgroßonkel Myrtilus, dem ist genau das gleiche passiert! Er lebt noch, aber er ist nicht mehr wie vorher. Er hat keine Luft mehr bekommen, ich weiß noch, Callista war ganz aufgeregt deswegen. Ich glaube, da war irgendetwas mit seinem Sohn...so genau weiß ich das nicht mehr. Er hat sich immer so aufgeregt über Cethegus, ist scharlachrot angelaufen und hat nur noch schwer Luft bekommen dann. Nach einem besonders schlimmen Anfall ging es ihm lange Zeit sehr schlecht, und er hat wohl nur überlebt, weil sein Sklave schnell genug gehandelt hat. Hinterher sagte er, dass er einen schrecklich grausigen Schmerz in der Brust gespürt hatte. Und er konnte sehr lange seine linke Seite nicht bewegen, nicht laufen oder etwas halten. Der Arzt sagte, dass er großes Glück gehabt hat. Und dass sein Herz schon alt wäre und nicht mehr so viel Kraft hat. Meinst du nicht, dass... Es war ganz sicher so, Manius. Du trägst keine Schuld daran. Ganz bestimmt nicht." Sie schwieg kurz, fügte dann jedoch noch etwas an, dessen sie sich eigentlich selbst nicht so ganz sicher war, von dem sie aber hoffte, dass es Graccchus überzeugte - wenn es nur mit genügend Überzeugung vorgetragen wurde. Also sammelte sie all jene in sich zusammen. "Die Inferiores kommen doch nur, wenn man es auch wirklich so meint. Und das hast du doch nicht. Sonst hätten sie ihn gleich heimgesucht und nicht erst gewartet, bis dein Vater deinen Brief bekommt." So souverän wie möglich waren die Worte vorgetragen worden. Epicharis hielt die Luft an und hoffte, dass Gracchus einsehen würde, dass er sich lange Zeit selbst verrückt gemacht hatte.

  • I-XVIII


    Tief in seinem Innersten wusste Gracchus, dass der Worte Epicharis' eine untrügliche Wahrheit anhafteten, denn ausgesprochen in jugendlichem Leichtsinn, ausgesprochen in Trunkenheit oder so schnell und heftig aufloderndem, wie erkaltendem Zorne, ausgesprochen in unüberlegtem Wahn aus kurzlebiger Emotion - in diesem Sinne in die Welt entlassene Flüche würden die gesamte Welt überziehen, würden binnen kürzester Zeit jegliches Leben dahinraffen, würden das Imperium wie jedes andere Reich in Wirren und Chaos stürzen, denn wie schnell war solch ein Fluch gesprochen, wie schnell hatte der Sklave den Herrn, der Herr den Sklaven, der Nachbar den anderen, der Konkurrent in jeglicher Sache den nächsten, der Liebende den Verflossenen oder das Ziel seiner Eifersucht, der Feind den Angreifer oder Angegriffenen - wie schnell hatte letztlich der Sohn den Vater mit Worten verflucht. Gracchus wusste um das Wesen der Flüche, nicht etwa ob seiner Profession wegen, sondern auch und insbesondere seiner eigenen Neigung superstitiösem Glauben wegen, wusste um die das Wort begleitende Handlung, welche erst das Wort zu binden vermochte, welche dem ausgesprochenen Laut erst seine Konsistenz gab und es in die transzendente Welt der inferiores überführte - und doch hatte er niemals daran Zweifel gehegt, dass ob der Intensität seiner Emotion wegen seine eigenen Worte waren dessen genügend gewesen, den fortan ihn umringenden Fluche materialisiert zu haben, gleichsam war er sich ob der nachfolgend immer wieder sich zeigenden Heftigkeit jenes Fluches niemals gänzlich sicher, ob nicht doch er im Delirium des Weines hatte die notwendige Tat vollbracht. Es war der Tod seines Vaters gewesen, jene so jählings sich ereignende und gänzlich unerwartete Begebenheit ohne ersichtlichen, plausiblen Grund, welche stets die Zweifellosigkeit hatte zu untermauern gewusst, welche stets untrüglicher Beweis seiner Schuld war gewesen, den unermüdlichen Zug der ihm anhafteten Larven hatte angeführt, Quell war jenes Stromes aus flavischem Blute, welches ob seiner selbstsüchtigen Tat war vergossen worden. Ihren Worten lauschend weilte Gracchus neben Epicharis, doch gleichsam stand er in eben diesem zäh dahin fließenden Flusse, im sämigen Sog des rotfarbenen Blutes, welches seine Füße träge umspülte, tausender Hände gleich nach seinem Leibe griff, tausender Zungen gleich nach seinem Leben leckte. Es waren ihre Worte, welche die zarten, reagiblen Fäden der Traumgespinste seines Innersten ließen erzittern - ihre Worte benetzt, umfasst, umströmt vom Blute, nicht dem ihren, sondern dem seinen, und doch nicht dem seines Leibes, nur jenem derer, die im Blute einst verbunden gewesen waren mit ihm.
    "Einer Flamme im Winde glei'h"
    , sprach er leise, kaum zu sich selbst, kaum zu der ihm so fremden und zugleich vertrauten Epicharis neben sich, sprach in die Dunkelheit, welche seine Worte in sich verschluckte, gab Antwort an jene, welche längst waren vergangen, deren Frage nurmehr als Nachhall gegenwärtig war in seinem Bewusstsein, im Bewusstsein flavischen Erbes.
    "Im einen Augenblicke leu'htend, im nä'hsten erloschen."
    Langsam wandte Gracchus sein Gesicht Epicharis zu, blickte sie an mit noch immer von den vergossenen Tränen klandestin schimmernden Augen, als würde erst jetzt er erstaunt sich gänzlich dessen gewahr, dass noch immer sie dort neben ihm saß.
    "Während meines Aedilates ... i'h arbeitete in der Basilica Iulia, prüfte Betriebslizenzen und ... i'h erinnere mi'h deutli'h an den einen Augenblick, an Gedanken und Überlegungen, ... do'h ni'ht mehr an den nä'hsten. Einer Flamme glei'h war mein Geist erloschen, nurmehr Glut verblieb über die folgenden Wo'hen, gerade genügend, meinen Leib ni'ht erkalten zu lassen, do'h ni'ht genügend, ihn anzutreiben."
    Er suchte Halt in Epicharis' Blick, da unter ihm die Mauern wankten, auf welchen das Fundament seiner tief sitzenden Furcht war errichtet, da sich der Knoten zu lösen begann, welcher so viele der Stränge in seinem komplexen Geflecht zusammen hielt, suchte Halt wie ein Ertrinkender an dem einzig erreichbaren Zweig im oceanos, suchte die Wahrheit aus ihrem Blicke zu saugen wie ein Verdurstender die Flüssigkeit aus einer Frucht.
    "Glaubst du ... glaubst du wirkli'h, ... Ep'charis, dass er ... wie i'h ... nur ... dass nur ... dass ... ni'ht i'h ...?"
    Obgleich die Frage in ihren Worten einen Sinn schuldig blieb, so war Gracchus aus unerfindlichen Gründen dessen überzeugt, dass Epicharis würde sie verstehen, und die aufkeimende Hoffnung, sie würde diesen Teil seiner Schuld von ihm nehmen können, ließ seinen Körper erneut in leichtes Zittern verfallen. Seinetwegen war sie gekommen, weil er aus unbegreiflichem Grunde nicht ihr gleichgültig war, gleichsam wohnte ihr nicht jene familiäre Generalamnestie inne, welche seine Vettern stets in allen Belangen ihm entgegen brachten, so dass die etwaige moralische Begnadigung, die Abschwächung eben dieser ersten Schuld aus ihrem Munde würde weit schwerer wiegen als alles sonst, würde in aufkeimendem Maße selbst ihn überzeugen können.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Schweigen zog sich dahin wie zäher Honig, tropfte träge ins Meer der Zeit. Epicharis wusste nicht, was in Gracchus vorgehen mochte, doch sie ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Starrend und starr saß er neben ihr, die Laken längst zerwühlt, so dass böse Zungen sonst etwas behaupten mochten, wenn Epicharis später Gracchus' Zimmer verlassen würde. Ihr war es in diesem Moment gleich, sie wollte nur für Gracchus da sein und vielleicht konnte sie ihm helfen, ein wenig mehr zu lächeln in seinem Leben. So, wie er glücklich schien, wenn er seinem Sohn zusehen konnte.


    Die Worte, welche die träge Stille schließlich durchdrangen, ergaben für Epicharis zunächst keinen Sinn. Es klang auch eher, als redete Gracchus mit sich selbst und nicht mit ihr. Unweigerlich stellte sie sich eine brennende Öllampe vor, die ein Windstoß heimsuchte. Sie flackerte, dann stieg ein dünner Rauchfaden in die Dunkelheit auf. Er musste das Lebenslicht seines Vaters meinen, alles andere ergab keinen Sinn. Epicharis wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und so betrachtete sie nur aufmerksam das Profil Gracchus', der seine Gesicht nun langsam wieder ihr zuwandte und sie aufmerksam ansah.


    Was er ihr offenbarte... Epicharis war sich beinahe sicher, dass er sich zum ersten Mal jemandem anvertraute, vielleicht sogar zum ersten Mal so offen darüber sprach, was ihm passiert war. Sie erinnerte sich an sein ungläubiges Gesicht, das trotz all die Anstrengungen, es zu verbergen, deutlich gewesen war, als sie ihn besucht hatte. Und wie er sie nun ansah... Es war nicht das gleiche Gesicht, definitiv nicht. Es wirkte mehr wie das eines kleinen Jungens, der vergeblich hoffte, jemand würde ihm bestätigen, dass seine Eltern nicht wegen einer begangenen Dummheit gestorben waren. Zweifel überlamen Epicharis. Wie konnte sie ihm guten Gewissens sagen, dass es nicht seine Schuld war? Immerhin bestand doch eine Möglichkeit, dass er irgendwie... Nein. Sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen, oder aber Gracchus würde zerbrechen. Wie er sie ansah... In Epicharis wütete ein Für und Wider. Natürlich wusste sie, dass Gracchus nicht Schuld war am Tod seines Vaters. Aber wer konnte schon wirklich sicher behaupten, dass die Götter nicht irgendeinen grund gefunden hatten in seinem Handeln, das Schicksal seines Vater zu besiegeln? Aber er war krank gewesen...wie Gracchus! Nur dass Gracchus stärker gewesen war. Die Götter hatten ihn geprüft. Und er hatte die Prüfung bestanden. Epicharis wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Zu viel wirbelte in ihrem Kopf umher.


    Noch immer hing Gracchus an ihren Lippen, wie ein Ertrinkender sich an ein Stück Treibgut klammerte. Er erwartete eine Antwort auf die Frage. Epicharis hatte sie sehr wohl verstanden. Aufrichtig sah sie Gracchus an, ergriff dann seine Hand und drückte sie. "Ja", sagte sie fest. "Früher oder später werden wir alle geprüft, Manius. Du lebst. Du teilst nicht das Schicksal deines Vaters. Du wirst deinen Sohn aufwachsen sehen und hast die Möglichkeit, es besser zu machen als dein Vater. Vielleicht ist das dein zweiter Versuch, deinem Sohn ein besserer Vater zu sein als deiner es für dich war." Was redete sie da nur? Natürlich hätte Gracchus niemals so über seinen Sohn geherrscht wie sein Vater! Oder doch? "Vielleicht hängt es damit zusammen. Das wissen wir nicht. Wir können nicht ergründen, was die Götter sich von uns erhoffen, wir können es nur vermuten. Aber wenn es etwas gibt, dessen ich mir sicher bin, dann ist es das: Dich trifft keine Schuld am Tod deines Vaters. Und auch nicht am Schicksal anderer." Jetzt, wo sie so darüber nachdachte, erschien es ihr schlüssig, dass die Götter Gracchus' Vater bestrafen hatten dafür, wie er mit seinen Söhnen umgesprungen war. Und dass sie Gracchus daran erinnern wollten, dass er es nicht ihm gleich tat, wollte er nicht die gleichen Konsequenzen tragen.

  • Stumm blickte er Epicharis an, während ihre Worte mühsam den Zenit seines Bewusstseins erklommen, tiefe Gräben überwanden und schroffen Fels, Hürden und Hindernisse umrundeten, welche sein eigener Geist ihnen in den Weg stellte, der nicht wollte sich lösen von der längst verinnerlichten Wahrheit, der sich fürchtete vor Veränderung, weiterhin an sich zweifelnd, der sich fürchtete vor dem, was die Erkenntnis mochte mit sich bringen. Doch die Kontur ihrer Worte war scharf und spitz, dass ihren Weg unermüdlich sie sich bohrten, war biegsam und variabel, dass um jedes Hindernis herum sie sich wanden, war leicht und geschmeidig, dass jede Kluft sie überwanden und am Gipfel schlussendlich jenen winzigen Kiesel konnten anstoßen, welcher die Lawine mit sich hinab riss. Gracchus lehnte sich zurück, unfähig dem Einhalt zu gebieten, im letzten, verzweifelten Versuch mit seinen Händen den Fels zu halten, doch das Gestein brach über ihn hinweg, begrub ihn unter bloßer Masse, erdrückte ihn. War das Interieur seines Gedankengebäudes zerstört worden an jenem Tage in der Basilica Iulia, als wäre ein Orkan oder eine Flutwelle durch die Zimmer und Flure hindurch gerauscht, so brach nun das Fundament, verloren die Grundsteine jeden Halt, zerbarsten die Mauern, fielen weite Teile des Gebäudes in sich zusammen. Langsam öffnete Gracchus seinen Mund, doch kein Wort mochte dem entkommen, keinen einzigen Laut war er fähig aus sich zu entlassen, blickte nur ratlos auf die Ruine seines selbst zurück, welche binnen weniger Herzschläge war alles, was noch übrig war. Zerstört lag die Porta, zerbrochen der Torbogen, und von Manius Flavius Gracchus war nurmehr Manius geblieben, reduziert auf jenen Anteil, welchen er in sich selbst fand, ausgeschlossen aus seiner eigenen Person. Mit einem Male wurde er sich dessen bewusst, dass er schon lange in diesen Trümmern hatte gehaust, dass zu lange er sich selbst hatte eine Illusion geschaffen, in der zu wandeln er hatte genossen, doch dass zu lange er nicht aus mehr hatte bestanden denn unförmigen Brocken und unbehauenem Stein.
    "Ja"
    , flüsterte er in die graufarbene Trübnis um sie herum.
    "Allfällig ist es tatsä'hli'h so."
    Er bückte sich vor seinem Gedankengebäude und nahm einen hellen, marmornen Stein empor, ein Stück des einstigen Torbogens, in welchen das G war eingraviert, strich mit dem Daumen über die Vertiefung, folgte der geschwungenen Linie. Allfällig war es Zeit, sich neu zu errichten, sich neu zu erschaffen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und dieses G zu einem neuen Gracchus zu führen, einem solchen, wie er selbst einst hatte an sich geglaubt, Träume eines jungen Mannes, welcher seinen eigenen Weg hatte suchen wollen im Bewusstsein seiner Herkunft, weder diese, noch sich selbst verleugnend.
    "Danke, Ep'charis"
    , kehrte er in die Realität zurück, das dunkle Zimmer, sein Cubiculum, in welchem er mit der Gemahlin seines Vetters saß, auf seinem Bett zwischen zerwühlten Laken, und wurde erst nun der augenscheinlich prekären Situation sich bewusst. Er hob eine Hand empor und begann, seine Lippen zu kneten, nicht jedoch in konzentriertem Nachdenken, wie er dies üblicherweise tat, sondern um dahinter sein Schmunzeln zu verbergen, welches ihn überkam und dessen er sich nicht konnte erwehren.
    "Verzeih'"
    , suchte er sich zu exkulpieren, doch das Schmunzeln zog sich mehr und mehr über sein Gesicht, weitete beinah zu einem spitzbübischen Grinsen sich aus. Es war die Banalität dieser Angelegenheit, welche publiziert eine Causa höchst blamabler Diffizilität konnte werden, die ihn dazu verleitete, die gravierenden Umwälzungen in seinem Innersten für einige Augenblicke zu vergessen.
    "Es ist nur ... du ... du bist die erste Claudia, die es in mein Bett hat geschafft."
    Selten nur verirrte Antonia sich in sein Cubiculum und wenn, so nahm sie höchstens auf dem Rande seines Bettes Platz, denn so sie das Lager miteinander teilten, geschah dies stets in Antonias Gemächern, aus seiner Intention heraus.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!