Germanen unter sich

  • Siv knirschte mit den Zähnen. Sicher, sie ging nur deswegen Unterricht, um zu lernen wie man auf Latein fluchte. Es wäre schön gewesen, wenn sie solche Dinge lernte – obwohl es für Siv vermutlich weit besser war, wenn die Römer sie nicht verstehen konnten, wenn sie erst mal in Rage war. "Und du müsstest wohl mal wieder Unterricht in deiner Muttersprache bekommen, wie’s aussieht!" Auch Siv war normalerweise nicht so. Das hieß, sie stritt sich schon häufig, ihr Temperament zündete nach wie vor schnell, aber normalerweise schoss sie nicht mit solchen Spitzen zurück. Das tat sie nur, wenn es jemand tatsächlich schaffte, ihr einen Stich zu versetzen, und die Sache mit dem Betthäschen stach einfach.


    Ihr folgender Ausbruch brachte allerdings wenig, außer Nordwin scheinbar wieder etwas Oberwasser zu verschaffen. Wie er sie nun ansah, ließ Siv einen Schritt zurücktreten, und es hätte seiner Worte nicht mehr bedurft, um ihr klarzumachen, dass sie einen Fehler begangen hatte, indem sie Corvinus so heftig verteidigt hatte. Nur, was sollte sie jetzt sagen? Seinen Kommentar konnte sie nicht einfach sich sitzen lassen. Ihr Mund öffnete sich, und für einen Augenblick musste sie wohl aussehen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann klappte sie ihn zu. Nur um ihn im nächsten Augenblick wieder zu öffnen. Eine Stimme in ihr wisperte, dass sie – wenn sie auch nur ansatzweise noch Hoffnung haben wollte, dass er ihr glaubte – besser ruhig sein sollte, dass sie nicht weiter wettern durfte und schon gar nicht Corvinus verteidigen. Aber so wirklich Gehör verschaffen konnte sich diese Stimme nicht. "Keiner hat mir den Kopf verdreht! Und er ist nicht so, du hast überhaupt keine Ahnung, du-" Und dann verschlug es ihr die Sprache, beide Sprachen, um genau zu sein. Häschen? HÄSCHEN?!? Siv vergaß sich, vergaß die Hündin, und vergaß, mal wieder, dass sie Sklavin war und in Rom, nicht zu Hause. Sie schnellte nach vorne und verpasste Nordwin eine Ohrfeige. "Das sagst du nicht noch mal zu mir!"

  • "Oh, ich kann sehr wohl noch Germanisch, beleh metjaz, mach dir da mal keine Sorgen!" konterte ich ohne mit der Wimper zu zucken. Siv wich zurück und sah kurz aus wie ein Karpfen, dann schnappte sie sichtlich nach Luft. "Da bleibt dir die Spucke weg, was?" höhnte ich mit schräg gelegtem Kopf und nun meinerseits die Hände in die Hüften gestemmt. Klar, jetzt kam der Sermon, der Widerspruch. Ich nickte ungeduldig in kleinen Etappen und schloss entnervt die Augen. Wen wollte sie hier eigentlich verarschen?


    Plötzlich war da Stille. Dann machte es *patsch* und ihre Hand klebte an meinen Bartstoppeln. Erschrocken starrte ich sie an, die Hündin knurrte. Einige Augenblicke vergingen, ohne dass ich reagierte. Dann schnellte ich nicht weniger schnell hervor, ergriff Siv ziemlich rüde am Handgelenk und zog sie zur zweiten Tür dieses Raumes, die ich aufsprengte und die in den Hinterhof führte. Mit einem Nachhall fiel die Tür ins Schloss und wir standen draußen - der Hündin wegen. Hier ließ ich Siv harsch los und verzog kurz das Gesicht. "Hast du sie noch alle?" fuhr ich sie an und kam so nahe, dass sie die Wand neben der Tür in ihrem Rücken schon spüren musste. "Bist du schwanger oder was? Hah, Weiber!" fluchte ich - und dann verpasste ich ihr einen Kuss, der sich gewaschen hatte. So schnell konnte sie gar nicht reagieren. Dafür regte ich mich damit ziemlich schnell wieder ab. Und ließ sie dann los. "So." Als sei nichts gewesen. "Und jetzt sag mir noch mal, dass du nicht jede Nacht ein Betthäschen spielst!"

  • Siv starrte ihn ungläubig an, Momente lang, als er weiter machte, irgendwelche Kosenamen von sich gab, die in ihren Ohren schlimmer waren als jede Beschimpfung. Nachdem sie ihm allerdings die Ohrfeige verpasst hatte, war erst mal Ruhe. Für Augenblicke starrten sie sich einfach nur an, dann schnappte sich Nordwin ihr Handgelenk und zerrte sie einfach mit sich. Durch den Raum ging es, zu einer zweiten Tür, die Siv bisher noch gar nicht aufgefallen war, und hinaus, auf einen Hinterhof. Das Ganze spielte sich so schnell ab, dass die Germanin gar nicht dazu kam, sich zu wehren, und auch als er sie nun losließ, reagierte sie den Bruchteil eines Moments zu spät. Bevor sie erneut auf ihn losgehen konnte, kam er auf sie zu und drängte sie zurück, bis sie gegen die Wand stieß. Das war der Moment, in dem Siv wieder zu sich fand und zum Gegenangriff übergehen wollte, aber als hätte er es geahnt, sprach er weiter, und die Vermutung sie sei schwanger, wischte jedes Wort, das ihr auf der Zunge lag, hinfort. Entgeistert starrte sie ihn an und suchte in seinem Blick, seinem Gesicht nach einem Anzeichen, ob er tatsächlich etwas gemerkt hatte, ob er etwas ahnte, wusste, oder ob es einfach nur ein dummer Spruch gewesen war.


    "Ich", setzte sie an, zu einer diesmal wohl eher lahmen Verteidigung, aber bevor sie sich darüber aufregen konnte, was eine Schwangerschaft überhaupt für eine Rolle spielte, weil sie völlig normal war, da hatte Nordwin schon den letzten Abstand zwischen ihnen überwunden und küsste sie. Nicht einfach nur so, sondern auf eine Art, die ihr den Atem raubte. Für Augenblicke stand sie danach da und starrte ihn nur aus aufgerissenen Augen an, während ihre Gedanken rasten und übereinander stolperten. Dann zündete ihr Trotz, ihre Wut, angefeuert durch Empörung ob seiner Frechheit, und sie holte aus und ohrfeigte ihn erneut, diesmal noch heftiger. Niemand, niemand küsste sie ohne ihr Einverständnis, ohne dafür dann die Quittung präsentiert zu bekommen. Niemand. "Gern! Ich sage es noch mal! Ich bin kein Betthäschen. Nicht bei Nacht, nicht bei Tag. I c h entscheide, wer mich anfasst!"

  • "Alles klar. Dann hatte ich doch Recht", sagte ich trocken und trat einen Schritt zurück. Das war dann ja klar. Sie war das Betthäschen von diesem Senator, aber sie tat es freiwillig, wie eine käufliche Hure aus der Subura. Und gerade bei diesem Fatzke. Der wollte doch eine Flavia heriaten, so viel hatte ich mitbekommen. Epicharis sprach zwar nur gut von ihm, aber er war ja auch ihr Boss - und ausßerdem ich hatte ihn längst durchschaut. Ein Jammer, dass sie auf ihn reingefallen war, sie hätte ne Menge anderer Männer stolz machen können.


    Ich musterte sie abwägend und verschränkte dann wieder die Arme vor der Brust. "So ein ordentlicher Kuss hat dir mal ganz gut getan", bemerkte ich nüchtern und drehte mich dann nach links, um zu Besen und Eimer zu gehen, die dort ein wenig entfernt in einer Ecke standen. Seelenruhig griff ich mir den Besen und begann zu kehren. Gut, ich war ein wenig aufgekratzt und meine Backe brannte ziemlich. Aber sie sollte nicht merken, dass mich ihr Auftritt hier mächtig verwirrt hatte, vor allem, was die alten Erinnerungen an daheim betraf. Für eine Weile war das Kratzen der Borsten über Stein das einzige, was zu hören war. Dann hielt ich inne, stütze mich auf und sah Siv an. "Also, was jetzt? Sag's ruhig, ich bin ein mieser Scheißkerl und ich sollte mich schämen. Am besten gehst du jetzt heim."

  • "Du hattest… was? Nein!" Noch empörter als zuvor starrte Siv Nordwin an. Was musste sie denn noch tun oder sagen, damit er endlich begriff, was Sache war? Dass sie eben kein Betthäschen war? Hätte Siv gewusst, was Nordwin noch gerade im Kopf herumging, dass er sie in Gedanken als Hure bezeichnete, sie hätte endgültig rot gesehen und wäre auf ihn losgegangen. Aber sie wusste es nicht, und der Germane sagte nichts davon. "Du hast nicht Recht!" Anschließend unterdrückte Siv nur mit Mühe einen Wutschrei, als er so beiläufig von dem Kuss sprach. Es hatte ihr ganz sicher nicht gut getan, und er hatte ihn sich auch nur geraubt. Aber was sollte sie noch sagen? Er hielt sie für die Gespielin ihres Herrn, nichts weiter. Ganz augenscheinlich hielt er deswegen nicht sonderlich viel von ihr. Und es gab nichts, was sie ihm sagen konnte, nicht dass Corvinus weit besser küssen konnte, nicht was sie ihn empfand, und schon gar nicht dass diese Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten, auch wenn Corvinus nie wirklich laut darüber sprach, sondern es ihr nur zeigte. Sie konnte das nicht sagen. Wenn sie Glück hatte, würde Nordwin sie einfach nur auslachen und in die Kategorie naives Betthäschen einordnen. Wenn sie Pech hatte, glaubte er ihr – und erzählte es herum. Und wenn die Götter sie wirklich strafen wollten, gelangten die Gerüchte, die durch ihn dann entstanden, an die Ohren der Flavia. Das Risiko konnte Siv einfach nicht eingehen, da war es weit besser, sie ließ Nordwin denken, was er wollte.


    Wenn er sie nur nicht so überheblich ansehen würde, so als sei er etwas besseres! Selbst wenn sie ein Betthäschen war, was fiel ihm ein, darüber zu urteilen, sie deshalb zu verachten? Es gab genügend Sklavinnen, die das taten, und bei weitem nicht alle hatten die Wahl. Zähneknirschend und mit leicht geballten Fäusten beobachtete Siv, wie Nordwin mit ruhigen Bewegungen den Hof zu kehren begann, ganz so, als sei überhaupt nichts passiert. Sie lehnte weiter an der Wand, presste ihre Hände dagegen und ihre Zähne aufeinander und wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte – und so war es schließlich Nordwin, der zuerst das Wort ergriff. "Warum tust du das?" fragte sie, seine Worte ignorierend. Ihre Stimme klang verständnislos, zu einem Teil aber auch immer noch herausfordernd, provozierend. "Warum? Was hast du? Warum bist du so verächtlich? Selbst wenn ich das Bett mit ihm teile, was weißt du schon davon? Es gibt genügend Betthäschen, wie du so schön sagst, die das nicht freiwillig tun, ich weiß, wovon ich rede, glaubst du vielleicht das ist schön? Glaubst du es macht ihnen Spaß? Und was ist mit denen, die ihren Spaß haben, können die nicht froh sein deswegen, wenn sie schon nicht wirklich die Wahl haben? Was gibt dir das Recht, so abfällig zu sein über sie, über mich?"

  • Bitte, dann halt nicht. Ich kehrte weiter. Entweder, ich hatte mich wirklich geirrt, oder Siv war es zu peinlich, es zuzugeben. Wobei, das wär mir wohl auch zu peinlich gewesen. Und dass sie auf den Kuss nicht weiter einging, war eigentlich etwas wie ein Kompliment an mich. So schlecht konnte er also nicht gewesen sein, obwohl er für mich vollkommen bedeutungslos war. Wenn ich an Minna dachte, hatte ich aber trotzdem ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Gut, dass sie das nicht gesehen hatte.


    Fast den halben Hof konnte ich kehren, bis wieder etwas wie eine Unterhaltung in Gang kam. Ich spielte Siv den Ball zu, aber statt ihn gleich zurückzuspielen, drehte sie ihn endlos um die eigene Achse und warf ihn mir erst dann vor die Füße. "Was mir das Recht gibt?" wiederholte ich dann verwundert und hielt beim Kehren inne. Schon wieder stachelte dieses Blondchen dort meine Wut auf, wo ich bisher nur Resignation geglaubt hatte. "Das fragst du mich? Was gibt dir denn bitte das Recht, über mich zu urteilen, hm? Wie war das vorhin? Ich hätte vergessen, woher ich komme? Du kennst mich gerade mal fünf Minuten und wirfst mir sowas an den Kopf, ohne überhaupt zu wissen, wer ich bin und wie ich hierher gekommen bin. Und jetzt willst du wissen, warum ich mir die Freiheit nehme, dasselbe mit dir zu machen? Ist nicht dein Ernst, oder?" Ungläubig sah ich Siv an, schüttelte dann den Kopf und kehrte weiter. "Ich bin Langobarde. Mein Haus ist eines der größten im Dorf gewesen. Als die Römer kamen und Alboin nicht mit ihnen paktieren wollte, haben sie alles niedergebrannt und so lange gemordet, bis kaum noch jemand am leben war. Und die, die überlebt hatten, haben sie versklavt. Ich verfluche den Tag, an dem sie mein Weib geschändet, meine Kinder getötet und mein Haus zerstört haben. Aber hier kann keiner was für die Taten der Soldaten. Es gibt keinen Grund mehr, nach Hause zu gehen. Warum also sollte ich nicht versuchen, hier das beste aus dem zu machen, was mir geblieben ist?" Ich stützte mich auf den Besen und sah Siv an.

  • Nordwin reagierte, aber nicht so, wie Siv erwartet hätte. Er rechtfertigte sich nicht für das, was er gesagt hatte, für die Andeutungen, die er gemacht hatte. Stattdessen begann er, ihr Vorwürfe zu machen. Sivs geballte Fäuste lockerten sich etwas, während sie ihm zuhörte. "Mo-, Moment mal, das-" Aber Nordwin ließ sich von ihr nicht unterbrechen, sondern redete einfach weiter. Als er fertig war, erwiderte sie seinen Blick. Stumm. Für Augenblicke schien ihr Kopf wie leergefegt, so als hätte der Germane dort gekehrt und nicht in dem Hof. Dann zog sie die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf. "Ich urteile nicht! Das, das ist was anderes, das vorhin, als das mit Betthäschen!" Das Wort wurde regelrecht ausgespuckt, und ihre Stimme troff vor Verachtung. "Du bist doch, du hast doch gesagt, dass man einer wird von ihnen, dass egal ist, woher dass man ist!" Siv sah überhaupt nicht ein, nun auf sich sitzen zu lassen, sie wäre die erste gewesen, die vorschnell geurteilt hatte, auch wenn ihr irgendwo klar war, dass es stimmte. Aber sie wäre nicht sie gewesen, hätte sie das so einfach zugeben können. "Und es ist nicht egal. Dir auch nicht. Oder? Es kann dir gar nicht egal sein, das glaub ich nicht! Es geht doch gar nicht darum, hier das Beste draus zu machen, das versuchen wir doch alle irgendwie, aber deswegen musst du nicht so tun, als wärst du kein Germane, und du musst nicht über andere herziehen, die auch nur versuchen, irgendwie zurecht zu kommen, oder würdest du deine Frau vielleicht auch Betthäschen nennen?" Kaum hatte Siv das ausgesprochen, blieben ihr alles, was sie sonst noch sagen wollte, im Hals stecken. Mit einer Mischung aus Wut und aufkeimendem Schreck sah sie Nordwin an. Sie wusste, dass sie damit zu weit gegangen war, es spielte keine Rolle, was sie selbst erlebt hatte mit römischen Soldaten. Aber die Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen.

  • "Tut man auch. Man wird einer von ihnen", bestätigte ich. War es etwa nicht so? Man lernte ihre Sprache, damit man nicht mehr so verloren war. Vielleicht sträubten sich manche erst dagegen, den Römern zu dienen, aber letztendlich taten die meisten doch, was sie verlangten. "Lernst du etwa kein Latein? Versuchst du nicht, einer möglichen Strafe lieber zu entgehen?" fragte ich Siv. "Vielleicht hast du am Anfang versucht, zu ignorieren, was sie von dir wollten. Vielleicht hast du sie gehasst. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem du weißt, dass Hass nicht mehr alles sein kann, das du empfindest. Irgendwann hast du diesen Punkt erreicht, und dann bist du das, was sie wollen, Siv." Ich spuckte in bitterer Geste auf den Boden und starrte das schaumige Gebilde dann eine Weile an.


    "Vielleicht geht es schneller, wenn man sich selbst einredet, dass man selbst genau das tun will, was sie von einem wollen", sagte ich dann und spielte damit wieder darauf an, was ich bei Siv vermutete. "Vielleicht gibt es wirklich ein paar von ihnen, die mehr als einen folgsamen Maulesel in dir sehen. Das muss wohl so sein." Epicharis war ja auch eine von denen, die mehr als Besitztümer in uns Sklaven sahen.


    Wieder wechselte Siv ins Germanische. Ob sie das tat, weil ihr die lateinischen Worte fehlten, weil sie zeigen wollte, dass sie Germanin war oder weil sie nicht so schnell sprechen konnte in der Römersprache, wusste ich nicht. Aber was sie sagte, ließ mein Gesicht automatisch versteinern. Stumm sah ich sie an. Dann hörte ich das Holz des Besenstiels knarzen, als sich meine Hände so fest darum schlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ich atmete gezwungen gleichmäßig, bis Zorn und Schmerz wieder auf einen regulierbaren Pegel gesunken waren, was doch relativ schnell ging. "Wenn ihre Schreie anders geklungen hätten, vielleicht", sagte ich nüchtern.

  • Siv wusste nur zu gut, wovon Nordwin sprach. So furchtbar lange, dass sie den Punkt erreicht hatte, jenen Punkt, ab dem Hass nicht mehr alles war, nicht mehr alles sein konnte. Nicht mehr alles sein durfte, wollte man sich nicht genau dadurch selbst verlieren. "Man wird keiner von ihnen, nur weil man sucht das Beste für sich, weil man sucht zu leben." Sie starrte ihn an und wollte nicht so recht glauben, was sie da hörte. War er wirklich so verbittert? Sah er wirklich in sich selbst und in anderen nicht mehr als einen von ihnen, einen, der genauso war, wie die Römer ihn haben wollten? Sie knirschte mit den Zähnen in ohnmächtiger Wut, sie hätte ihm am liebsten den Besen aus der Hand gerissen und ihn damit verprügelt, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber sie tat nichts und sagte nichts, und so sprach Nordwin weiter. "Ich rede mir nicht, dass ich das will." Das tat sie tatsächlich nicht. Oder wenn, dann nur zum Teil. Die Arbeit im Garten liebte sie, diese Arbeit war es gewesen, die ihr von Anfang geholfen hatte, sich zurecht zu finden, ihren Platz zu finden, die ihr etwas gegeben hatte, woran sie sich festhalten konnte – vor allem auch in der Zeit, in der Corvinus sie ignoriert hatte. Nun, und was diesen betraf, war die Sache ohnehin klar. Sie liebte ihn. Und zumindest, wenn sie allein waren, genoss sie es, Zeit mit ihm zu verbringen. Trotzdem kam ihr Widerspruch nur gemurmelt, und das nicht, weil sie nichts über Corvinus verraten wollte. Es gab, natürlich, auch die anderen Momente. Die, in denen sie nicht allein waren. Die, in denen sie Römern begegnete, die in ihr tatsächlich nicht mehr sahen als einen folgsamen Maulesel – und die sie auch noch bedienen musste. Die, in denen sie sich zusammenreißen musste, sich verstellen musste, um keinen Ärger zu verursachen und keinen zu bekommen.


    Dann jedoch sprach Siv doch weiter, wechselte ins Germanische, sprudelte wie ein Wasserfall – und sagte jenen Satz, der sie verstummen ließ. Die beiden Germanen starrten sich an, und für Augenblicke war es so still, dass man fast eine Nadel hätte fallen hören können. Siv biss sich auf die Unterlippe, rang mit sich selbst, ob sie sich entschuldigen sollte, und brachte es doch nicht über sich, genau das zu tun. Dann antwortete Nordwin schließlich doch. Und sie starrte ihn schon wieder ungläubig an. "Das ist nicht dein Ernst, oder?" fragte sie, wieder auf Germanisch, weil es so viel leichter für sie war, sich in dieser Sprache auszudrücken. Noch war Unglauben in ihrer Stimme, aber schon begann wieder Zorn aufzuglühen darin. "Für euch Männer ist das ja herrlich einfach, wie? Was soll eine Frau denn schon tun, wenn sie nicht die Wahl hat? Was ist schlecht an denen, die Gelegenheit haben es ein bisschen leichter zu machen und das auch nutzen?" Bequemerweise vergaß Siv, wie sie selbst über die Frauen gedacht hatte, die sich gemeinsam mit ihr in Gefangenschaft befunden hatten und genau das getan hatten, wovon sie nun sprach. Sie hatte sich damals nicht die Mühe gemacht nachzufragen, wenigstens zu unterscheiden zwischen jenen, die sich tatsächlich Vorteile hatten verschaffen wollen, ohne Rücksicht auf Verluste, und jenen, die es einfach nur ein bisschen leichter hatten haben wollen. Daran dachte Siv nicht, aber sie dachte sehr wohl an diese Zeit, die Gefangenschaft, die Soldaten und später die Händler, die sie nach Rom gebracht hatten, an das, was passiert war, und stocksteif stand sie an der Wand, die Hände fest zu Fäusten geballt, das Gesicht bleich mit Ausnahme einiger roter Flecken auf den Wangen, die Augen funkelnd in Schmerz und Zorn. "Oh, aber das ist was anderes, richtig? Genauso wie es was anderes ist, dass ich als verheiratete Frau in Germanien nicht unbedingt ein schöneres Leben haben würde als im Moment, weder was die Tatsache betrifft, mit wem ich das Bett teilen muss, noch was meine Arbeit angeht!"

  • "Wie du meinst", entgegnete ich schlicht und zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Lust, ihr noch mal zu erklären, wie ich das meinte. Es lag ja auf der Hand, dass sie gar nicht verstehen wollte, was Sache war. Sollte sie doch, war mir recht.


    Schon wollte ich sie einfach ignorieren und wieder anfangen zu kehren, als Siv wieder ausbrach, als wollte sie dem Vesuv Konkurrenz machen. Ich sah sie zwar an und hörte ihr zu, aber diesmal ließen mich ihre Worte weitestgehend kalt. Sie verstand mich nicht und ritt darauf herum. Und sie verriet sich, als sie bestätigte, dass sie doch mit diesem Römer in die Kiste hüpfte. Ich verzog kurz das Gesicht zu einem bitteren Grinsen und kehrte dann doch weiter. Sollte sie sich doch aufregen, wenn sie wollte. Meine Gedanken strichen nun wieder um das, was vor vielen, vielen Jahren in meiner Heimat passiert war. Sie hatte die Dämonen wieder beschworen, die ich längst gestorben geglaubt hatte, und das nahm ich ihr in diesem Moment ziemlich übel.


    Als eine ganze Weile nur das rhythmische Kehren den tristen Herbsttag erfüllt hatte, schien mir der Hinterhof leider schon sauber, so dass ich schließlich den Besen wieder zurück an die Mauer stellte und neben ihm stehen blieb. "Urteilst du eigentlich immer, ohne die Dinge zu hinterfragen? Nicht, dass mich das stören würde. Es wär nur gut, wenn ich das wüsste, damit ich beim nächsten Mal nicht darauf reinfalle und meine Zeit damit verschwende, dir blöderweise mehr über mich zu erzählen."

  • Siv presste inzwischen nicht nur ihre geballten Fäuste, sondern auch sich selbst gegen die Wand. Sie kämpfte gegen ihre eigenen Dämonen, gegen Bilder aus der Vergangenheit, die sie nie wirklich verarbeitet hatte, die sie immer nur unter einer Flut aus Zorn und Hass zu vergraben versucht und später irgendwann verdrängt hatte. Sie bemerkte weder, wie falsch sie Nordwin verstand, noch wie sehr sie ihm im Grunde Unrecht tat. Sie hörte, was sie hören wollte, oder besser: sie überhörte, was sie nicht hören wollte. Und sie war nicht gewillt, sich etwas sagen zu lassen, was ihr derzeitiges Leben schlecht machte. Wie auch – sie hatte sich, mehrmals sogar, bewusst dafür entschieden inzwischen. Und sie stand dazu, nach wie vor. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, war ihr bewusst, was andere wohl darüber denken mochten, von ihr denken mochten, und das musste ihr nicht gefallen. Dazu kamen ihre Erinnerungen und die Tatsache, dass sie derzeit ohnehin, für ihre Verhältnisse jedenfalls, eher empfindlich war.


    Wieder vergingen einige Momente in Schweigen, wieder ließ Nordwin sich Zeit, bis er endlich etwas sagte. Und wieder sagte er Dinge, mit denen sie nicht gerechnet hatte und die sie trafen, diesmal nicht, weil er damit etwas in ihr aufwühlte – sei es nun Vergangenheit oder Gegenwart –, sondern weil ihr nun, zum ersten Mal im Lauf ihrer Unterhaltung, dämmerte, dass sie womöglich zu weit gegangen war. Trotzdem fiel es ihr schwer, das auch zuzugeben, vor sich selbst und erst recht vor ihm. Und nach wie vor nagte die Tatsache an ihr, dass er ebenso über sie geurteilt hatte wie sie über ihn. "Du doch auch. Du hast auch Urteil. Ohne mich zu kennen. Ohne Fragen." Betthäschen, so hatte er sie genannt, hatte festgestellt sie müsste das sein, im selben Moment in dem er sie gefragt hatte, was sie denn tat. "Ich wollte nur… ich war froh. Dich zu treffen, einen Germanen. Und du, dass du gesagt hast, ist nicht wichtig, das, und redest Latein, und…" Siv verstummte wieder. Was sie eigentlich sagen wollte war, dass es ihr leid tat, ihn so angegangen zu haben. Was er erlebt hatte, klang furchtbar, es war nicht fair gewesen von ihr, das zu nutzen, um ihn anzugreifen, ganz egal wie verletzt sie sich gefühlt hatte oder wie sehr sie in ihre eigene Vergangenheit abgetaucht war, und das wusste sie auch. Allerdings fiel es ihr sichtlich schwer, das über die Lippen zu bringen.

  • Na gut, sie hatte eben recht. Ich hatte gesagt, dass sie ein Betthäschen war. Allerdings lag die Vermutung nun mal nahe, immerhin war sie blond, sah recht passabel aus und sprach ein ziemlich murksiges Latein. Aber das sagte ich ihr nicht, sondern schwieg einfach nur. Das andere war eh viel wichtiger als der Umstand, ob sie nun freiwillig bei einem Römer lag oder nicht, solange sie das mit sich selbst vereinbaren konnte. Ich sah sie nur an und zuckte schließlich mit den Schultern. "Und? Würdest du dich besser fühlen, wenn ich kein Latein sprechen würde? Ich glaub dir kein Wort. Was macht denn das für einen Unterschied?" Ich hob erneut die Schultern und machte dann eine wegwerfende Geste. "Ich habe keine Lust, Erinnerungen auszutauschen und einem Leben hinterherzuweinen, das ich mal gelebt hab, aber eh nie wieder leben werde." Ich wollte mich einfach nicht erinnern, daran lag es. Denn mit den guten Erinnerungen würde ich auch die schlechten wieder heraufbeschwören.


    Ein wenig mitleidig sah ich Siv an, dann seufzte ich. "Hör mal, ich weiß wirklich nicht, wie ich dir helfen kann oder was du überhaupt willst. Ich kenn dich ja nicht mal." Wieder ein Schulterzucken. Sicher war sie ganz nett, aber ich wollte nun mal nicht über meine germanische Vergangenheit reden, und ganz offensichtlich wollte sie das ja.

  • Siv starrte Nordwin an und war um Worte verlegen – was ihr nicht häufig passierte. Sie konnte nicht sagen, was es für einen Unterschied machte. Sie konnte nicht benennen, warum es sie so aufgeregt hatte, dass Nordwin sich weigerte Germanisch zu sprechen. Dass er so gar keinen Wert auf seine Herkunft mehr legte. Sie wusste nur, dass es für sie einen Unterschied machte. Das war es doch, was sie ausmachte – ihre Herkunft, wie sie aufgewachsen war, was sie dort erlebt hatte. Das war, wer sie war. Wenn sie das einfach vergaß oder wegschob, wer war sie denn dann noch? "Ich versteh nicht, was du denkst. Wie du denkst. Da ist Unterschied, aber…" Hilflos zuckte sie die Achseln. Ihre Stimme klang leise, fast schien es, als ob sie zumindest vorläufig ihre Energie verpulvert hätte. "Ich will nicht weinen. Aber… das ist ich, ich bin Germanin, egal dass ich hier bin. Egal dass ich nicht zurück kann. Das bleibe ich."


    Sie blieb an der Wand gelehnt stehen, rührte sich nicht, während sie abwechselnd ihn und die Umgebung musterte. Ihm ging es anders als ihr, das war offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer. Oder lag es nur daran, dass er schon so viel länger Sklave war? Würde sie eines Tages auch so werden? Siv biss die Zähne aufeinander. Sie würde nicht so werden, davon war sie überzeugt. Sie durfte nicht so werden. Sie war stolz darauf, Germanin zu sein, stolz auf alles, was ihre Herkunft war und sie ausmachte. Gerade jetzt, wo sie schwanger war, musste sie das umso mehr sein. Ob ihr Kind jemals ihre Heimat zu Gesicht bekommen würde, war fraglich, das war auch ihr klar, aber an ihr war es dafür zu sorgen, welchen Eindruck es von dem Teil seines Erbes bekam, das von ihr stammte. "Du kannst nicht helfen", antwortete sie, nun schon wieder eine Winzigkeit an Trotz in ihrer Stimme mitschwingend. Er hatte doch gefragt, ob sie ihn begleiten wollte, oder nicht? "Oder du willst Latein lehren?" fragte sie dann, jedoch eher scherzhaft. Aber dafür müsste er dann wohl doch wieder Germanisch sprechen – gerade das wäre ja der Vorteil, wenn jemand wie Nordwin mit ihr lernte, weil er ihr in ihrer Muttersprache alles erklären konnte, was sie auf Latein nach wie vor noch nicht verstand. Ihre Frage war mehr ein Versöhnungsangebot.

  • "Musst du doch auch gar nicht. Mir würde es schon reichen, wenn du nicht verlangst, dass ich genauso in der Vergangenheit herumstochere wie du", erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. Was hatte sie denn nun? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Sie war ja so still auf einmal, und so zahm wie ein Kätzchen. Ein wenig skeptisch sah ich sie an. "Jaha, ich bin auch Germane. Aber dass du hier bist, ist nicht egal. Es macht was mit dir. Es verändert dich. Hier und hier", sagte ich und deutete auf Stirn und Herz.


    Langsam ging ich rüber zu Siv, lehnte mich dann neben sie an die Wand und verschränkte die Arme locker vor dem Bauch. "Ich kann mir schon denken, dass du glaubst, dass sowas niemals passieren wird. Dass du deine Heimat nie vergisst. Vielleicht ist das auch so. Vielleicht aber sind dir irgendwann andere Sachen einfach wichtiger, als ständig an früher zu denken. An die dunklen Wälder und den frischen Geruch von germanischem Gras." Ich musterte das Pflaster und seufzte. "Oder was auch immer", murmelte ich. Dann wandte ich den Kopf und sah nach links zu Siv. "Egal. Also. Latein lernen musst du definitiv. Aber wenn du Sklavin von diesem Aureliertypen bist, dann bekommst du doch Unterricht hier, oder nicht? Zumindest mein ich, sowas gehört zu haben."

  • Mir würde es schon reichen, wenn du nicht verlangst, dass ich genauso in der Vergangenheit herumstochere wie du. Sie wollte doch gar nicht stochern. Sie wollte sie sich nicht ausgiebig und in aller Breite mit ihm über Germanien unterhalten. Das tat sie mit Brix doch auch nicht. Aber was war so falsch daran, zu dem zu stehen, was man war, in ihrer Muttersprache reden zu wollen, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte? Das bot sich ihr ohnehin viel zu selten. Und ihr Trotz flackerte wieder auf, als Nordwin weiterhin behauptete, dass ihr Hiersein sie veränderte. Aber immer noch schwieg sie, und Nordwin kam zu ihr hinüber und sprach weiter. Und schließlich wandte Siv den Kopf und sah den Germanen an. "Ja. Natürlich, ich werde anders, alle werden anders, aber das ist doch nicht, das heißt nicht, dass ich meine Heimat vergesse. Dass ich nicht mehr Germanin bin. Dass…" Wieder gestikulierte sie, aber diesmal wirkte es eher hilflos. Warum fiel es ihr nur so schwer, wirklich auszudrücken, was sie meinte? "Ist nicht möglich, ich meine, kann man nicht haben beides? Hier sein, hier leben, hier… Weg finden, das glücklich ist… Und bleiben, was man ist? Heimat und Erinnerung von früher behalten, hier und hier?" Ebenso wie er kurz zuvor wies nun sie auf ihre Stirn und ihr Herz. Machte sie sich denn etwas vor, wenn sie daran glaubte, dass das möglich war? Sie wollte ja gar nicht mehr zurück. Sie wollte hier bleiben, oder besser: sie wollte nicht fort von Corvinus. Und sein Platz war nun mal hier, und nur hier. Etwas anderes gab es nicht für sie, wenn sie in seiner Nähe sein und das bisschen Glück genießen wollte, das sie mit ihm haben konnte. Sie wollte bei ihm sein, und wenn sein Platz hier war, war es ihrer auch. Aber das änderte doch nichts daran, wo sie geboren und aufgewachsen war, wer ihre Familie war, wo ihre Wurzeln lagen…


    Sie schob kurz die Unterlippe vor und seufzte dann. "Ich weiß. Wegen Latein lernen." Dann nickte sie, während sie sich nach ihren Sachen umsah, die jedoch nicht zu sehen waren. Irgendwo musste sie sie noch einmal fallen gelassen haben, unbemerkt von ihr – vermutlich, als Nordwin sie nach draußen gezerrt hatte. "Ja, gerade war Unterricht. Aber, das ist so langsam, weißt du? Im Moment. Ich bin langsam, im Moment. Ich will mehr lernen. Es ist… es nervt einfach, dass ich mich auf Latein immer noch nicht so ausdrücken kann, wie ich will!"

  • "Klar kannst du das. Aber irgendwann verblassen entweder die Erinnerungen oder du selbst gehst daran zugrunde. Irgendwann wirst du nämlich dran denken, wie es wär, wenn du niemals von zu Hause fort gemusst hättest. Und dann fragst du dich, warum du noch hier bist. Wenn du von vorne herein nicht mehr dran denkst, wirst du auch nicht an den Punkt kommen, weißt du? Deswegen ist es einfacher, römisch zu denken und so zu leben wie sie. Dann kommst du nie in die Bredouille irgendwann", sagte ich und zuckte mit den Schultern. "Du würdest auch schneller lernen, wenn du nicht ständig Germanisch sprechen würdest", wies ich sie zurecht. "Also, wenn du eine Idee hast, wie ich dir helfen könnte, dann sags mir. Ich hab selber grad keine Idee. Höchstens... Kannst du schreiben? Du könntest mir sonst Briefe schreiben oder so, dann würde das zumindest besser werden. Aber auf Dauer kann ich dir dann nur raten, so viel Latein zu sprechen wie du kannst. Und anderen zu sagen, dass sie dich berichtigen sollen, auch wenn sie verstanden haben, was du eigentlich sagen willst."

  • Siv hörte sich schweigend an, was Nordwin zu sagen hatte. Sie konnte das nicht glauben, sie wollte es nicht glauben, dass es besser wäre, einfach alles zu vergessen, was sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Sie holte tief Luft, ohne etwas zu sagen, zuckte nur leicht mit den Achseln. Es musste doch möglich sein, die Erinnerungen auf eine Art zu behalten, die ihr Kraft geben konnte, die schön war… ohne ihr dabei Leid zu bescheren. Dass sie verblassten, das merkte Siv ja jetzt schon, aber dennoch waren sie noch da – verblassen war nicht das gleiche wie vergessen. Oder verdrängen. "Ich weiß nicht", murmelte sie, und man konnte ihr anhören, dass sie definitiv nicht überzeugt war von seiner Sichtweise. "Ich… will nicht vergessen."


    Danach seufzte sie und musterte Nordwin. "Ja", maulte sie, der Tonfall halb gespielt, halb ernst. "Kein Germanisch. Klar. So viele Germanen gibt es hier nicht, mit denen ich Germanisch reden könnte… Und mit anderen, ich rede Latein. Immer." Noch ein Seufzen. "Ich lerne schreiben, aber ist noch nicht so gut. Ich möchte fragen, den Lehrer. Für mehr Unterricht. Ach, und das ist das Problem: keiner verbessert, wenn ich falsch sage. Weil sie alle verstehen." Jetzt zog Siv die Nase kraus. Das war von Anfang an so gewesen, kaum jemand hatte sie verbessert, wenn er verstanden hatte, was sie hatte sagen wollen – und so hatten sich einige fehlerhafte Gewohnheiten eingeschliffen, die ihr jetzt zu schaffen machten.

  • Ich sollte das Thema besser lassen, überlegte ich. Siv würde diese Erfahrung selber machen müssen, da brachte es herzlich wenig, wenn ich ihr davon erzählte, um sie ihr zu ersparen. Also ließ ich die Weiterführung offen und seufzte nur leise, dabei mit einem Fuß im Sand zwischen den Pflastersteinen scharrend.


    "Ja, aber wenn du ständig Germanisch sprichst, wenn dir einer über den Weg läuft, ist dir damit auch nicht geholfen", erwiderte ich breit grinsend. "Und am besten lernst du auch gleich noch ein paar Schimpfwörter dazu, dann musst du nicht ständig germanisch fluchen. Weißt du...ich könnte dir doch helfen. Ich kenne inzwischen so einige Schimpfwörter, da würden einem Römer ordentlich die Ohren schlackern..." Ich stellte mir vor, wie die alle gucken würden, wenn Siv damit anfing. Dass sie klein, aber durchaus ernst zu nehmen war, hatte ich ja schon selbst gemerkt. "Den Lehrer? Meinst du diesen Mici...irgendwas? Oder Cas..imir? Wer gibt euch eigentlich Unterricht?" fragte ich sie. "Und was das Schreiben betrifft... Vielleicht sollten wir diese Briefsache auch machen. Was meinst du? Ist ein echtes Friedensangebot."

  • Siv sagte auch nichts mehr dazu. Es war, wie sie gesagt hatte – sie wollte nicht vergessen. Was ihr das bringen würde, würde sie abwarten müssen, etwas anderes blieb ihr ohnehin nicht übrig. Und sie hatte keine Ahnung, was die Götter noch für sie geplant hatten, also war es wohl müßig, darüber nachzudenken.


    "Aber es ist einfacher", konterte sie dann mit einem schiefen Grinsen, sich wohl bewusst darüber, dass sie es ja eigentlich nicht einfacher haben, sondern Latein lernen wollte. Dann wurde ihr Grinsen plötzlich stetig breiter. "Schimpwörter? Oooh ja! Ein paar kann ich. Ich kann auch ein paar in Griechisch." Mittlerweile musste ihr Gesicht wohl den Eindruck vermitteln, als wollten ihre Mundwinkel unbedingt an ihren Ohrläppchen knabbern. Für Schimpfwörter war sie immer zu haben. "Cassim. Also, eigentlich Kleochares – aber der ist für Unterricht für die, die mehr können. Die Latein gut können, richtig gut. Und Cassim, er macht Unterricht für Rest." Endlich stieß Siv sich von der Wand ab, an der sie bis eben noch gelehnt hatte, und drehte sich, so dass sie Nordwin nun zugewandt war. Dann lehnte sie sich wieder an, diesmal mit einer Schulter. "Wirklich? Ich hab noch nie geschrieben, also, einen Brief. Das ist, das mach ich gern. Würde ich gern machen." Sie grinste. Die Aussicht, jemanden zu haben, dem sie Briefe schreiben konnte, freute sie wirklich – die ganzen Schreibübungen waren schön und gut, aber in ihren Augen doch irgendwie… nun ja, sinnlos. Sie machte die Übungen, und danach strich sie über das Wachs, und die ganze Mühe war umsonst gewesen. Wozu das also? Aber jemandem einen Brief schreiben, war etwas ganz anderes.

  • "Für DEN Rest", berichtigte ich sie automatisch. "Aha, man muss also nur das richtige Thema auf den Tisch bringen bei dir. Schimpfwörter kannst du also, na dann lass mal ein paar hören. Aber reih sie nicht aneinander, sondern mach Sätze draus. Dann hab ich wenigstens was zu berichtigen." Ein wenig süffisant grinste ich und ließ mich an der Wand nach unten gleiten, was gar nicht mal so einfach war bei der rauen Oberfläche. Schließlich aber saß ich da und hatte die Füße aufgestellt. "Gut, machen wir das mit den Briefen. Ich sag Acanthus bescheid, du kannst sie dann vorn abgeben. Aber vergiss nicht, meinen Namen draufzuschreiben. Sonst liest das hinterher noch sonstwer... Aber sag mal, wie hast du denn Griechisch gelernt?"

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!