Der Abend war schon weiter fortgeschritten. Die Cena war länger vorbei, und auch die anschließende kleine Feier befand sich im Ausklingen – einige der Gäste hatten sich bereits verabschiedet, andere waren wohl gerade im Begriff, es zu tun, während einige wenige, hauptsächlich die Bewohner, noch im Triclinium beisammen saßen. Siv bekam davon nichts mehr mit. Als sich die erste größere Aufbruchstimmung breit gemacht hatte, hatte sie die Gelegenheit genutzt und sich ebenfalls zurückgezogen. Allerdings war sie nicht in ihr Zimmer gegangen. Sie war noch nicht müde, und davon abgesehen wollte sie warten, bis Corvinus sich ebenfalls von der kleinen Feier lösen würde – was frühestens dann passieren würde, wenn die Flavia ging, das war Siv klar. Zum ersten Mal jedoch führten sie ihre Schritte nicht in den Garten oder den Stall, wohin sie sich für gewöhnlich zurückzog – nicht wegen der Kälte, obwohl das in ihrem momentanen Zustand auch eine Rolle spielte, sondern weil dort zu wenig Licht vorhanden war. Stattdessen ging sie zur Exedra, die im hinteren Bereich wenigstens teilweise offen war zum Garten hin, entzündete eine Öllampe, hüllte sich in eine warme Decke und machte es sich auf einer der Klinen bequem, die in einer geschützten Nische stand. Dann griff sie nach dem Buch, das sie von Corvinus bekommen hatte, schlug es auf, blätterte erneut darin herum, betrachtete für Momente einfach nur die Zeichen, die ihr vor wenigen Monaten noch fremd gewesen waren. Selbst jetzt noch waren sie es für sie, bildeten noch keine begreifbaren Zusammenhänge für ihre ungeübten Augen. Sie musste sich anstrengen, sich konzentrieren, damit aus den Symbolen Buchstaben wurden, Worte, schließlich Sätze, damit sie ihr die Geschichte erzählen konnten, die irgendjemand dort niedergeschrieben hatte. Ungeduldig war sie meistens, sie konnte es nicht erwarten, bis endlich der Tag kommen würde, an dem die Zeichen sich von selbst zusammenfügten zu Worten, ohne dass sie sich bewusst darauf konzentrieren musste, an dem sie einfach ein Papyrus zur Hand nehmen und es lesen konnte, ohne nachdenken zu müssen. Cassim hatte ihr versichert, dass es so sei, wenn man wirklich gut lesen konnte. Dass man nicht mehr würde nachdenken müssen, ähnlich wie man nicht nachdenken musste, wenn man lief oder sprach. Sie hatte argumentiert, dass das etwas anderes sei, dass Gehen oder Sprechen etwas war, was Menschen einfach konnten, und Cassim hatte dagegen gehalten, dass dem nicht so war – dass es Dinge seien, die kleine Kinder erst mühsam lernen mussten. Das hatte Siv schließlich überzeugt.
Versonnen strichen ihre Finger über die Seiten und blätterten vorsichtig die einzelnen Seiten um, und schließlich begann sie zu lesen, zunächst flüchtig, hier an einer Stelle, dann blätterte sie wieder weiter, um woanders erneut zu lesen, bis sie schließlich an einer Geschichte hängen blieb, die gleich die Bedeutung mehrerer Sternbilder erklärte: die Geschichte der Andromeda und ihrer Eltern, Cepheus und Cassiopeia, deren Eitelkeit den Zorn der Meergottheiten auf sich zog, und schon bald war sie vertieft darin.
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