"Es gibt nichts Schwereres auf der Welt als offener Freimut
und nichts Leichteres als Schmeichelei."
Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Die Sonne war längst über ihren Zenit geschritten, als meine Sänfte, meine Sklaven und auch der Akteur des nun folgenden Schauspiels den Hof der Villa Flavia erreichten. In den Reihen der Sklaven war es deutlich ruhiger geworden. Das rührige Tratschen der frühen Morgenstunden hatte spätestens im Angesicht des Gekreuzigten ein abruptes Ende gefunden. Die Demonstration der Macht der Flavier über ihre Sklaven hatte bei allen wieder einmal eine einbrennende Wirkung gezeigt. Selbst bei mir hatte der Anblick des Sklaven, der am Kreuz hing, eine Art der Beklemmung hervorgerufen. Ein Schauder lief mir noch jetzt über den Rücken, wenn ich daran denken mußte, wie langwierig und grausam doch diese Todesart war. Doch der Sklave hatte es sich selbst zuzuschreiben. Alle, die sich an dieser lächerlichen Flucht beteiligt hatten, konnten es sich selbst anlasten, was nun mit ihnen geschah. Die Konsequenz der Schuld lag nun einmal in der Sühne. So war es schon immer und so würde es auch bleiben.
Ich hatte es mir nicht leicht gemacht, als ich über Chimerions Sühne entschied. Allerdings hatte ich aber auch von der schwersten Strafe abgesehen. Tief in meinem Innern wußte ich, ich bestrafte mich selbst damit, denn auch ich war nicht frei von Schuld. Viel zu viel, wie es eigentlich erlaubt gewesen wäre, hatte er mir bedeutet, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. Im hinteren Teil des Hofes, an den Stall grenzend, stand es, das gefürchtete Holzkreuz*. Ermahnend und beängstigend. Die Sklaven mieden gerne diesen Ort, denn der Anblick rief ihnen stets ein flaues Gefühl in ihren Mägen hervor. Oft war es ausreichend, ihnen das Bild des Holzkreuzes wieder vor Augen zu führen, um sie zur Raison zu bringen.Das Kreuz, welches mehr an ein X erinnerte, wartete nur darauf, wieder einmal in Gebrauch genommen zu werden. Nur das eingetrocknete Blut, das noch daran haftete, erinnerte an den letzten Unglücklichen, der die Leiden, die ihm die Peitsche zugefügt hatten, ertragen mußte. Einige Sklaven hatten mir eine Kline dorthin getragen, damit ich es bequem hatte, wenn ich Zeuge der Bestrafung meines Sklaven wurde. Ein weiterer war mit einem Sonnenschirm bestückt worden, um mich vor der Sonne zu schützen. Desweiteren hatte ich eine Erfrischung geordert, die mir in Form von verdünntem Wein und eisgekühltem Obst gereicht wurde. Nun konnte es beginnen. Ich gab den Sklaven ein Handzeichen, damit sie den Thraker holten.
* in Anlehnung an Marcus Flavius Aristides Beschreibung des Holzkreuzes in "Hortus | Citius, altius, fortius"