Atrium | Vier gewinnt

  • Blöder Kerl. Der Römer hatte eh nichts mitbekommen. Oder hätte es nicht, wenn der Neger da nichts gesagt oder mich nicht angefasst hätte. Naja. Die Tür war zu und ich saß schon fast wieder, da fiel mir ein, dass der Römer ja nicht sehen konnte, wo er warten sollte. Und dass Antonia gar nicht wusste, dass sie Besuch hatte. Also stand ich wieder auf und ging an dem Blinden und dem Typen mit dem dunklen Teint vorbei. Nicht auszudenken, was ich für einen Ärger kriegen würde, wenn der Römer plötzlich ins Impluvium fiel...


    "Da könnt ihr warten. Ich sag ihr Bescheid. Also, der Claudia." Gesagt getan. Ich wies auf den hinteren Sitzbereich und schlurfte dann zum Zimmer der Mutter, wie sie allgemein hier genannt wurde. Auf halbem Weg dahin hoffte ich, dass in der Zwischenzeit niemand anders klopfte.


    Antonias Gemach
    *tock tock* "Domina?" fragte ich. Die Maserung der Tür bemerkte ich nicht. Holz war halt Holz. "Da ist Besuch für dich. ....." Verdammt, wie hieß der doch gleich? "Dieser... Ker*hust*...Römer von der Hochzeit neulich. Der, der so komische Blicke mit deinem Mann getauscht hat. Ich glaube Tocktock oder so ähnlich...." sagte ich zu der Tür und musste kurz darauf acht geben, mich nicht kaputt zu lachen. Schon blöde, was manche Römer für Namen hatten...

  • Wir folgten dem Ianitor durch einen kurzen Gang bis wir das Atrium erreichten. Das Atrium einer Villa ist für mich einer der am eindeutigsten zu erkennenden Räume. Egal wie viele Lampen, Kerzen und Kohlebecken aufgestellt sind, die Luft ist durch den stetigen Zustrom über die Öffnung im Dach immer etwas frischer als im übrigen Haus. Wenn wie in dieser Villa dazu noch ein kleiner Springbrunnen oder ähnliches im Impluvium plätscherte, konnte ich das Atrium auch noch hören.


    Wieder fiel mir auf, dass der Ianitor eine ziemliche Fehlbesetzung war. Seine Schritte waren schwer, er musste recht groß oder massig sein. Das passte eher zu einem Rausschmeißer, aber nicht zu einer repräsentativen Gestalt, die das Aushängeschild für eine Villa war. Außerdem zeigte sich auch im Atrium nochmals, dass er nicht sehr sprachgewandt zu sein schien.


    "Danke." Ich wartete, bis er wieder weg war, und beugte mich zu Tuktuk. "Und?"
    "Sehr stilvoll und edel, eher altmodisch als modern, aber eindeutig von jemandem arrangiert, der Geschmack hat."
    Etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Patrizische Villen alter patrizischer Familien waren sich wohl im Grund alle irgendwie ähnlich. Der einzige Unterschied war, dass manche wahllos vollgestopft waren mit teurem Zeug und manche das Vermögen nur mit wenigen kostbaren Stücken demonstrierten. Außer für den ersten Augenblick interessiert mich das aber meist sowieso nicht, denn diese Oberflächlichkeiten gingen völlig an mir vorbei.

  • Leises Knistern drang aus einem der angrenzenden Räume. Papier, das geknickt und kurz darauf glatt gestrichen wurde. Das Geräusch eines Bandes, das über Papier strich und geknotet wurde. Epicharis band eine Schleife. Dann hielt sie das in dunkelblaues Papier eingepackte, verspätete Geschenk vor sich hin und musterte es kritisch. Vielleicht würde es ihm ja gefallen. Es war schon peinlich genug gewesen, dass sie nichts für Serenus gehabt hatte, als er so plötzlich aufgetaucht war. Aber wer hätte auch ahnen können, dass er genau zu den Saturnalien auf der Matte stand?


    Als sie Schritte hörte, wandte sie sich um und sah zum Eingang ins Atrium. Nordwin war soeben in einem der Gänge verschwunden. Epicharis widmete sich wieder dem Geschenk, klemmte es sich unter einen Arm und stand dann auf. Mit der anderen Hand klaubte sie die restlichen Papierstreifen und das übrig gebliebene Stück Band zusammen, dann verließ sie das Tablinum und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Während sie das Atrium durchquerte, fiel ihr Blick auf einen Mann. Sie kannte ihn, im Grunde zwar nur flüchtig, aber dennoch wusste sie, wer er war und ahnte auch, was er hier machte. Kurzentschlossen bog sie also nach links ab, statt geradeaus weiterzugehen, und kam auf Tucca und seinen Schatten zu. "Tucca, ich bins, Epicharis. Schön, dass du hier bist. Wie geht es dir?" sprach sie ihn an, als sie bei ihm angelangt war. Im letzten Moment hatte sie die Formulierung "schön, dich zu sehen" vermieden.

  • Als ich meinen Namen hörte drehte ich mich zur Quelle der Stimme um. Glücklicherweise verriet diese auch direkt ihren Namen und stellte sich somit als die Tochter meines Vetters Menecrates heraus. Ich hatte während ihrer Hochzeit nur wenige Worte mit ihr gewechselt und hätte ihre Stimme kaum eindeutig wiedererkannt, auch wenn sie mir direkt bekannt vorkam.


    "Salve, Epicharis! Danke, mir geht es bestens. Es freut mich, dich zu sehen."


    Natürlich 'sah' ich sie nicht. Aber es war eine Floskel wie viele andere, die ich ebenso selbstverständlich nutzte wie alle anderen auch. Es klang einfach merkwürdig zu sagen 'es freut mich, dich zu hören, zu riechen und zu spüren' und 'sehen' nahm im Sprachgebrauch zu oft die Bedeutung von 'sich treffen' an, als dass man es ignorieren konnte, selbst wenn man nichts sah. Ich selbst 'sah' das zudem sehr locker, wohingegen andere mir gegenüber oftmals Schwierigkeiten damit hatten.


    "Wie geht es dir? Hast du dich schon gut eingelebt?"

  • Gerade von Tucca hätte sie nicht erwartet, dass er so locker mit einer solchen Formulierung umging. So war es an ihr, ein wenig nachdenklich dreinzuschauen. Und sie war dankbar dafür, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie blickte den kleinen Schwarzhäutigen an und nickte ihm kurz zu. Er war Tuccas Augenlicht, und ohne ihn ging er nirgendwo hin, weil er es nicht konnte. Ob sich der Sklave darüber bewusst war, welche Macht er im Grunde damit über Tucca hatte? Er konnte ihm sonst etwas einflüstern, und dem armen Claudier blieb nichts anderes übrig, als seinem Sklaven Glauben zu schenken.


    Epicharis dachte kurz nach. Im Grunde wusste sie nichts von Tucca. Gut, er hatte stets zurückgezogen in Ravenna gelebt, und während der wenigen Male, die sie sich auf Festen und Feiern ...gesehen hattenm war Epicharis noch klein gewesen. Genauer betrachtet, hatten sie nie wirklichen Kontakt zueinander gehabt. Es war seltsam, dass er nun in Rom war, wo doch alles noch fremder für ihn sein musste als in seinem eigenen Haus im Norden Italiens. "Es geht mir bestens, danke", erwiderte Epicharis. "Ja, doch. Das kann man wohl so sagen. Es ist hier nicht viel anders als zu H...in der Villa Claudia", sagte sie und hätte um ein Haar zu Hause gesagt. "Ein wenig mehr Trubel, auch bedingt durch Antonias Kind - und stell dir vor, neuerdings haben wir hier sogar einen Arbor Felix!" Epicharis war sich bewusst, dass sie einen Gedankensprung machte, aber der Gedanke war ihr eben in den Sinn gehopst. "Möchtest du dich setzen? Vielleicht etwas trinken? Oder wartest du auf jemand bestimmten?"

  • Ich konnte ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken. "Im Gegensatz zur Villa Claudia hier in Rom herrscht wohl in jedem Haus regelrechter Trubel." Vielleicht war aus meiner Stimme ein bisschen Enttäuschung heraus zu hören. Als ich nach Rom gekommen war, hatte ich mit rauschenden Festen mindestens einmal pro Woche gerechnet. Natürlich bot Rom außerhalb der Villa eine Menge Möglichkeiten, doch außerhalb der Villa war für mich immer anstrengend.


    "Einen Arbor Felix? Tatsächlich? Dann gefällt es wohl auch den Göttern, wenn eine Claudia ins Haus einzieht." Erst nach der Hochzeit hatte ich erfahren, dass Epicharis eine echte Flavia geworden war. Trotzdem blieb sie für mich eine Claudia. Die Familie lag einem immerhin im Blut und man konnte seine Herkunft nicht einfach mit seinem Namen ablegen.


    "Sitzen ist eine gute Idee, ja. Und vielleicht einen verdünnten Wein." Ich hielt meinen Arm etwas nach vorne, damit mich Tuktuk zu der Sitzgelegenheit führen konnte. "Ich bin gekommen, um Antonia zu besuchen. Sie hat mich auf der Hochzeit eingeladen, auch um ihren kleinen Sohn kennen zu lernen. Wenn du nichts vor hast, würde ich mich freuen, wenn du uns Gesellschaft leisten würdest. Aber ich will dich natürlich nicht aufhalten, falls du gerade irgendwohin unterwegs bist."


    Im Grund kannte ich Epicharis nicht. Sie war bisher nur ein Name im Familienstammbaum gewesen. Zwar war unser Altersunterschied nicht übermäßig groß, aber als wir uns zuletzt auf Familienfeiern begegnet waren, waren wir noch in dem Alter, wo ein halbes Jahrzehnt darüber bestimmte, an welchem Tisch man Platz nehmen durfte. Das alles war für mich aber kein Grund, sie nicht kennen zu lernen. Wenn ich ehrlich war, kannte ich Antonia auch nicht viel besser.

  • Sie schmunzelte. Epicharis konnte sich noch gut daran erinnern, wie still es in ihrem alten Heim gewesen war, insbesondere zuletzt. Wie schade, dass Tucca erst kurz vor ihrer Hochzeit hergezogen war. So nickte Epicharis also zur Bestätigung, bis ihr auffiel, dass Tucca das ja gar nicht sehen konnte. "Ja, ich erinnere mich. Es muss für dich nicht anders sein als in Ravenna." Denn wenn sie sich recht erinnerte, lebte Tucca allein, immer noch oder schon wieder. Das Schicksal hatte es nie wirklich gut mit ihm gemeint.


    Epicharis lachte als Reaktion auf seine Erwiderung bezüglich des Glücksbaumes. Besonders ein Flavier hatte es ganz besonders nötig gehabt, einen göttlichen Schubs in die richtige Richtung zu erhalten, aber natürlich präsentierte sie das nicht einem fast Fremden auf dem Silbertablett. "Vielleicht. Vielleicht gefällt es ihnen aber auch, dass ich nun eine Flavia bin", erwiderte sie verschmitzt und nicht einmal halb so ernst, wie sie versuchte, es Tucca glauben zu machen. Tucca ließ sich von seinem Sklaven zu den Sitzgelegenheiten begleiten, und Epicharis folgte ihnen. Hier standen stets frisches Wasser und ein Krug Wein. Epicharis legte selbst Hand an, der Einfachheit halber - und weil augenscheinlich gerade kein Sklave zugegen war, den sie darum hätte bitten können. Sie goss Wein in einen Becher und vermengte ihn mit Wasser, sich selbst schenkte sie nur Wasser ein, dann nahm sie Tuccas Hand und gab ihm seinen Becher hinein. "Hier, bitte. Du hältst mich nicht auf, keine Sorge. Ich habe eben ein verspätetes Saturnaliengeschenk eingepackt, für meinen Stiefsohn", erzählte sie und setzte sich ebenfalls. "Ach, zu Antonia und dem kleinen Minor willst du? Du wirst sehen, ähm.. merken, was er für ein kluger Junge ist. Ganz wie sein Vater." Epicharis errötete ein wenig, seufzte dann. "Entschuldige bitte... Ich bin nicht gewöhnt, mit jemandem zu reden, der nicht sehen kann", gab sie zerknirscht zu.

  • Tuktuk führte mich und zog schließlich meine Hand ein Stück nach unten, so dass ich die Sitzfläche fühlen konnte. Sie lag tief und war mit weichem Polster überzogen, weshalb ich auf eine Klinengruppe schloss, wie sie vermutlich in jedem Atrium Roms zu finden war. Ich setzte mich und fühlte ein wenig nach links, rechts und hinter mich, um die Dimension auszuloten, ehe ich auf Epicharis' Bemerkung Bezug nahm.


    "Im Gegenteil, Ravenna ist für mich weitaus lebhafter. Dort kennt jeder jeden und die Gesellschaften wechseln von einer Villa in die nächste." Das bezog sich natürlich vorwiegend auf Adel und Emporkömmlinge. "Wenn ich nicht selbst ein Gastmahl in meiner Villa ausrichte, dann bin ich irgendwo eingeladen. Oder aber ich ziehe durch die Stadt, dort kenne ich jede Ecke und finde mich allein zurecht." Ein bisschen wehmütig war ich wohl schon. Vor allem vermisste ich die Eigenständigkeit, die mir mein Zuhause bot. "Hier in Rom ist alles anders. Aber vielleicht dauert es auch einfach nur länger, bis man sich hier auskennt."
    Bei mir dauerte es sowieso unendlich lange, bis ich einen Weg so genau kannte, um ihn alleine zu gehen. In meinem Zuhause war es nicht schwer, denn eine Villa bietet nicht allzu viel unerwartetes. Draußen dagegen ist es ein ziemlich großer Akt der Selbstüberwindung. Ohne Tuktuk verunsicherte mich in der ersten Zeit jede Bodenunebenheit, ich hatte Schwierigkeiten, mich auf alles gleichzeitig zu konzentrieren. Am liebsten erforschte ich neue Wege daher bei Nacht, denn normalerweise fielen dann zumindest die störenden Passanten weg und mir war es immerhin egal, ob es hell oder dunkel war. Leider war dies in Rom keine gute Idee, wie ich schon bei meinem ersten nächtlichen Ausflug (in Tuktuks Begleitung) festgestellt hatte. Nachts durften in Rom Pferdewägen fahren und die waren weitaus schlimmer als Fußgänger und Sänften.


    Epicharis schien nicht sonderlich betrübt zu sein, dass sie die Familie auch rechtlich gewechselt hatte. Der Gedanke war für mich irgendwie befremdlich, ich konnte mir nicht vorstellen, wie das war. Natürlich hörte ihre claudische Familie nicht einfach auf, ihre Familie zu sein, und genauso würde es vermutlich dauern, bis die flavische Familie für sie eine echte Familie sein würde (wenn das überhaupt je geschah). Doch sie war zudem in die Gewalt eines ihr fremden Mannes übergeben worden. Obwohl es natürlich denkbar war, dass Flavius Aristides ein guter Freund Menecrates' und damit nicht wirklich fremd für sie war, war das eher unwahrscheinlich. Römische Ehen funktionierten meist nach den Prinzipien der Politik, selten, und wenn dann eher beiläufig, nach denen der Freundschaft. Da mir das Thema ein wenig unangenehm war, ging ich jedoch nicht weiter darauf ein, dazu kannte ich Epicharis zu wenig.


    Es überraschte mich, dass Epicharis mir selbst den Becher reichte. "Danke sehr!" Ihre Hand war kühl, vielleicht vom Griff um die Becher, und ihr Griff zart. Ihre Stimme und die Art, wie sie sich bewegte, ließen auf eine kleine, schmale Person schließen. Ihre Gewänder raschelten nur sehr leise um ihre Knie herum wenn sie ging, sie gestikulierte nicht viel (vielleicht wenn sie aufgebracht war) und sie hatte nur einen sehr zarten Hauch nach Parfum an sich. Wäre ihre Stimme nicht ab und zu ein wenig zu hoch empor geklettert, wäre sie fast unscheinbar gewesen.


    Als sich sich korrigierte, musste ich leicht schmunzeln. Die nachfolgende Entschuldigung ließ sie ihrem Vater ähnlich werden, denn auch Menecrates hatte bei unserer ersten Begegnung in Rom seine Mühe mit dem Umgang mit mir gehabt. Das Schmunzeln auf meinen Lippen wandelte sich zu einem unbeschwerten Lächeln.
    "Du brauchst dich wirklich nicht zu entschuldigen. Ich glaube nicht, dass es so unterschiedlich ist zu einer 'sehenden' Unterhaltung, allerdings kann ich das natürlich nicht zweifelsfrei beurteilen. Du musst dir nur einfach darüber klar sein, dass du alles aussprechen musst, was du mir mitteilen willst, denn die meiste nonverbale Kommunikation geht an mir spurlos vorüber. Außerdem ist es für mich in größeren Gruppen hilfreich, wenn man mich mit dem Namen anspricht, wenn man ein Gespräch mit mir beginnt. Ansonsten kann es durchaus passieren, dass meine Aufmerksamkeit gerade irgendwo ganz anders ist, und ich gar nicht zuhöre. Mehr gibt es eigentlich nicht zu beachten, aber wenn du noch Fragen hast, dann stelle sie einfach ganz offen. Dieses Leben ist für mich weitaus einfacher und bei weitem nicht so furchtbar, wie viele Menschen zu glauben scheinen."
    Anstrengend, das war es manchmal, und manchmal auch frustrierend, aber ich habe meine Blindheit niemals als Katastrophe angesehen, die mein ganzes Leben in etwas Grauenhaftes verwandelte. Die Welt besteht aus so viel mehr als man sehen kann.

  • Heimlich, still und leise – so heimlich, still und leise es mit einem vor sich hinbrabbelnden Säugling eben möglich war – näherte sich endlich auch Antonia dem Atrium. Nachdem auch längere Überlegungen keinen Römer namens ‚Tocktock‘ zu Tage förderten, musste der Sklave sich offenbar verhört haben oder schlicht und ergreifend unfähig sein. Hilfreich wandte Pallas schließlich ein, dass es sich eventuell um ihren Vetter Tucca handeln konnte, der zumindest lautmalerisch so ähnlich klang wie Tocktock.
    Das schien einleuchtend und so hatte die Claudia samt Mini-Flavius ihr Cubiculum verlassen, um den Verwandten zu begrüßen. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass Tucca wohl nicht gänzlich sich selbst überlassen worden war und Epicharis sich zu ihm gesellt hatte.
    „Salve Tucca.“, übertönte letztlich Antonias Stimme das ‚Mnagnama‘ Minors. „Wie schön, dass du es einrichten konntest. Salve Epicharis. Ich hoffe ihr musstet nicht zu lange auf mich warten?“
    Lächelnd trat sie an die Sitzgruppe heran und ließ sich ein wenig ungelenk nieder, da der Knirps hin und wieder doch ein wenig hinderlich in der freien Bewegung war. Wenigstens, so tröstete sie sich, konnte der Claudius es nicht sehen. “Oh, darf ich vorstellen: Nero Claudius Tucca, der junge Herr, der so beständig plappert ist Manius Flavius Gracchus Minor, dein.. hm.. Vetter zweiten Grades.. glaube ich. Oder ist das nun ein Neffe zweiten Grades?“
    Nachdenklich sah sie zwischen Tucca und Epicharis hin und her, während Gracchus Minor, gänzlich unbeeindruckt von der Verwandschaftsbeziehung, einen grellen Quietscher von sich gab, der seine Mutter zusammenzucken ließ. Peinlich berührt räusperte die Claudia sich vernehmlich, um sich wieder an den Besucher zu wenden. “Wie geht es denn in der Villa Claudia? Ist das Leben, nun, da wir Epicharis an uns gerissen haben, öde und trostlos?“
    Der Tonfall verriet bereits den Schalk in Antonias Worten, selbst wenn man das schelmische Schmunzeln nicht sehen konnte.

  • Wie der Sklave seinem Herren die Augen ersetzte, war ein faszinierendes Schauspiel. Epicharis verfolgte jede Bewegung mit großer Aufmerksamkeit, und sie war beinahe froh darum, dass Tucca diese Unhöflichkeit nicht bemerken konnte. Wieder kam sie zu dem Schluss, dass der Claudier aufgeschmissen war, wenn sein Sklave nicht zugegen war. "Rom ist groß. Es gibt selbst heute noch für mich Orte, an denen ich noch nicht war. Und damit meine ich nicht nur die Subura. Vermutlich ist die Stadt einfach zu groß", erwiderte sie auf Tuccas Widerspruch hin. "Aber Rom ist auch unpersönlich und unhöflich. Ich stelle das immer wieder fest. Wenn die Leute nicht gleich wissen, mit wem sie es zu tun haben, sind viele einfach unmöglich. Sobald du ihnen dann deinen Namen verrätst, sieht es ganz anders aus. Sie katzbuckeln um die Wette, sobald sie erfahren, dass du aus gutem Hause stammst. Seitdem ich eine Flavia bin, ist das sogar noch ein wenig schlimmer geworden - und mein Mann ist noch nicht einmal Senator - obwohl es natürlich nach wie vor auch das Gegenteil gibt." Epicharis zuckte mit den Schultern und seufzte leise. Erst neulich hatte sie einen ungehobelten Mann im Gebäude der Acta empfangen und ihm bei seinen Inseraten geholfen.


    Epicharis betrachtete Tucca aufmerksam. Seine Lider hielt er nicht geschlossen, er blinzelte ab und an. Und doch sah er nichts. Ein wenig drehte er den Kopf seitlich in ihre Richtung, vermutlich, um sich besser auf das Gesagte konzentrieren zu können, überlegte sie. Jemand hatte ihr einmal erzählt, dass sich die anderen Sinne schärften, wenn einer ausfiel. Ob das stimmte? Epicharis blinzelte, sah Tucca dann ein wenig zerknirscht an. Es gab wirklich etwas, das sie gern wissen wollte, aber wäre es nicht unhöflich, das zu fragen? "Ich gebe mir Mühe", versicherte sie ihm. "Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen wie es für dich sein muss... Konntest du denn früher sehen?" fragte sie ihn, als ein Kindergebrabbel um die Ecke bog. "Antonia kommt gerade", bemerkte Epicharis unnötigerweise, denn hören konnte Tucca sicherlich gut, und der kleine Gracchus war nun einmal nur schwerlich zu überhören. "Salve Antonia...und salve keiner Mann", sagte Epicharis und wackelte zum Gruß an Minors Fuß. Ein Kichern folgte, als die Ex-Claudia Antonias gut gelaunte Worte vernahm. Amüsiert begann sie, dem kleinen Flavius Grimassen zu schneiden.

  • Auch ohne Epicharis' Hinweis hätte ich Antonias Ankunft kaum überhören können, oder eher die ihres Sohnes.


    "Salve, Antonia! Aber nein, wir mussten keineswegs lange warten, wir haben gerade erst Platz genommen." Lange war es wirklich nicht gewesen, obwohl ich das natürlich auch nicht gesagt hätte, wenn es so gewesen wäre. Man(n) drängte Frauen nicht zu Eile und man(n) tadelte sie nicht für Verspätungen.
    "Und es freut mich sehr, dich kennen zu lernen, Manius Flavius Gracchus Minor, egal ob nun Vetter oder Neffe." So genau nahm ich es sowieso nicht. Der Junge anscheinend auch nicht, denn er brabbelte und quietschte munter weiter vor sich hin und schien sich an der Umgebung überhaupt nicht zu stören. Minor war anscheinend weitaus redseliger als sein Vater.


    "Öde und trostlos ist gar kein Ausdruck. Ich erzählte es Epicharis gerade schon, in Ravenna ist weitaus mehr los als in der Villa Claudia zu Rom. Aber du hast natürlich Recht, verwunderlich ist das nicht. Wir tragen tiefe Trauer über unseren großen Verlust." Ich grinste etwa in die Richtung, in der Epicharis saß. "Im übrigen hat Epicharis eben indirekt behauptet, die Flavier wären angesehener als die Claudier. Oder mag die gesteigerte Katzbuckelei eher daran liegen, dass du nun eine verheiratete Frau bist, Epicharis?" Mein Kopf wackelte ein bisschen hin und her, eine Mischung zwischen Kopfschütteln, Nicken und Wippen, die alles oder auch nichts bedeuten konnte, und der ich mir nicht einmal wirklich bewusst war. "Ja, das muss es sein. Immerhin haben wir Claudier schon Kaiser gestellt, da haben die Flavier noch mit ihren Holzsoldaten im Sandkasten gespielt."
    Über die Familie ging nichts und eine Beleidigung in diese Richtung konnte sowohl bei uns Claudiern, wie auch sicher bei den Flaviern zu rabiaten Auseinandersetzungen und tiefgehenden Feindschaften führen. In etwa gleichrangigen Kreisen allerdings waren kleine Foppereien erlaubt und innerhalb der Familie sowieso (obwohl wir Claudier natürlich trotzdem älter, vornehmer, patrizischer, einfach besser als die Flavier blieben).


    "Um auf deine Frage zurück zu kommen, Epicharis, ich konnte früher sehen", beantwortete ich danach die noch im Raum stehende Frage. "Mit acht Jahren hatte ich ein Fieber, danach war alles nur noch dunkel. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, was ich davor gesehen habe. Manchmal sind es Bilder, denen ich nicht einmal einen Begriff zuordnen kann. Bei anderen bin ich mir nicht einmal sicher, ob diese visuellen Erinnerungen tatsächlich reale Bilder sind oder nur so, wie ich mir vorstelle, dass es sein müsste, zu sehen. Aber es macht vermutlich sowieso keinen Unterschied." Genau genommen konnte ich mir einfach nicht vorstellen, wie es sein musste, zu sehen.

  • Nicht allein Klein-Manius gluckste, als er die gesichtlichen Entgleisungen der Flavia bestaunte, auch Antonia konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenngleich der Junge seinen für ihn noch fremden ‚Onkel‘ mit der üblichen Portion Vorsicht betrachtete, die dem Kind zu Eigen sein schienen. Oder aber Antonias Bemutterungsanfälle hatten eine nachhaltige Wirkung auf den Flavius gehabt.
    “Tatsächlich?“, erwiderte die Claudia erstaunt. Dass die verbliebenen Claudier in Rom die Ruhe vorzuziehen schienen hatte sie bereits bei der Hochzeit gehört, dass jedoch in einem ‚Kaff‘ in Antonias Augen mehr Leben sein sollte war ein wahres Armutszeugnis, wie sie fand. Letztlich war jene Feststellung schnell wieder vergessen, denn die Äußerung bezüglich im Sand spielender Flavier war, verbunden mit den lebenden Flaviern, einfach zu amüsant, um nicht herzlich darüber zu lachen. Der junge Gracchus, der durch die Lachsalve seiner Mutter ein wenig ins Schaukeln geriet, vergaß ob dessen für einen Moment die Grimassen der Tante und gab einen Laut des Unmuts von sich.
    “Nunja, nehmen wir einfach an, dass die erhöhte Katzbuckelei die Verbindung beider Familien zur Ursache hat. Die Mischung von claudischem Blut und flavischem Namen ist ehrfurchtgebietend genug.“ Denn schließlich war auch ihr Sohn eine Mischung aus Claudier und Flavier. Eine Mischung, die edler nicht sein konnte, nach Antonias Auffassung.


    Wie Tucca erblindete hatte auch die Claudia bislang nicht gewusst und schlicht angenommen, dass er bereits blind auf die Welt gekommen war. Dem war offenbar nicht so, was Antonia, gelinde gesagt, in leichte Panik versetzte. Was, wenn Minor eines Tages dergleichen widerfuhr? Was, wenn ihr Sohn ebenfalls einmal blind, taub oder gar stumm wurde? Unbewusst zog sie das Kind ein wenig näher an sich, weg von ihren Knien, hin zu ihrem Körper.

  • Epicharis tauschte einen schmunzelnden Blick mit Antonia aus, als Tucca behauptete, sie hätten sich gerade erst gesetzt. Sie hatte fortan beinahe nur noch Augen für Minor, schnitt ihm Grimassen oder zog die Nase kraus. Epicharis liebte dieses Kind. Und sie hatte das Gefühl, dass der Kleine sie auch mochte. Vom Großteil der Unterhaltung bekam sie nun, da sie sich mehr mit Minor beschäftigte, nicht mehr allzu viel mit. Erst, als sie ihren Namen hörte und damit auch Tuccas Frage, wandte sie sich dem Gespräch wieder zu. "Mh? Oh, das kann natürlich sein, ja, aber ich denke, dass es eher an dem Namen liegt", erwiderte sie. Kaum jemand erinnerte sich schließlich auf der Straße daran, dass sie einmal eine Claudia gewesen war. Viele verbanden den flavischen Namen mit namhaften Kaisern - namhafteren als jene, die die Claudia hervorgebracht hatte. Tuccas Bemerkung bezüglich der Holzsoldaten empfand Epicharis als unnötig. Ein wenig zweifelnd betrachtete sie Tucca, der das glücklicherweise nicht sehen konnte. Dennoch entstand eine kurze, peinliche Pause, wie sie fand.


    Doch schon seine nächsten Worte lösten in ihr wieder das altbekannte Mitgefühl aus. "Das muss schrecklich gewesen sein", sagte sie und fragte sich zugleich, ob Tucca die Ärzte manchmal verfluchte, die ihm nicht hatten helfen können. Minor brabbelte wieder munter vor sich hin, was Epicharis ein wenig ablenkte. Er griff nach dem nachträglichen Geschenk, das sie für Serenus eingepackt hatte. Epicharis nahm es aus seiner Reichweite, was ein unterschwelliges Meckern zur Folge hatte. Die Flavierin erhob sich. "Ihr müsst mich jetzt entschuldigen, ich wollte Lucius noch sein Geschenk bringen. Es war schon peinlich genug, dass ich gar nichts für ihn hatte", entschuldigte sie sich. "Vale Tucca, es war schon, mal wieder mit dir zu sprechen. Auf bald", verabschiedete sie sich und nickte auch Antonia zu, ehe sie die beiden allein ließ.


    Wieder einmal hatte sie gemerkt, wie wenig sie noch mit ihrer alten Familie verband.

  • Antonias offenes Lachen und das Glucksen und Quietschen ihres Sohnes füllten das Atrium mit einer wundervollen familiären Atmosphäre, genau mit derjenigen, die in der Villa Claudia gänzlich fehlte. Einen Moment lang dachte ich daran, dass es mit Lenaea und unserem Kind auch in Ravenna so hätte werden können, doch der Gedanke verflog schnell. Ich kannte auch die unliebsamen Seiten einer Ehe (die ich mit Philonica durchlebt hatte), so dass sich mein Drängen nach einer eigenen Familie doch immer in Grenzen hielt.


    "Ehrfurchtgebietend, das ist wahr. Da dein Sohn nur das beste von beiden Seiten geerbt hat, wird es wohl kaum etwas geben, das ihm nicht gelingen wird." Ich dachte dabei an die Eroberung des Kaiserthrons, sprach das aber nicht aus. Natürlich dachte ich auch nicht an eine gewaltsame Eroberung, eher die 'zufällige' Übernahme nach einer 'unerwarteten', plötzlichen Vakanz, alles andere könnte immerhin in die Kategorie Hochverrat fallen. Doch jede Familie träumte wohl davon, dass eines ihrer Mitglied an der Spitze des Staates landen würde, schließlich waren wir alle nur Römer.


    Kurz darauf schickte sich Epicharis an, uns zu verlassen. Ihre Bemerkung über den Schrecken der Blindheit ignorierte ich geflissentlich. Ich hatte in meinem Leben schon zu viele dieser Bemerkungen gehört, und obwohl die meisten davon tatsächlich ernst gemeint waren, konnten sie weder den wahren Schrecken des Verlustes erfassen, noch das nicht im mindesten schreckliche Leben danach.
    "Vale, Epicharis! Es hat mich ebenfalls sehr gefreut. Bitte richte deinem Ehemann viele Grüße aus."


    Nachdem ihre Schritte im Atrium verklungen waren, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Antonia und Minor zu, genauer gesagt eher Minor, denn dieser war kaum zu überhören.
    "Wo wir gerade bei Geschenken sind ... Tuktuk," Ich hielt den Weinbecher neben mich, dass mein Sklave ihn aus der Hand nehmen konnte und wartete darauf, dass er mir das Geschenk gab. Samtiger Stoff schmiegte sich an meine Haut, doch darunter ließ sich ein harter Gegenstand ertasten.
    "Ich habe es selbst ausgesucht, es ist überaus griffig." Außerdem war es sehr gut gearbeitet, die Kanten waren abgerundet und geschmeidig poliert, die Schuppen waren fühlbar ausgearbeitet und sogar die Augen und die Zähne konnte ich ertasten. Ich beugte mich ein wenig nach vorn zu Antonia und reichte ihr das in den Stoff eingeschlagene, etwa eineinhalb Hand lange Holzkrokodil.

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