Reise in eine ungewisse Zukunft

  • Die Geschichte um das Verschwinden der kleinen Sisenna liegt bereits mehr als drei Jahre zurück. Die damals Vierjährige war mit ihren Eltern nach Germania gekommen, weil ihr Vater eine politische Laufbahn starten wollte, aber dazu war es nicht mehr gekommen. In den Wirren eines Großbrandes wurde die Familie getrennt, es gab viele Tote, die nicht identifiziert werden konnten, und ein Claudier, der im Nachhinein seine kleine Tochter suchte, meldete sich nicht.
    Richwin, der Händler, wurde seinem Namen gerecht und erwies sich als "mächtiger Freund". Er nahm das herumirrende Mädchen zu sich, gab ihm Essen, lenkte es ab, wenn es weinte, und wärmte es nachts, wenn das Geld nicht für eine Mansio reichte und sie unter freiem Himmel schlafen mussten.


    Nachdem sich der Sommer seinem Ende zuneigte und sich noch immer niemand gemeldet hatte, der rechtlich für Sisenna verantwortlich war, entschloss sich Richwin, das Mädchen auf der Rückreise zu seinem Stammesgebiet mitzunehmen. Der Gedanke, es für einen Beutel klingender Münzen einzutauschen, kam ihm nicht. Sisenna stammte zwar aus edlem Hause, trug aber ein durchschnittliches Kleid, sodass ihre wohlhabende Verwandtschaft für einen Außenstehenden nicht erkennbar war. Einzig der Anhänger ihrer Kette hätte einem Kundigen ihre Genszugehörigkeit verraten können: Das Wappentier der Claudier zierte das Medaillon. In Rom hätte jeder Straßenjunge das Bildnis des Wolfes der patrizischen Familie zuordnen können, aber in Germania kannten sich damit die wenigsten Römer aus - geschweige denn ein germanischer Händler.


    An einem warmen Spätsommerabend packte Richwin seine Sachen und legte Sisenna zum letzten Mal links des Limes zum schlafen. Morgen würden sie aufbrechen und die provinzialisierten Gebiete Roms verlassen.

  • Hinter ihnen lag bereits eine mehrtägige Reise, als Sisenna mitten in der Nacht durch Hundebellen aus dem Schlaf gerissen wurde. Es dauerte geraume Zeit, bis sie die Ereignisse im Lager von den Trauminhalten unterscheiden konnte, bis sie realisierte, dass die Stimmen und das Stöhnen ganz aus der Nähe kamen. Die Geräusche ängstigten sie, daher rollte sie sich zusammen, zog die Decke über den Kopf, hielt sich die Ohren zu und zeitweise sogar die Luft an.
    Plötzlich wurde sie von hinten geschubst. Der Schreck trieb ihr die Tränen in die Augen, versiegelte gleichsam aber auch ihren Mund. Schnuffeln setzte ein, dann folgte ein weiterer Schubs. Sisenna glaubte an eine Gestalt aus der Unterwelt und begann zu zittern. Eine Männerstimme wurde laut. Während Sisenna nicht wusste, ob sie zuerst auf das Schnuffeln oder die sich nähernden Schritte hören sollte, zerschnitt ein lautes Bellen die Luft und ließ sie jäh zusammenfahren. Kurz darauf erklang einer unwirsche Stimme, der ein Jaulen folgte. Dann entfernten sich die Geräusche.
    Siseann begann zu schluchzen. Ihr fiel regelmäßiges Atmen schwer, denn ihr Körper wurde in Abständen geschüttelt, wogegen sie sich nicht wehren konnte. Sie traute sich nicht, sich zu rühren oder gar die Decke anzuheben. Erst als Tageslicht in kleinen Punkten durch das Gewebe drang, schöpfte sie etwas Mut. Sie lauschte, ob sich etwas in der Umgebung rührte.

  • Sie hob die Decke an und linste unter ihr hervor. Niemand war zu sehen. Nach weiteren Momenten des Verharrens schlug sie die Decke zurück und wagte einen Rundumblick. Die ungekannte Unordnung verwirrte und ängstigte sie, doch mehr noch erschreckte sie Richwins blutüberströmter Körper. Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Sie erhob sich mit vor die Augen gehaltenen Händen und schlich sich an ihm vorbei. Viele Schritte legte sie so zurück, bis ihr mehrmals Pfoten auf die Ferse traten, sodass sie fast gestürzt wäre.


    Noch im Umdrehen schimpfte sie: "Ulf! Lass das! Wenn du unbedingt mitkommen willst, dann sei artig."


    Ein Bellen, das mehr nach Protest als nach Zustimmung klang, war die einzige Antwort. Sisenna kümmerte sich nicht weiter um das ungepflegte Fellbündel. Noch legte sie keinerlei Wert auf seine Begleitung. Das jedoch änderte sich in der Folgezeit…

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