Das Meer der Tränen

  • Marduk scherte sich nicht weiter um den Jungen und den Gefesselten, den sie hier unten einfach zurück ließen. Nachdem Tilla aus dem Käfig gekrabbelt war, drehte sich der Hüne zur Leiter um und half ihr und dem Jungen dabei die Sprossen hinauf zu steigen. In Ägypten ist es heiß und es gibt dort Riesenhäuser, die wie Dächer aussehen und die Tote beherbergen? Marduks Mundwinkel zuckten leicht nach oben, was bei anderen schallendes Gelächter bedeutet hätte. "Was du da beschreibst sind Pyramiden und ja, so ungefähr sieht es in Ägypten aus. Aber das wirst du bald alles mit eigenen Augen sehen", meinte er dazu amüsiert klingend und stieg hinter den beiden nach oben an Deck.


    Dort erwartete sie eine sternenklare Nacht, wobei das Licht des Mondes das Firmament hell überstrahlte. Marduk atmete tief durch und blickte eine Zeitlang wortlos nach oben zu den Sternen. Er dachte über diesen brutalen Herrn nach, von dem Tilla gerade erzählt hatte. Zweifellos hätte Marduk den Kerl eigenhändig getötet für das, was dieser dem Mädchen angetan hatte. Ob Neith sehr erzürnt sein würde wenn sie erfuhr, dass die kleine Träne ihre Zunge verloren hatte? Das blieb Marduks einzige Sorge, da alles andere augenscheinlich nach Plan zu verlaufen schien und damit wischte er auch diesen Gedanken wieder beiseite.


    "Das Wetter ist hervorragend und wenn der Wind nicht abflaut, werden wir unser Ziel in etwa neun Tagen erreichen. Und dann ...", wandte sich der Hüne unvermittelte wieder an Tilla und sah ihr tief in die Augen: "Wirst du, kleine Träne, endlich alles über deine Vergangenheit, deine Mutter und dein Schicksal erfahren! ... Bis dahin könnt ihr beide euch auf dem Schiff frei bewegen, spielen, schlafen, essen und trinken, was auch immer … Nur macht mir ja keinen Ärger, sonst ...", wieder deutete Marduk bewusst auf Pumilio und erinnerte mit seiner Geste daran, was passieren würde. Mit diesem stummen Versprechen wandte sich der Hüne grinsend ab.


    Da standen die beiden Kinder nun und blickten in dieser Nacht auf ein Meer, das im Schein des Mondes wie Millionen Tränen funkelte. Trotz allem ein faszinierend schöner Anblick, begleitet von dem sanften Schaukeln des Schiffes auf dem sie ins Ungewisse fuhren.


    Doch schon bald tauchten im Wasser dunkle Schatten auf, die sich - beim näheren Hinsehen - als eine Gruppe Tümmler entpuppte. Dicht unter der Wasseroberfläche dahingleitend, als wollten sie sich mit dem 'hölzernen Ding' ein Wettrennen liefern, begleiteten die anmutigen Tiere das Schiff fortan, wie stumme Beschützer auf einer Reise in ...


    ~ Das Land vor unserer Zeit ~

  • Ihr wurde nach draussen geholfen. Mit offenem Mund nahm sie mit großen Augen staunend den klar blinkende Sternenhimmel und das glitzernde sanft wiegende Meer zur Kenntnis. Beinahe hätte sie Marduks Worte überhört, weil sie derart überwältigt von der Schönheit der Natur vollauf mit Staunen beschäftigt war. Neun Tage auf diesem Schiff bleiben? Frei bewegen, spielen, schlafen, essen und trinken? Dieser Vorschlag hörte sich gut an.. trotz alledem! Tilla klappte den offenen Mund zu, nickte langsam. Der Hüne wandte sich endlich ab.. und sie war seinen Blicken nicht mehr ausgesetzt. Tilla spürte wie Pumillio aufatmete und endlich das Weinen einstellte. Mit vorsichtigen Schritten wankte Tilla zur Reling und blickte aufs dunkle Wasser hinab. Nein, dort sollte Pumillio nicht reingeworfen werden.. das sah ja grauslig dunkel aus! Behutsam legte sie einen Arm um den Rücken des kleinen Jungen und erblickte asbald die Tümmler. Aber.. aber.. diese hellen Leiber! Die kannte sie doch! Das waren Delphine!!


    Stumm seufzte Tilla auf, liess ein paar Tränen vor Freude fliessen und umschlang ihr Tränenamulett mit der Faust. Hektor und die Delphine waren bei ihr.. nicht zu vergessen Pumillio. Unter so wachen Augen würde ihnen gewiss nichts passieren. Sie blieb die ganze Nacht draußen auf Deck, fand ein zusammengerolltes Tau und hockte sich bald zum schlafen mit dem Jungen hinein. Zum ersten Mal seit langem wieder schlief Tilla unter freiem Himmel.. mit einem kleinen Jungen im Arm. Die sanft rollenden Wellen wiegten die Kinder rasch in den Schlaf.


    Die nächsten Tage verbrachte sie mit Erkunden des Schiffes, immer den drohenden Blick Marduks bewusst; fand heraus, wann und wo sie essen und trinken bekam und kümmerte sich um Pumillio, für den sie noch einen Mantel aufstöberte und diesen zu eine Art Tragebeutel umfunktionierte. Dem Jungen bekam der Aufenthalt auf dem Schiff nicht, er erbrach beinahe alles was sie ihm als Nahrung vorsetzte und wirkte aphatisch. Tilla wollte ihn in diesem Zustand keineswegs alleine lassen und schon gar nicht bei Hektor zurücklassen. In anderen Situationen würde sie den seekranken Pumillio Hektor ohne weiteres anvertrauen, aber sie 'durfte' den Bartträger nicht kennen. Wenn sich unbeobachtete Augenblicke ergaben, schlich sie sich zum erwachsenen Mann hinunter, teilte mit ihm ihre karge Ration. Nur der kleine Straßenjunge wurde immer schwächer.


    Tilla war heilfroh als am neunten Tag endlich 'Land in Sicht' gerufen wurde, packte ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich mit einer Brotspende von den schnatternden Tümmlern.

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