Besuch in Ravenna oder: Wer stirbt schon gerne unter Klippen?

  • Kapitel I – die Ankunft


    Das Erste, woran ich mich in meinem Leben erinnern kann, ist das Lachen meiner Mutter. Wie eine distante Erinnerung ist es nun, doch es ist das einzige aus dem ganzen Gesicht meiner Mutter, das ich noch nicht vergessen habe. Man hat mir gesagt, sie wäre eine schöne, elegante Frau gewesen, mit feinen Gesichtszügen, einem sympathischen Gesicht, dem man ansah, dass die Besitzerin viel lachte. Sie hieß Calpurnia Fausta, eine Frau, die abstammte von der Gens Calpurnia, und zwar aus dem pisonischen Zweig – nicht etwa dem der Caesonini, dem der Bestiae, dem der Bibuli, der Flammae, der Frugines, oder einem anderen Zweig, wie sie immer stolz betonte. Ihr Vater hieß Aulus Calpurnius Piso, nach ihm bin ich benannt. Mein Vater hatte meine Mutter nicht dazu überzeugen können, mich nach ihm selber zu benennen, und so trage ich einen calpurnischen Namen. Eigentlich bin ich stolz auf meinen Namen, welcher eine solch lange Geschichte hat. Auch wenn mein Vater nur zähneknirschend es erlaubt hatte.
    Meine Mutter war die einzige, die meinem Vater zwei Kinder gebar. Mich und Vera. Sie war die Frau, mit der mein Vater am Längsten verheiratet war. Was auch erklärte, warum ich mich noch an meine Mutter erinnere. Ich war noch alt genug, als sie damals verschwand, um mir genug von ihr in mein Gedächtnis zu brennen, um sie jetzt noch vor mir zu sehen. Allerdings ohne ihrem Gesicht – bis auch ihr Lachen.
    Als Vera geboren wurde, beziehungsweise kurz nachher, verließ uns Mutter. Auf immer. Vater erzählte uns, sie ist weggerannt. Nach Britannien, sie ist dort mit einem Ritter durchgebrannt. Fast 20 Jahre später besuchte ich Londinium, wo ein Verwandter meiner Mutter, Mamercus Calpurnius Valens, lebte, ein Onkel 2. Grades von mir. Er nahm mich herzlich auf, wusste aber nichts von meiner Mutter. Wäre sie nach Britannien jemals gekommen, würde er etwas davon wissen, hatte er mir beteuert, er war sich sicher, sie konnte nie nach Britannien gekommen sein. Als ich meinem Vater davon erzählte, lachte dieser. Humbug sei dies, er wüsste, meine Mutter lebt sicher und behütet auf der Insel. Ich habe sie aber nie gefunden, so verzweifelt und lange ich auch gesucht habe.
    Ich habe viel geweint an dem Tag, als Mutter uns verließ. Ich war so sauer auf sie. Ich bin es heute noch. Wir waren kleine Kinder. Wie konnte sie uns im Stich lassen? Sehr lange beschäftigten mich diese Fragen, und ich bin noch immer zu keiner befriedigenden Konklusion gekommen. Dazu die mysteriösen Aussagen meines Onkels Valens. Was hat dies zu bedeuten? Mein Onkel versicherte mir, meine Mutter, hätte ihm sicher eine Nachrciht zukommen lassen. „Fausta hat mir immer vertraut, sie muss wissen, dass ich sie unterstützen würde, wenn ich könnte!“, versicherte er mir in aller Ausdrücklichkeit, die mich beunruhigte. Valens muss sich irren, oder meine Mutter war gar nicht nach Britannien geflohen. Was heißen würde, dass mein Vater sich irrt. Ich bin mir sehr unsicher über diese Sache, weiß nicht, was ich darüber denken soll.
    Meine Mutter hatte, als sie uns verließ, kaum etwas mitgenommen, hatte viele von den Sachen, die ihr besonders viel bedeutet hatten, einfach daheim gelassen, scheinbar ohne sich zu scheren. Und das war nicht der einzelne rätselhafte Umstand, unter dem sie verschwand. Eine alte Nachbarin beteuerte, dass am Abend vor Mutters Flucht etwas seltsames geschehen war. Da hatten meine Eltern zusammen das Haus verlassen, scheinbar in friedvoller Eintracht, nachdem wir, die Kinder, uns schlafen gelegt hatten. Dann aber ging die Nachbarin schlafen. Und was sonst in der Nacht passiert ist, weiß niemand. Ich kann mir keinen Reim machen, die ganzen Puzzlestücke kann ich nicht zusammensetz-------------


    Die Kutsche stoppte mit einem abrupten Halt, und Piso verzog seine Feder. Grantig blickte er auf das Pergament, das vor ihm lag, und auf dass er seine privaten Überlegungen aufgeschrieben hatte. Er atmete tief auf und blickte zu seinem Leibsklaven. „Sind wir schon da?“, fragte er den Kelten mit der hässlichen Nase, Cassivellaunus. „Ja, Herr.“, antwortete der Kleine. "Wir sind in Ravenna, vor der Villa deines Vaters.“ „Na, das kann heiter werden.“, seufzte Piso. Cassivellaunus seufzte ebenfalls, aber nur, weil er aufstehen nun musste und seinem Herrn die Tür aufzuhalten hatte. Piso gähnte kurz, dann stieg er aus.
    Vor sich lag er die Villa seines Vaters liegen. Ein bisschen außerhalb von der Stadtmitte, zusammen mit ein paar anderen Villen, welche ebenfalls hier lagen. Er sah das ravenner Landgut der Aelier direkt neben ihnen, und vor ihnen das der Flavier. Beherzt machte er einige Schritte darauf zu, bevor er stehen blieben. Tief atmete er durch. Mehrere Male. Er schloss seine Augen. Dann öffnete er sie wieder, weit und starr. Er setzte sich wieder in Bewegung. Weit waren seine Schritte, mit denen er sich zur Haustür hinbegab, wo er, noch halb aus dem Schwung des Gehens heraus, anklopfte.

  • Kapitel II - das Gespräch


    „Salve, Vater.“, kam es Piso über die Lippen, als er denjenigen sah. Was ihm als erstes auffiel – Flavius Aetius hatte zugenommen. Sehr zugenommen. Fast so, als hätte er seit Pisos Aufbruch nur noch mehr gegessen, ohne ein einziges mal innezuhalten in einer Orgie von epischen Ausmaß.
    „Aulus!“, dröhnte dem Flavier die Stimme seines Vaters entgegen. „Du besuchst mich! Wie wundersam!“
    Sarkasmus konnte man dem dicken Flavier anhören, der sich auf eine Kline plumpsen ließ. Sie waren nämlich im Triclinium – ein Raum, der sich nicht verändert hatte, seit Piso denken konnte. Die Wandmalereien waren die selben, die Klinen standen an den selben Plätzen, sogar der Dekorationsbronzehund stand noch immer in der Ecke, dämlich mit dem Schwanz, der mit einer Feder an den Rest der Statuette festgemacht war, wackelnd.
    „Das stimmt, ich besuche dich.“, meinte Piso trocken und blickte sich um. Es war wirklich alles beim Alten. „Darf ich mich setzen?“ „Sicher! Setz dich!“ Wieder die dröhnende Stimme. Piso nahm zögerlich Platz. „Also, mein Sohn, wie ist es dir in Rom ergangen? Wie geht es Aristides, den alten Haudegen? Hä?“ „Ihm geht es gut, denke ich einmal...“, meinte Piso vorsichtig, wusste er doch um den manchmal etwas zweifelhaften Gesundheitszustandes seines Vetters Bescheid. „Es hat ihn halt sehr mitgenommen, wie man ihm seine Frau entführt hat...“ „Ah, die! Diese Claudierin! Die! Genau!“, betonte Aetius. „Das war hier, in Ravenna, wo man sie gepackt hat... hier in Ravenna, mhm!“ „Ich weiß, Vater.“, antwortete ein leicht erschöpfter Piso.
    „Ah! Mhm. Und wie geht es ihr jetzt?“ „Keine Ahnung. Sie lebt auf irgendeiner Villa.“ „Ah! Mhm.“, erwiderte Aetius, und pflückte eine Traube vom Rollwägelchen, welches ein Sklave daherschob. Genüsslich zerkaute er sie. „Und du? Wie geht es dir?“ Nun ja... ich arbeite jetzt in der kaiserlichen Kanzlei...“ Aetius blickte auf und starrte seinen Sohn an. „Du? Bei der Kanzlei? Neinneinnein, das kannst du vergessen, nicht bei den Aeliern...“ Doch. Dort arbeite ich. Es macht mir Spaß, ich verdiene gut, und ich stehe kurz davor, befördert zu werden.“, aszertierte Piso, unwirsch, genervt vom engen Blickfeld seines Vaters. Jener blickte kurz erstaunt, dann winkte er ab. „Tu, was du nicht lassen kannst!“, rief er. „Aber du fällst noch auf die Nase, Aulus. Du fällst noch auf die Nase.“ Gleich eine ganze Handvoll Trauben nahm er und schoppte sie sich in den Mund. Geräuschvoll kaute er. Er schluckte und sprach dann weiter. „Wie du es schon immer getan hast. Die Aelier sind ja deine alten Kumpels, nicht wahr? Dieser, wie hieß er, Archias, dieser ungezogene Nachbarslümmel... mit dem bist du immer herumgehangen.“ Bevor Piso ein Wort der Verteidigung seines Freundes sagen konnte, fuhr Aetius fort. „Ach, ich denke mir, hie und da, wie es gewesen wäre, wärst du das Mädchen geworden, und Leontia mein Sohn... aus ihr wäre etwas Gescheites geworden, meiner Seel, was Gescheites!“, betonte er.
    Pisos Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du hast gerade gesagt, ich bin unfähig, und Leontia...“ Genau, sie war was besonderes.“ Im Gegensatz zu mir.“ Aetius blickte erstaunt, dann fing er dröhnend zu lachen an. „Na ja, ich weiß auch nicht. Als ich sie erwischt habe... mit diesem... Gracchus, diesem Schwein, diesem dummen...“ „Sprich nicht so über Gracchus. Er ist ein guter Mann.“, widersprach Piso heftig. „Genau so gut wie dein geliebter Aelius Quarto? Genau, geh dem brav den Hintern ablecken.“, blaffte Aetius heraus, hob die linke Hinternbacke und furzte laut. „Ahhh. Das ist gut. Also, Sohn, willst du in die Politik gehen?“ „Ja, durchaus.“, meinte Piso knapp und blickte mit einem sonderbaren Blick auf seinen Vater. „Tu das nicht!“ Ein väterlicher, wurstiger Zeigefinger rauschte empor. „Geh in die Wirtschaft. Wie ich. Da macht man so ein Vermögen, dass es unglaublich ist. Dann kann man sich noch immer als Duumvir von Ravenna bewerben, das wäre dann toll!“, rief er begeistert aus, und schenkte sich Wein ein. „Du willst doch auch Wein, oder?“ Ein Sklave drückte Piso einen Weinkelch in seine Hände. Vorsichtig trank er draus. „Nein, ich will in die Politik, in Rom.“, meinte er mit fester Stimme. „Ach, du Sturkopf! Du bist mir wie ein rechter Calpurnier, wie deine Mutter!“
    Beim Wort Mutter sackten Pisos Mundwinkel schlagartig nach unten. Selbst Aetius sah, dass er in ein Fettnäpfchen getreten war, und ließ es sein, in diese Richtung weitere Kommentare zu machen. Aetius kaute eine Weile vor sich hin. Dann fragte er: „Wie schaut es bei den Frauen aus?“ „Schlecht.“, antwortete Piso knapp. Er wollte mit seinem Vater nicht über Serrana reden. Es war zu schmerzvoll.
    Bevor Aetius was sagen konnte, öffnete sich plötzlich die Tür. Ein Frauenzimmer schneite herein, kreischte: „Gnaeus!“ und warf sich in Aetius‘ Arme. Jener lachte rustikal auf und umarmte sie stürmisch. Nach einigem an Geknutsche, welches Piso interessiert beobachtete, drehte Aetius die Frau zu Piso hin. „Dies hier ist mein Sohn, Aulus Flavius Piso. Das hier ist Nonia Damasippa, mein Liebchen aus Patavium.“ Kräftig klopfte er ihr auf den Hintern, die Nonierin kreischte vor Lachen. Sie gefiel Piso nicht. Objektiv war sie schon ganz hübsch... aber so vulgär sah sie aus... dick geschminkt, und dann dieses Lachen, welches einem in den Ohren gellte. „Sehr erfreut.“, rang er sich ab, zusammen mit einem Lächeln. „Ganz meinerseits, hihihi!“, kicherte Damasippa ihm zu. „Aulus... wie aufregend...“ Lasziv schwang sie ihr Bein über dies von Aetius, sodass sie nun in der Reiterposition vor ihm saß.
    Aetius lachte. „Hahahaha... nun, Aulus, du wirst uns entschuldigen. Ein Sklave wird dich zu deinem Zimmer führen.“ Ein Riesenkerl, dessen Blick keinen Widerspruch zuließ, baute sich vor ihm auf, ein Thraker. „Du kommen.“, grollte er. Wortlos stand Piso auf, ging durch die Tür, machte sie ohne ein Wort des Abschieds zu, und folgte dem Thraker zu seinem Zimmer.

  • Kapitel III – Im Cubiculum, erster Besucher


    Der Thraker schob sich selber durch die Flure, Piso ging, angespannt, hinter ihm her. Er kannte sich noch aus. Er wusste, wohin er gehen musste, um zu seinem Raum zu kommen, es war kein Sklave notwendig, um ihm den Raum zu zeigen. Entweder dachte Aetius von seinem Sohn so wenig, dass er dachte, jener hätte schon längst vergessen, wo sein Zimmer lag. Oder, kam es Piso in den Sinn, er wollte ihm was verbergen. „Unsinn.“, murmelte er zu sich selber, was den Thraker veranlasste, auf einmal stehen zu bleiben und sich umzusehen nach Piso. Jener starrte mit strengem Blick auf den Sklaven. Geh weiter, du Hornochse, versperr mir nicht den Weg. Mit einem Grunzen bewegte sich der Sklave endlich weiter fort.
    Es waren nur noch wenige Schritte zu seinem alten Cubiculum. Piso schritt diese ab mit einer Art von befriedigtem Schmunzeln auf seinem Gesicht. Trotz allem, wieder zuhause. Der Thraker öffnete die Türe, Piso eilte schnell durch, packte, kaum dass er drinnen war, den Griff, und haute die Türe zu. Endlich in Ruhe. Und er konnte, ganz alleine im Zimmer, sich umblicken.
    Es war alles noch wie früher. Kein Möbel war verrückt worden, keine Gegenstände entfernt oder hinzugefegt worden, genau wie früher. Alles linear streng ausgerichtet, wie es sein Vater immer befohlen hatte. Kein Staubkrümel am Boden. Kein Kram auf dem Schreibtisch, wie daheim in Rom. Daheim, was für ein Wort, nun war es Rom für ihn. Ravenna kam für ihn überhaupt nicht mehr in Frage. Er war nur auf Besuch hier, mehr nichts.
    Nur ein Gegenstand erheiterte die Atmosphäre im Raum, lockerte sie auf. Piso lächelte, als er ihn erblickte. Ein kleines, kitschiges Porzellanstatuettchen von einem Pferd, auf einem Regal oben stehen. Piso ging, an seinem ehemaligen Bett vorbei, an seinem Schreibtisch vorbei, zum Regal hin, wo die Statuette noch immer stand. Er langte hoch und holte das kleine geschmackvolle Pferd hinunter. Fast zärtlich begann er es in seinen Armen hin- und herzuwiegen. „Pferdchen...“, flüsterte er fast schon väterlich...
    ...als es plötzlich anklopfte. Das konnte doch jetzt nicht der Thraker sein! Hastig stellte er die Porzellanstatuette wieder aufs Regal, drehte sich ruckartig herum und rief: „Herein!“
    Herein trat nicht der Thraker, sondern Cleomenes.
    Cleomenes war ein alter Bekannter von Piso. Es war der Schreibersklave des Aetius, welcher ständig um jenen herumschlich, ihm schmeichelte und andere Sklaven verpetzte. Piso mochte ihn nicht, nicht unbedingt wegen seiner schleimischen Eigenschaften, sondern viel eher wegen seiner Art. Er tat so, als ob alle im Haus, Aetius ausgenommen, in einer Form und Weise weniger wert seien als er selber. Dies traf selbst auf die Kinder des Aetius zu, denen Aetius scheinbar weniger traute als Cleomenes. Manchmal schien es Piso fast, als ob Aetius... ja, Angst vor Cleomenes hätte. Als wüsste jener ein dunkles Geheimnis, von dem Aetius auf keinen Fall wollte, dass es an die Öffentlichkeit gelangte. Er schüttelte den dämlichen Gedanken ab. Cleomenes war einfach ein intriganter Misthaufen, der wohl jedem Angst einflösste. Es war einfach so, dass er verlässlich und loyal war wie kein anderer. Aetius gegenüber, hieß das.
    „Der Sohn des Hauses ist zurückgekehrt.“, meinte Cleomenes ohne ein Wort des Grußes. „Dein Vater hat mich geschickt, um zu fragen, ob alles bestens sei.„Salve, Sklave.“, antwortete Piso giftig. „Alles war bestens bei mir, bis ich deine Fresse gesehen habe. Jetzt windet sich mein Magen herum. Du hast doch sicher einen Kotzkübel mitgebracht?“ Die Beleidigung rang Cleomenes nur ein Lächeln ab. „Meinst du wirklich, du kannst mich so treffen, Herr Piso?“ Das Herr ließ er nie weg. „Du warst schon immer so, hast mir Beleidigungen an den Kopf geworfen, hirnlose Angriffe auf mich geritten, ohne je erfolgreich zu sein...“ Pisos Augen verengten sich. „Wie wagst du es, mit mir zu sprechen!“ „So, wie ich es für angemessen halte.“, lächelte Cleomenes. „Seit du weg bist, verbringe ich angenehme Nächte. Niemand singt mehr hier schräg, niemand gröhlt sinnlos herum. Es ist wundervoll.“ „Was hast du gesagt?“, fragte Piso agressiv, wohl wissend, dass er Cleomenes dadurch nicht einschüchterte. „Ich sage dir, dass du ein so miserabler Sänger bist, dass ich mich gewunden habe vor entsetzen, als ich gehört habe, du kommst hierher.“ So wie du dich immer windest, du Wurm.“ Cleomenes überhörte die Bemerkung. „Wieso bildest du dir eigentlich ein, ein guter Sänger zu sein, wenn es offensichtlich ist, dass dem nicht so ist? Du hast die Stimme und das Talent geerbt von deinem Vater.“ Cleomenes begann, schulmeisterhaft in Pisos Zimmer herumzuschreiten. „Dein Vater singt grässlich. Er wieß dies auch. Wenn er betrunken ist – immer häufiger dieser Tage – sitzt er herum und lallt Lieder. Es ist schlimm, fast übler als du, Herr Piso.“ Er erreichte das Bett und drehte sich abrupt herum, um in die andere Richtung loszumarschieren. „Deine Mutter hingegen, sie sang zauberhaft. Und konnte die Lyra spielen wie keine andere. Ich erinnere mich noch. Ein junger Kerl war ich damals. Heute bin ich alt. Aber ich höre ihre Stimme noch. Ein wundervoller Sopran, ja, er durchklang das Haus... so wunderschön...“ Piso machte einen Satz auf dem mann zu und packte ihm am Arm. „Was weißt du schon von Schönheit, was weißt du schon von Ästhetik, Sklave! Du nichtiges Geschöpf, du elender Drecksack! Was weißt du von diesen Sachen.“ Unbeeindruckt vom festen Griff, wandte der Alte sich Piso zu. „Ich weiß viel davon. Auch von deiner Mutter. Sie war sehr interessiert darin. Einen großen Kunstsinn hatte sie.“ Piso wusste dies. Ständig hatte man es ihm erzählt.
    „Es ist deswegen, oder?“ „Was? Ich verstehe nicht.“, grollte Piso, übel aufgelegt. „Deshalb widmest du dein Leben den schönen Künsten. Du willst deiner Mutter nacheifern.“
    In Pisos Augen wich der Groll dem Erstaunen, dann der Wut. „Du kommst daher und stellst Hypothesen auf, du...“ „Ich stelle nichts auf, ich konstatiere die Wahrheit!“, gab Cleomenes barsch zurück. „Du hast kein Talent, für nichts musisches, nichts musikalisches, nichts, was mit Ästhetik zu tun hat. Wie dein Vater, Herr Piso, wie dein Vater. Deine Mutter verstand was davon. Sie war gut darin, es war ihr Lebensinhalt, sich den schönen Künsten zu widmen. Nichts von ihrem talent hast du geerbt. Nur den Drang zur Ästhetik, zur Musik, hin. Nur dies, Herr Piso. Und dies hast du auch nur begonnen, als man dir erzählt hatte, was für ein mensch deine Mutter war. Denn du wolltest nicht so sein wie dein Vater. Du brauchtest ein anderes Identifikationsbild. Ein Semifiktives, welches du kaum kanntest. Calpurnia Fausta. Ihr eiferst du nach im Leben, nicht deinem Vater. Du veachtest deinen Vater, nicht wahr? Das stimmt doch.“
    Piso hielt dies nicht länger aus. Auf seiner Stirn war seine Ader geschwollen, seine Augen rot unterlaufen. „Raus hier. Sofort, du alter blöder Mann. Raus hier.“ Cleomenes nickte nur mit einem spöttischen Grinsen und verschwand hastig durch die Tür.
    Davor blieb Piso alleine stehen, ins Leere starrend. Nach einiger Zeit setzte er sich hin, auf den rand seines Bettes, noch immer herumstarrend. Denn eines wusste er, tief in sich drinnen. Cleomenes hatte recht.
    In allem, was er gesagt hatte, hatte er recht gehabt.

  • Kapitel IV – im Cubiculum, zweiter Besucher


    Noch immer in jener Position saß er auf dem Bett, grübelnd seine Stirn auf seine Hand aufstützend, da klopfte es abermals.
    Schon wieder. Piso wollte niemanden hereinlassen. Nicht jetzt, da er mit sich selber beschäftigt war. Er hatte einiges zu verdauen. Cleomenes, dieser Schuft, dieser elende *zensiert*. Was hatte Piso ihm jemals getan? Nun, einiges, wenn er daran dachte, wie er einst mit Archias unter die Decke seines Bettes Würmer ausgestreut hatten... oder wie sie ihm in die Schuhe gepinkelt hatten... oder wie sie ihm im Schlaf die Haare angezündet hatten. Aber das war doch schon so lange her! War er Piso deshalb noch immer sauer? Offenbar. Aber er glaubte nicht, dass das gehässige Verhalten des Cleomenes rein auf Rachelust zurückzuführen war. Nein, vielmehr war es eine Eigenschaft, eine hässliche, miese Eigenschaft, welche im Sklaven tief drinnen schlummerte. Wie er ihn hasste, wie er ihn hasste! Weil er ihm erbarmungslos den Spiegel vorhiel. Aus diesem Grund hasste Piso ihn.
    Wieder klopfte es. Unwillig drehte sich der Flavier herum und starrte zur Türe hin. Dann murrte er, grimmig: „Herein!“
    Die Tür ging auf, und durch sie trat eine Frau um die 50 oder 60, zwischen jenen Altersstufen, die man „reif“ und „fortgeschritten“ im noblen Sprachgebrauch nannte. Eine Sklavin. Sie trug einen Korb voller Früchte vor sich hin und lächelte Piso gütig zu. Piso hatte sie schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Dch er erkannte sie sofoert wieder. „Mutter Sophonisba!“, rief er aus und stand sofort auf. Wie hätte er sich der Sklavin nicht entsinnen können? Sie war natürlich keine Punierin, sondern entstammte der flavischen Sklavenzucht, welche allen Sklaven und Sklavinnen karthagische Namen verlieh. Sie war eine der Älteren unter den Sklavinnen in der flavischen Villa zu Ravenna, und ohne Frage die mütterlichste und gütigste von allen. „Piso, mein Junge.“, begrüßte sie ihn herzlich, stellte den Korb ab und fasste ihn an die Schulter. „Ich habe gehört, du stattest uns wieder mal einen Besuch ab. So gefreut habe ich mich, als du gekommen bist! Hier, ein Korb voller Marillen. Die magst du doch so gerne.“ Sie griff zum korb hin, hob ihn hoch und hielt die Aprikosen unter Pisos Nase. Dieser sog glücklich den Duft ein. Hmmmm! Wie gut roch das doch. „Danke, Sophonisba!“, meinte er und lächelte sie selig an. „Du bist die Beste.“
    Sie war es immer schon gewesen. Sein Mutter-Ersatz. Da seine Mutter seit ihrem Verschwinden nicht mehr für sie sorgen konnte, war sie ihm immer das gewesen, was seine Mutter nicht hatte sein können. Selbstredend war Piso nie damit hausieren gegangen, dass er von einer Sklavin aufgezogen worden war. Aber Aetius war überfordert mit der Erziehung seines Sohnes gewesen, so hatte er ihn an Sophonisba abgeschoben.
    Piso nahm eine Marille aus dem Korb und verschlang sie. Den Kern legte er in den Korb zurück. „Die schind ja köschtlisch!“, meinte er kauend. Er schluckte und gab der Sklavin einen leichten Kuss auf die linke Wange. Nur gut, dass niemand dies sehen konnte. In der Öffentlichkeit würde er dies nie machen.
    „Setz dich doch und nimm Platz!“ Die Sklavin tat dies, den Korb abstellend und sich auf die bettkante setzend. Piso setzte sich neben ihr hin. „Siehst du, da? Die Porzellanfigur?“ Er zeigte auf eben jene. „Sie ist noch da.“ „Ja, ich weiß...“, entgegnete Sophonisba fröhlich. „Ich habe mich dafür eingesetzt, dass sie nicht entfernt wird.“ Piso lächelte dankbar. „Ich kann mich noch erinnern, wie du mir damals das Porzellanfigürchen geschenkt hast.“ Niemals hatte die Sklavin ihm erzählt, wie sie daran gekommen war, doch Piso war sofort wie verzaubert gewesen von jenem kitschigen Geschenk. Schon alleine, weil es ein Geschenk war. Ein Zeichen von Liebe. Von Aufmerksamkeit. Seit jenem Zeitpunkt an liebte er Porzellanstatuetten. Je kitschiger, desto besser.„Ich habe schon eine große Sammlung davon in Rom. Wenn du magst, kannst du kommen, und sie ansehen.“, lud Piso sie ein, bevor es ihm siedend heiß einfiel, dass sie das ja nicht durfte. Sie war ja Sklavin. Er fügte schnell hinzu: „Ich werde mit meinem Vater darüber reden, wenn du willst.“ Er wollte die Angelegenheit schließlich nicht ins Lächerliche rutschen lassen.
    Sie lachte nur. „Mal sehen. Du kannst es ja später noch immer machen.“ Piso nickte ein wenig bedröselt. „Sicher.“, bestätigte er ihre Worte, während seine Gedanken wieder abschweiften. Sein Vater hatte ihm gegenüber immer betont, dass in seinem Zimmer eine Ordnung zu herrschen hatte, und Zeug nicht herumzuliegen hatte. Ein Gebot, welches er immer gehasst hatte, und vermittelst seines unordentlichen Schreibtisches zuhause immer zu umgehen suchte.
    Doch eine Ausnahme hatte es gegeben. Das Porzellanpferdchen. Sein Vater hatte ihn immer dazu angehalten, Ornung zu halten, nichts in seinem Zimmer zu haben, es steril zu halten. Doch bei der prozellanfigur hatte er eine Ausnahme gemacht. Fast, als hätte er sich davor gefürchtet, das Pferd anzugreifen, hatte es Piso doch nur wenig nach dem Verschwinden seiner Mutter bekommen.
    Piso lächelte der Sklavin, welche wie eine Mutter gewesen war für ihn, nochmals zu, dann begann er ihr alles zu erzählen, der Reihe nach, wie es ihm in Rom ergangen war. Wie er dort angekommen war. Von der Familie in Rom. Gracchus, Aristides, Furianus, Celerina. Die denkwürdige Hochzeit von Corvinus und Celerina. Von Decima Serrana erzählte er viel. Auch von seinen neuen Freunden und Verbündeten in Rom. Von seiner Arbeit, und wie er sie bekommen hatte. Von seinen Zukunftsaussichten. „Ich will Senator werden. Und zuerst eine ritterliche Arbeit bekommen. Ich brauche noch einen Patron. Aber den werde ich sicher finden. Ich glaube, ich werde meinen Freund, Gaius Sulpicius Galba, fragen, was er davon hält. Und wen er vorschlägt.“, vertraute Piso der älteren Sklavin an. Diese nickte. „Du hast dir viel vorgenommen. Aber ich bin mir sicher, du schaffst es.“ Sie klopfte ihm sanft auf die Schulter. „Wie ist es dir ergangen, Sophonisba?“, fragte er, sich eine Aprikose nehmend und jene kauend. Jene zuckte die Schultern. „Es ist halt das Übliche. Arbeit, Arbeit, ncihts als Arbeit. Deprimierend, Piso, deprimierend. Es ist halt so.“ Sie lächelte schwach.
    „Aber ich muss jetzt gehen. Viel Arbeit wartet noch auf mich. Weißt du was? Geh in die Thermen. Dein Vater hat sie gerade renovieren lassen, und sie sind jetzt absolut prächtig. Ich sage dir, solche Thermen siehst du sonst in ganz Rom nicht. Geh sie dir anschauen.“, legte sie ihm nahe, bevor sie sich erhob. „Den Korb lasse ich dir hier. Und hoffe, du hast noch einen guten Appetit. Wir sehen uns dann später.“, meinte sie, bevor sie: „Vale.“, sagte und das Zimmer verließ.
    Piso rief ebenfalls noch ein „Vale!“, bevor er sich zurücksacken ließ auf das Bett. Gute alte Sophonisba! Gut, dass es sie gab... er nahm gedankenverloren eine Frucht aus dem Korb und biss ab. Wie köstlich. Es war kaum zu vergleichen mit dem elenden Geschluder, das man immer in Rom bekam! Ganz und gar nicht. Welch Genuss...

  • Kapitel V – in den Thermen


    Die privaten Thermen des Flavius Aetius. Sie waren in einem Anbau an die Villa angebracht. Als Piso ein Kind war, waren sie noch nicht dort gewesen. Es hatte ein Becken gegeben, in einem anderen Teil des Hauses, der nun als Sklavenunterkunft genutzt wurde. Es war weder sonderlich groß noch sauber gewesen. Was sich aber hier vor ihm erstreckte, als er die Türe zur Therme aufmachte, war der Luxus pur. Piso sog tief den Duft des vor ihm dampfenden Bades ein. Welch Genuss! Es roch nach... er konnte den Geruch nicht einordnen, irgendein Gewürz. Er schritt durch die Tür und machte sie eilends zu, nicht, dass noch Wärme entwich. Die Thermen waren in einem massiven, gut isolierendem Bau, und es wäre dunkel gewesen, hätten nicht überall Fackeln geflackert. Er ging auf das warme Becken zu und grinste hinein – er war durchaus erfreut. Einmal eine sinnige Investition seines Vaters.
    Piso sah sich um. Er war komplett alleine. Das war gut. Er zog seine Sachen aus, bis er nackt vor dem Becken stand. Mit einem Hüpfer plantschte er in das Becken hinein. Es war so angenehm, dass es nicht in Worte zu fassen war.
    So warm, so schön, so bequem! Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Er lehnte sich entspannt zurück und seufzte selig, erst einmal gar nichts denkend, an gar nichts.
    Auf einmal knarzte die Türe. Piso blickte unwillig hin. Wer konnte das sein?
    Es war Damasippa, das Luder, mit dem es Aetius trieb. Sie war vielleicht 2 oder 3 Jahre jünger als Piso, und kicherte, als sie ihn sah.
    „Oh! Piso!“, meinte sie und lächelte ihn an. „Du hier! Eigentlich wollte ich ins Bad. Aber das macht ja nichts! Ich kann sicher zu dir hinein!“ Piso blickte verdattert hinauf. „Äh... öh, klar, sicher, wieso nicht, es sind ja nicht die öffentlichen Thermen... und so...“ Bevor er noch geendet hatte, ließ Damasippa ihre Hüllen fallen. Piso staunte nicht schlecht, als er ihre weiblichen Formen sah. Sein Vater hatte Geschmack, das musste man ihm lassen.
    Sie hüpfte behände in das Bad hinein, neben den jungen Patrizier, der das Spektakel beäugte. Prustend tauchte sie neben ihm auf, und setzte sich neben ihn hin. „Ich kann dich doch Aulus nennen, oder?“, fragte sie ihn, ihn mit großen Augen anschauend. Piso zuckte mit den Achseln. „Sicher.“, brachte er hervor. „Ach, wie schön! Aulus, stell dir vor! Dein Vater ist solch ein wundervoller Mensch!“ Piso brummte nur. „Und ich dachte mir, du solltest es erfahren!“ Was kitzelte denn da so an seinen Beinen? Die Nonierin stieß wohl mit ihren Beinen an die seinen. War das Zufall oder...
    „Wir werden heiraten! Ich werde deine Stiefmutter!“ „Huch, was... wie?“, fragte er erstaunt und blickte sie an. Sein Vater wollte... was? Eine Nonierin? Aus unbekanntem, plebejischem Geschlechte? Piso konnte sich das nicht wirklich vorstellen. Unwillkürlich schoss ihm ein Gedanken in den Kopf. Aetius hatte schon viele Liebhaberinnen gehabt, hauptsächlich Sklavinnen. Diese hatte er dann immer verkauft, oder sie waren ihm abgehauen, hatte er gegenüber Piso immer wieder gesagt. Und Leontia war hie und da daneben gestanden. Und hatte gegrinst. Wieso, hatte sich Piso immer gefragt, wieso dieses blöde Grinsen? Na ja, so war sie halt gewesen. Man hatte immer das Gefühl gehabt, Piso zumindest, dass sie ihn aufzog, dass ihr Vater sie in Dinge einweihte, die er sonst keinem erzählte. Was Gracchus und Aristides immer an ihr gefunden hatten, war ihm unerklärlich.
    Die Stimme der Nonierin drang ihm wieder ans Ohr. „Doch! Das hast du gehört! Da habe ich gedacht, wir sollten uns vielleicht ein bisschen besser... kennen lernen.“ Sie strich ihm mit der rechten Hand über den linken Arm. Das war jetzt wohl ein schlechter Witz, dachte Piso. Das war jetzt nicht real. Das ist jetzt gar nichts, was man beachten sollte.
    Das Blöde daran war, von diesem Sachverhalt war seine Männlichkeit weiter unten nicht so leicht zu überzeugen. Die Nonierin sah wohl den ungewollten Wandel in seiner Physique. „Was für ein Kerl bist du, Aulus!“, sagte... nein, stöhnte sie. Piso schluckte. Das konnte er nicht machen, verdammt! Das war ein Vergehen! Er wollte sich losreißen, aber er konnte nicht. Er merkte, wie sein Blut in Wallung geriet. Er würde jetzt sicher nicht dies mitmachen!
    Sein Gehirn sagte dies, doch wie sagt man so schön? Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach. Und so gab sich Pisos Körper, als Nonia Damasippa ihn umarmte, voll und ganz der Umarmung hin. Und, als sie sich auf ihn warf, drang er in ihr ein.


    Das Gehirn wurde erst wieder aktiviert, als er mit Damasippa in enger Umarmung , noch immer im warmen Wasser, auf dem Steinvorsrung, wo dies geschehen war, saß. Was hatte er gean. Was hatte er bloß, beim Willen der Götter, getan? Was hatte Damasippa getan! Was hatten sie beide getan! Es war schlimm. Wieso hatte er nicht mehr Widerstandswillen gezeigt? Die Antwort war einfach: Welcher mann hätte in so einer Situation Widerstand zeigen können? Er merkte, wie ihm Damasippas Finger an der Brust kraulten. „Was für ein Mann du bist.“, kicherte sie. Piso fragte sich das auch. Was für ein Mann war er? Was für eine üble Art von Kreatur, die sich an dem verging, was seines Vaters war?
    Er erhob sich. „Entschuldige mich. Ich muss weg.“, meinte er mechanisch. Damasippa blickte erstaunt drein. „Aber... wie... du kannst doch nicht...“ Ich gehe.“, erwiderte Piso hart und schwang sich aus dem Becken heraus. Schnell zog er die Tunika über, ohne sich zu trocknen.
    Er entfloh den Thermen. Schnell, hastig, eilig. „Aulus! Aulus!“, hörte er hinter sich, doch er drehte sich nicht um. „Aulus!“ Er knalte die Tür hinter sich zu, doch selbst so konnte er das Rufen der Nonierin nicht aus seinem Hirn aussperren. Es begleitete ihn fast bis zu seinem Zimmer.
    Und es würde ihn noch lange begleiten. In den Nächten, wenn er keinen Schlaf fand. In seinen Träumen. Hie und da am hellichten Tage. Immer wieder „Aulus, Aulus, Aulus!“
    Und das würde ihn an seine Feigheit erinnern.


    Und daran, wieviel er möglicherweise hätte verhindern können, wäre er über die Nacht bei Damasippa geblieben.

  • Kapitel VI – Spaziergang zum Hain an den Klippen


    Nach einer unruhigen nacht erhob sich Piso aus dem Bett und stellte fest, dass er sich nicht in einen Käfer verwandelt hatte. Aber sein Kopf dröhnte. Dabei hatte er gestern keinen Schluck Wein getrunken. Es war unerklärlich.
    Eine Weile saß er im Bett, verbissen vor sich her starrend. Dann, auf ein Mal, setzte er sich auf. „Cassivellaunus!“, erschallte seine Stimme. Kaum schon hatte er gerufen, kniff er seine Augen zusammen und fuhr mit einem Ruck mit seinen beiden Händen an den Kopf. Wie das schmerzte... woher das kam?
    Ruckartig jedoch, genau so ruckartig, wie er seine Hände auf seinen Kopf platziert hatte, ließ er sie wieder schnell sinken, als Cassivellaunus hereinkam, er wollte dem dämlichen Britannier nicht zehnmal versichern müssen, dass bei ihm alles in Ordnung war.
    „Ich will einen Spaziergang machen.“ So früh?“, fragte ein offensichtlich schlaftrunkener Cassivellaunus. „Die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen, Heeeeerr...“ „Macht nichts. Wir gehen.“ Cassivellaunus, sich seiner fehlenden Macht bewusst, seufzte nur. „Wohin?“ Piso zuckte mit den Schultern. „Irgendwohin. Zu den Klippen.“ Cassivellaunus nickte und bereitete sich innerlich auf einen öden Spaziergang vor.
    Später, bei den Klippen. Herr und Sklave wandeln genau diesen entlang. Piso frohen Mutes, schwillt doch sein Kopfweh beständig ab, Cassivellaunus halbherzig, hatte er doch auf einen Tag des Faulenzens gehofft.
    „Dies hier sind die Klippen von Ravenna.“ Ja, Herr. Ich kenne sie.“ Piso seufzte. Mit dem Kerl konnte man sich über nichts unterhalten! Er bräuchte wohl einen Unterhaltersklaven. Cassivellaunus war dazu zu blöd und uninteressant, Artomaglos zu unverständlich und primitiv, Semiramis zu aufsässig und gemein zu ihm, und Antiochos war ohnehin der Langweiler vom Dienst. Ein kultivierter mensch, mit dem man sich unterhalten konnte... oder er konnte eine unterhaltsame Frau heiraten. Eine Stimme aus seinem Hinterkopf flüsterte ihm zu: Die ist dir gerade durch die Lappen gegangen. Piso knirschte mit seinen Zähnen, um die Gedanken irgendwie zermalmen zu können.
    Ein kleiner Hain tat sich vor ihnen auf. Piso und Cassivellaunus betraten die dicht zusammenstehende Baumgruppe. „Sieh nur die Schönheiten der Natur! Diese vollkommne Ästhetik!“Mhm...“ Mit dem war nichts zu machen, dachte sich Piso und wollte gerade weitergehen... da sah er etwas. Vor ihm.
    Es waren Cleomenes und der Thraker von gestern, der Aetius‘ Leibsklave war. Beide hielten zusammen etwas, was seltsam aussah. Ein Bündel. Piso wollte gerade hervortreten und die beiden fragen, was sie vorhätten... da begriff er auf einmal, woran ihn das Bündel erinnerte.
    „Was... halt. Halt an, Cassivellaunus. Hinter den Busch, da!“, wies Piso seinen Sklaven an und ging in Deckung. Cassivellaunus tat es ihm gleich. „Was ist, Herr?“
    Piso wandte sich seinem Sklaven zu. „Siehst du die beiden da? Weißt du, was sie tragen? Einen Leichnam! Einen verfluchten Leichnam!“ Cassivellaunus verstand sofort und bückte sich tiefer. Was Cleomenes wohl mit ihnen machen würde, wenn sie die beiden entdeckten!
    Die Schritte kamen näher und hielten. Piso lugte durch das Geäst vorsichtig durch. Die beiden Männer waren nun sehr nahe, er konnte ihre Stimmen hören.
    „...und, Kynos...“ Das war der Name vom Thraker. Hund, auf griechisch. Welch schmeichelnder Name. „...du bist sicher, hier sollen wir das Flittchen hineinwerfen? Da schaut es nicht so tief aus. Gehen wir an die gewohnte Stelle.“
    Gleich zwei Sachen kamen Piso. Die erste war, dass sie das wohl öfters taten. Leichen ins Meer schmeißen. Und das zweite war, dass die Leiche Damasippa war. Unzweifelhaft; die überkanditelte Schminke, das affektiert aufgesteckte Haar, der gepuderte Hals – all dies gehörte der Nonierin, deren dermaßen aufgebrezelter Kopf nun nach unten hang. Die gebrochenen Augen schienen Piso direkt anzublicken, als ob sie ihm einen Vorwurf mache. Am Hals zeigten sich Würgmale, das Merkmal einer erdrosselten Leiche.
    Piso wollte aufbrüllen, doch es ging nicht. Er konnte auch nicht, sonst wären sie entdeckt worden. Sprachlos beobachtete er, wie der Thraker, trotz des Widerspruches des Griechen, die Leiche doch hier hineinwarf. Eine kurze Pause. Dann ein Platsch.
    „Schau! Geht!“, grunzte der Thraker und kicherte. „Und, ist doch nix erstes mal, dass wir benutzen dieses Platz! Erinner dich an das eine Frau von Aetius. Wie hieß? Ach ja, Fausta. Auch hier.“Genau!“, lachte Cleomenes auf. „Gutes Gedächtnis, Kynos! Und gerade jetzt, wo ihr elender Sohn hier ist... hat einen gewissen Reiz. Aetius wird Tränen lachen vor Heiterkeit, wenn wir es ihm erzählen.„Was erzählen?“ „Na, dass wir Nonia Damasippa an der selben Stelle hineinwarfen wie Calpurnia Fausta. Ich glaube fast, dass du recht hast, dass das hier eine noch bessere Stelle ist, um Aetius‘ Leichen zu entsorgen, als der gewohnte Platz weiter oben.“ Hehe!“, lachte der Thraker stolz. „Haben gut gemacht ich, oder?“ „Sehr gut, Kynos, sehr gut. So, das wäre getan. Gehen wir zurück in die Villa. Dort holen wir uns bei Aetius unseren Lohn ab, und dann wird der auf den Putz gehaut. Geh schon mal voraus. Ich muss schnell pinkeln.“, meinte Cleomenes lächelnd und deutete in den Hain, dort, wo Piso und Cassivellaunus noch immer saßen. Cassivellaunus blickte verduzt hin und her. Piso war käsbleich geworden. Er bewegte seine Lippen langsam auf und ab, doch kein Laut entwich ihnen.
    Die Schritte des Thrakers entfernten sich, als jener in Richtung Villa davonstapfte. Genauso, wie sich die Schritte des Griechen näherten. Sie wurden überlagert von einem Rascheln, als Cleomenes in den Hain hineintrat. Ein wenig mehr Rascheln, als er nach einem Platz suchte, und ein wenig mehr, als er seine Tunika hochlupfte, um sich entsprechend erleichtern zu können.
    Dies, und exakt dies, war der Moment, da Piso aus seiner Starre erwachte und aufsprang.

  • Kapitel VII – Geständnisse im Hain


    Piso war als Kind ein Schwächling gewesen. Jawohl, ein Schwächling, und er würde dies auch frei heraus zugeben. Viel weniger vielleicht, dass er darob auch oft verprügelt wurde als Kind. Es waren die Straßenkinder gewesen. Mit Schimpfworten hatten sie ihn eingedeckt, sie hatten ihn trotz, oder vielleicht gerade wegen, seiner patrizischen Herkunft verspottet. Sicher vor den Schlägen war er nur in der Gegenwart seines Freundes Archias gewesen. Jener hatte Piso immer vor den Prügeleinheiten geschützt, bis Piso dereinst stark genug war, zurückzuschlagen und sich durchzusetzen, was lange gedauert hatte.
    Dass dieser schwache, kränkliche Junge mit dem Mann irgendetwas zu tun hatte, der sich, einem Dämonen gleich, auf den griechischen Sklaven stürzte und den überraschten Unfreien umwarf. Seine Hände suchten den Mund des Cleomenes und hielten ihn zu, während er begann, mit seinen Knien die Weichteile des Griechen zu bearbeiten. Er ließ mit seiner rechten Hand locker, nur, um Cleomenes ein paar sehr harte Schläge auf sein Gesicht zu verpassen. Seine Faust war so eng geballt, dass die Knöchel weiß heraustraten, sich die Fingernägel in seine Handflächen eingruben, und die Finger vor lauter abgeschnittenen Blut ganz weiß waren – mit ihr schlug er mehrere Male in das Gesicht des Sklaven, ungeachtet des Blutes, welches dem Griechen aus zahlreichen Platzwunden herauszusickern begann. Früher hätte sich Cleomenes vielleicht noch wehren können, doch dieser Tage war er nur noch ein alter Mann, der gegen einen jungen Kerl wie Piso wenig ausrichten konnte.
    Schließlich ließ der Flavier, als Cleomenes schon gar übel hergerichtet war, von jenem ab. Am Kragen fühlte der Grieche sich gepackt und aufgehoben, schließlich sich auf Augenhöhe mit dem grausam verzerrten Gesicht des Flaviers wieder findend, und mit den Beinen ein paar Zoll über den boden schwebend. So sehr er auch mit ihnen wackelte, Piso ließ nicht locker. „Ist das wahr?“, brachte Piso schlussendlich hervor. „Ist das wahr?“ Cleomenes suchte sein Heil im sich blöd stellen. „Was meinst du, Herr?“ Piso brüllte ihn jetzt an, sich nicht mehr darum scherend, ob man sie höhren könnte oder nicht. „So, jetzt bin ich auf einmal Herr, hä? Du weißt, was ich meine! Und ich weiß, dass es wahr ist! Du hast Damasippa umgebracht. Und meine Mutter.“ Cleomenes schluckte und ließ alle Vorsicht fahren. Zwar gab er sich gerne überlegen, doch wenn ihm der Arsch sozusagen auf Grundeis ging, flüchtete er sich, wie alle Sklaven, in die Feigheit. „Aus mir kriegst du nichts heraus...“, ließ er zwar anfangs verlautbaren, doch nach einem weiteren brutalen Schlag in sein Gesicht stöhnte er: „Ich habe sie nicht umgebracht. Das war Kynos. Kynos hat Damasippa umgebracht, Kynos hat deine Mutter umgebracht. Auf deines Vaters Befehl.“ Ein weiterer kraftvoller Schlag, den Piso ihm gegenüber austeilte, ließ ihn Blut ausspucken. Es schüttelte ihn, bevor er weitersprechen konnte. „Du weißt, dass es wahr ist. Dein Vater hat dich angelogen, jahrelang. Deine Mutter ist nicht abgehauen, niemals. Sie wurde in einem Waldstück nahe der Villa erdrosselt, von seinem damaligen Leibsklaven, Castor. Der ist, wie du weisst, schon lange tot. Ich war dabei. Und dein Vater. Er hat Castor angefeuert, er solle schneller machen. Genauso, wie es gestern mit Kynos und Damasippa geschehen ist.“ Mittlerweile hatte er wieder Boden unter den Füßen. Piso hatte seine Hand, die noch immer den Kragen des Sklaven umfasst hielt, sinken lassen. Geschockt blickte er den Sklaven an. Geschockt? Nein, das war ein zu schwaches Wort. Es war der Gesichtausdruck eines Mannes, dessen Welt eingestürzt war.
    „Mein Vater hat meine Mutter umgebracht.“, brachte er hervor. Es machte verdammt noch einmal Sinn, aber selbst wenn er das wie verstand, verstand er nicht das warum. „Warum?“, stotterte er also. Cleomenes zuckte die Schultern. „Sie war ihm langweilig geworden. Und ein Ärgernis. Fausta hatte gedroht, sich von ihm scheiden zu lassen, euch beide, dich und Vera, zu ihrer Familie zu nehmen, ob er es wollte oder nicht. Er betrog sie zu dieser Zeit. Und sie betrog ihn. Weißt du, wie die Situation zwischen deinen Eltern schrecklich war? Ist dir jemals aufgefallen, in welch kaputter Familie du auf die Welt gekommen bist?“
    Endlich brachte Piso wieder etwas aus sich heraus. „Schon längst.“ Er blickte in die Ferne, mit einem Blick, den man bei ihm noch nie gesehen hatte, und der nicht zu beschrieben war. „Glaubst du mir?“, fragte Cleomenes und blickte Piso an. „Ja.“, bestätigte Piso schließlich. „Jetzt verstehe ich, wieso du mich immer so behandelt hast, wie du es getan hast. Mein Vater hat dir alles durchgehen lassen, weil du ihn in deiner Hand hattest.“ Seine Stimme kam wie von weit weg. Er atmete tief durch. „Wieviele hat Vater umgebracht auf diese Weise?“ Cleomenes zögerte. „30. Oder 40. Ich weiß es nicht.“ Piso fühlte sein Herz schnell schlagen, immer schneller. „Und...“, er atmete abermals ein. „Leontia wusste davon, oder?“ Cleomenes schaute nur, und erhielt einen weiteren Schlag ins Gesicht. „Ja. Deine Schwester war eingeweiht.“, gestand er. Piso wunderte sich, wieso er es schaffte, so gefasst zu bleiben. Es musste der Schock sein. „Wieso sie? Wieso nicht andere?“ Cleomenes blickte Piso in die Augen. „Sie war die einzige von Aetius legitimen Kindern, deren Mutter wirklich weggelaufen war, und nicht ermordet worden war.“ Piso schüttelte den Kopf. „Trotzdem. Wieso?“ Cleomenes zuckte zum zweiten Male die Achseln. „Ich schätze, er vertraute ihr. Und hoffte, sie einspannen zu können für spätere Entsorgungen.“ Der Flavier blinzelte. „Entsorgungen.“
    Und er ließ Cleomenes los. Der Grieche stolperte ein paar Schritte zurück, gegen den Stamm eines Baumes anstoßend. „Geh. Ich will dich nie wieder sehen.“ Ohne einen Moment des Zögerns nahm der Grieche die Möglichkeit zur Flucht wahr. Piso beachtete das Verschwinden des Mannes gar nicht mehr. Gedankenverloren begann er, mit seiner rechten Hand am linken Ärmel seiner Tunika herumzufummeln. Erst jetzt bemerkte er, dass Cassivellaunus neben ihn getreten war. „Wir müssen hier verschwinden. Dem Horror entfliehen. Schnell.“ Der Britannier nickte nur. Er hatte verstanden.

  • Kapitel VIII – Wieder in der Villa


    Zwei Männer liefen. Einer vorneweg, einer hintennach. Sie liefen über die Flur, über die Wiesen, die Ravenna umschlossen. Es war nicht weit von der Küste zur Villa Flavia Aetius. Piso kam es vor wie eine Ewigkeit.
    Sie schwiegen, die beiden Männer, als sie liefen. Hie und da brachte der eine ein „Ach“ hervor, als er zu stolpern drohte, sich jedoch erfing. Sie liefen, ohne zur Seite zu blicken, wie mechanisch. Bald erreichten sie die Villa Flavia, die noch im Licht der aufgehenden Sonne sich präsentierte. Piso und Cassivellaunus schlichen hinein, als ob sie Diebe wären. Durch den Seiteneingang, den Bedeinstete nutzten, schlichen sie sich, ungefragt, unangehalten. Hinauf in die Räumlichkeiten, zum Cubiculum des Piso.
    Die Tür wurde aufgemacht, vorsichtig, und Piso trat ein. Es war alles noch dort, wo es war, doch irgendwie schien alles anders. Es war verändert, nicht mehr das selbe.
    Als Piso seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, wusste er, dass dies das war. Er würde zum letzten Mal hier in Ravenna sein. Nie wieder würde er diesen Raum betreten. Nie wieder diese Villa, die ihm nun schien wie ein Kabinett des Grauens. Nie wieder Ravenna. Wie könnte er dies jemals machen? Hier wurde ihm die Mutter entrissen, und zwar von einem Menschen, dessen Liebe er gestern noch gesucht hatte, und den er nun hasste.
    Endlich, nach langem, sprach er. „Cassivellaunus. Wir gehen. Packe meine Sachen zusammen. Vergiss die Porzellanstatue nicht.“ Der Britannier nickte und machte sie eilig daran, Pisos Sachen zusammenzusuchen. Da Piso erst einen Tag hier gewesen war, war es nicht viel, was Cassivellaunus einpackte. Ein paar Tuniken kamen in des Piso Reisekiste. Eine ausgepackte Toga. Hinein kam die Porzellanstatue der Sophonisba. „Warte.“, meinte Piso und blickte auf den Kelten. „Wieder raus damit.“ Heeerr?“ „Raus damit, habe ich gesagt. Ich will es nicht mehr sehen. Es würde mich nur an Ravenna erinnern.“ Cassivellaunus blickte Piso einen Moment an, dann nickte er. Er verstand. Die Statue kam raus und wurde wieder auf das Regal gestellt. Piso musterte sie, bevor er sich hinsetzte, auf sein Bett. Er schlug sich die Hand aufs Gesicht, als ob er sich für etwas bestrafen wollte. „Vater... Mutter... es erklärt viel... so viel... so viel...“, murmelte er vor sich hin, als Cassivellaunus die letzten Sachen einpackte. „Ich bin fertig.“
    Piso blickte auf. „Gut, dass du das bist, Cassivellaunus. Das ist gut.“ Er erhob sich, als der Kelte es wagte, doch noch Einspruch zu erheben. „Sag, Herr. Wieso glaubst du eigenlich dem Griechen? Cleomenes ist doch ein Affe!“ Das ist er. Aber er lügt nicht. Und auch dieses Mal log er nciht. Ich weiß es. Wenn du meine Kindheit erlebt hättest, Cassivellaunus... so viel, was jetzt Sinn macht, so viel... ich will weg von hier, jetzt.“
    In genau diesem Moment ging die Türe auf.
    Sophonisba trat ein, mit einem Lächeln auf ihren Lippen und einem Korb Obst in ihren Händen. „Guten morgen, mein Junge! Gut geschl...“ Sie stockte und blickte Piso an. „Was machst du da? Gehst du?“ Piso blickte sie müde an. „Ja. Ich gehe.“ „Wieso denn?“, fragte Sophonisba verblüfft. Piso atmete tief ein. „Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst. Du weißt, was mit meiner Mutter geschehen ist?“ Ähm, sie ist ja nach Britannien mit ihrem Ritter und...“, begann Sophonisba zu stottern. Piso sog Luft ein.
    „Nein, ist sie nicht.“ Er schwieg, und auch Sophonisba, sprachlos, schwieg. „Ich bin ihr Sohn... und ich weiß nicht einmal, wo ihre Grabstätte liegt... Ich weiss alles. Alles.“
    Sophonisba biss in ihre Unterlippe. „Mein Junge...“, meinte sie. „Ich konnte es dir nicht sagen. Du weißt, wieso.“ Der junge Patrizier blickte nach unten, an den Boden, als ob es dort etwas Interessantes gäbe. “Ich wusste es. Doch ich habe es dir gegenüber nie herausgebracht. Und Aetius hätte mich getötet.“ Piso nickte nur. „Ich bin dir nicht böse. Aber... ich will dich nie wieder sehen, Sophonisba. Nie wieder.“ Die alte Sklavin blickte Piso an, doch sein Blick duldete keinen Widerspruch. Sie neigte ihren Kopf zu Boden. Eine einzelne Träne kullerte über ihre Wangen.
    Langsam überreichte sie ihm ihren Obstkorb. „Eine Mahlzeit für deine Reise zurück zu deiner neuen Heimat, mein Junge. Mach es gut. Mach es gut.“, schluchzte sie. Ein paar Sekunden stand sie noch da, bevor sie sich umdrehte und aus dem Zimmer heraus eilte.
    Die Tür fiel zu, und Piso grabschte sich ein Kissen, versteckte sein Gesicht drinnen und begann zu weinen.
    Er wusste nicht, wie lange, er wusste nur, das Sonnenlicht schon den vorher unbeleuchteten Raum durchflutete, als er das Kissen von seinem leicht verquollenen Gesicht herunternahm und mit seinen rot unterlaufenen Augen die Gegend fixierte.
    „Gehen wir. Jetzt.“ Piso erhob sich und schritt aus seinem Raum heraus. Cassivellaunus folgte ihm, leise.

  • Kapitel IX – Im Atrium, auf der Flucht


    Leise traten die Sohlen von Herrn und Sklaven auf dem Boden des Atrium auf. Piso blickte hinauf, durch die Dachlücke. Es war schon der spätere Morgen. Fast schon Vormittag. Hoffentlich war sein Vater noch nicht auf. Hoffentlich würde niemand bemerken, dass Piso und Cassivellaunus sich heimlich aus dem Haus schlichen.
    Hastig bewegten sich Piso und der bepackte Cassivellaunus der Türe zu. Bald war es geschafft! Bald würden die beiden draußen sein. Dort müsste noch immer die Kutsche stehen. Der Kutscher würde bereit stehen. Piso konnte so schnell und ohne Aufsehen aus Ravenna verschwinden.
    Gleich war es geschafft... gleich würde er bei der Türe ins Vestibulum sein. Seine Hand langte aus zur Türschnalle.
    „Aulus.“
    Ein einziges Wort ließ Piso zurückzucken. Krampfhaft drehte er sich um, gleichsam wie sein britannischer Sklave, der betreten zur Seite trat, um aus dem Bild zu verschwinden. So gab er den kompletten Blick auf Pisos Vater frei.
    „Du willst uns schon verlassen?“ Aetius‘ Gesicht drückte Bedauern aus. Gespielt, dachte sich Piso. „Du willst schon gehen? Wieso?“ Piso kniff die Lippen zusammen. „Weil ich erfahren habe, was du bist.“ Aetius hob, flavisch, seine Augenbraue. „Was bin ich denn?“ Piso schnaubte. „Du bist...“ Er rang nach Atem. Piso war alles andere als ein Choleriker, aber jetzt brach ein Element, das jener Eigenschaft gar nicht unähnlich war, hervor. „...ein Mörder!“ Er ballte seine Hand zur Faust. „Leugne es nicht ab. Ich weiß, was du meiner Mutter angetan hast.“
    Aetius blickte für einen ganz kleinen Augenblick so drein, als wollte er abstreiten, was Piso ihm zur Last legte. Dann lachte er jedoch auf. „Mein Sohn, mein lieber Sohn, du musst noch viel lernen.“ Aetius trat einen Schritt auf Piso zu, wollte seine Hand auf Pisos Schulter legen. Der Sohn trat vorm Vater einen Schritt zurück. „Fass mich nicht an.“, zischte Piso. Aetius schüttelte mitledig den Kopf. „Deine Mutter, mein Sohn, was ist das schon? Es ist der Vater, der zählt! Deine Mutter war so nichtsnützig, dass du dagegen noch richtig brauchbar erscheinst. Weißt du, mein Sohn. Sie hat mich betrogen. Sie hat herumgehurt. Mit Plebejern. Mit Sklaven sogar. Sie hatte eine Bestrafung verdient, das musst du zugeben.“ Piso knirschte mit den Zähnen und schüttelte nur mit dem Kopf. „Deine Mutter war ein Flittchen. Ich habe dich von ihr befreit. Du musst jetzt nicht mehr mit der Schande leben, ein solch unkeusches Weib als Mutter zu haben. Was meinst du, welche gesellschaftliche Skandale ich dir schon erspart habe! Fausta war nicht würdig, deine Mutter zu sein.“
    Jetzt war es raus. Aetius hatte gestanden. In Piso hatte noch ein ganz winziger Schlummer geruht, ein Funken Hoffnung, dass all dies nur eine riesige Intrige von übersinnlich begabten Sklaven war.
    Doch nun war es bewiesen, Aetius hatte seine Mutter umgebracht. Piso blickte seinen Vater an. Er sah ihm so ähnlich. So ähnlich. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Auf einmal ekelte es ihn vor ihm selber.
    „Ich gehe.“, meinte Piso trocken und wandte sich um. Auf einmal fühlte er sich von der Hand seines Vaters gepackt. „Nein! Du bleibst hier! Du wirst so lange bleiben, bis ich sage, du kannst wieder nach Rom!“ Piso versuchte verzweifelt, die Hand von seinem Arm zu lösen, doch sie hielt fest. „Mein Sohn! Mein Sohn! Du musst mich verstehen. Ich wurde gezwungen, so zu handeln. Fausta forderte ihr Geschick heraus! Ich konnte nichts dafür! Ich habe nur im Sinne der Familie gehandelt. Meinst du, sie wäre die Erste, oder die Letzte, die ich somit getötet habe, um die Familienehere zu retten?“ Piso drehte sich zu ihm hin. „Du hast Damasippa ermordet.“ Ermorden lassen, von Kynos, aber ja. Die unmoralische Puppe. Sie wurde bestraft für ihre Sünden. Es war ja nur eine Plebejerin!“ Aetius lachte nervös auf. „Ich hätte dir das früher erzählen sollen, aber als Kind hättest du das nicht verstanden. Aber, wenn du ein Mann bist, erträgst du die Wahrheit. Leontia hat sie ertragen.“
    Piso schauderte. „Leontia wusste von den Morden.“ Es machte Sinn. Deshalb hatte sie immer so... gegrinst. Aetius nickte. „Schon vom Mädchenalter an. Ich habe ihr vertrauen können! "Wieviele waren es? Ein Duzend? 20?" Eher 30. oder 40.", antwortete Aetius und seufzte. "Ich konnte es dir nicht sagen, nicht dir. Du hättest es deinen Freunden weiter erzählt! Aber jetzt bist du ein Mann. Du wirst es nicht weiter erzählen.“
    Innerlich bebte Piso. Winzig kleine Tränen begannen sich wieder in seinen Augenwinkeln zu sammeln. Doch heute hatte er schon genug für einen Tag geweint. Er blinzelte und blickte Aetius kalt an. „Nein. Um meinetwillen.“ Aetius stockte, dann strahlte er, als ob er gar nicht mit dieser Antwort gerechnet hätte.
    „Komm mein Sohn, umarme mich.“ Piso schüttelte den Kopf. Seine Hände waren noch immer zu Fäusten geballt. Aetius breitete seine Arme aus.
    „Umarme mich!“ Befehlsgewohnt klang die Stimme nun. Harsch.
    Und Piso konnte nicht mehr. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Er zuckte aus, im gleichen Maße, wie seine rechte Faust nach vorne zuckte. In der Pankration nicht unerfahren, zielte Piso auf ein Ziel hinter Aetius. Und traf somit seinen Vater direkt ins Gesicht. Es knackte, als Aetius‘ Nase brach. Aetius stieß einen heiseren Schrei aus, krümmte sich und fasste sich ans Gesicht. Seine rechte Hand presste er an die Nase. Zwischen seinen Fingern rann das Blut heraus. Seine Augen waren in Agonie zugekniffen.
    Piso drehte sich um und versuchte zum zweiten Mal aus dem Atrium zu entkommen. Doch wieder hielt ihn etwas. Es war die Stimme des Aetius.
    „Geh nicht! Du bleibst hier! Ich befehle es dir, Sohn, als dein Vater!“ Die Stimme klang nasal und unangenehm schnarrend. Der junge Flavier blickte zu seinem Vater, diesem Monstrum, welches auf ihn zukam. „Ich befehle es dir!“ Piso drehte sich mit seinem ganzen Körper zu Aetius hin und ging zwei Schritte auf ihn zu. „Du hast mir nichts zu befehlen.“ Seine Stimme klang fest und bestimmt. „Und nenne mich nicht Sohn. Nicht mehr. Wie soll ich dich noch als Vater betrachten? Wie denn?“ Aetius blickte ihn hilflos an. „Ich bin es... dein Vater... wer sonst?“ Piso knirschte mit den Zähnen. „Lieber hätte ich einen Straßenköter als Vater als dich!“, brüllte er. „Scher dich! Ich will dich nie mehr sehen! Du hast meine Mutter geraubt, meine Kindheit, du Unhold! Mögen dich die Furien dafür büßen lassen. Mögen sie das tun, was ich dir antun möchte. Du bist nicht mehr mein Vater.“
    Das saß. Aetius ließ die rechte Hand sinken und gab den Anblick auf eine blutige Nase preis. Er sah aus wie ein Vampir. Piso wandte sich angewidert ab. Er wusste, dieses Bild, dass sich von seinem Vater nun ihm bot, würde das Letzte sein.
    Er trat ins Vestibulum, schlug die Tür hinter sich zu, trat nach draußen, wo Cassivellaunus und der Kutscher schon warteten.
    Piso stieg in die Kutsche und zog die Vorhänge zu. Die Karosse setzte sich in Bewegung. Plötzlich hörte Piso Schritte, laufende Schritte neben der Kutsche. „Aulus! Geh nicht! Auuuuuuuuuuluuuuuuuuuus!“ Der Schrei, in dem sein Praenomen verwandelt wurde, verblasste wie die Schritte, als sein Vater nicht mehr mit der Kutsche mithalten konnte und zurückfiel, bis sie außer Hörreichweite waren.
    Piso hatte geglaubt, er könnte nicht mehr Tränen vergießen heute. Doch sein neuerlicher Heulanfall in der Kutsche, als sie Ravenna verließen, strafte diesem Gedanken Lügen.
    Dem Sklaven Cassivellaunus, gegenüber, tat sein Herr, zum ersten Mal in seinem Leben, Leid.


    Finis

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