Menschlicher Aberglaube oder Ein Sklave bildet sich

  • Um ihn herum herrschte Markt, aber davon ließ sich Phaeneas nicht imponieren. Seit jeher hatte er es einwandfrei beherrscht, alles störende konsequent zu ignorieren, und so ließ er sich in aller Seelenruhe abseits an einer Hauswand nieder, die Beine angezogen, um darauf die Papyrusrolle zu positionieren, die er nun hervorholte, die die ‚Naturkunde‘ des älteren Plinius enthielt. Im Vergleich zu seinen Anfängen fand er die Stelle, an der er beim letzten Mal stehen geblieben war, inzwischen sehr schnell. Der Finger der rechten Hand vermerkte die ungefähre Stelle und der Bithynier vertiefte sich in den Text. Nachwievor las er sehr langsam, auch wenn er den Inhalt inzwischen zusammenhängend erfassen konnte, ohne ständig nachdenken zu müssen, was die mühevoll aneinandergelesenen Buchstaben und Silben denn eigentlich bedeuteten.
    Der Anfang fügte sich noch gut in das ein, was Phaeneas vom Verfasser gewöhnt war:


    Dass die Sonne der ganzen Welt Seele und, deutlicher, ihr Geist ist, dass sie die oberste Herrschaft der Natur und eine Gottheit ist, ist angebracht zu glauben, wenn man in Betracht zieht, was sie bewirkt. Sie nämlich bringt den Dingen das Licht und vertreibt die Finsternis, sie verbirgt und beleuchtet die übrigen Sterne, sie lenkt den Wechsel der Zeiten und das sich immer wieder erneuernde Jahr nach den Naturgesetzen, sie zerstreut am Himmel das Trübe und lässt auch die Wolken des menschlichen Geist- es sich aufhellen, sie leiht ihr Licht genauso den übrigen Sternen, hervorleuchtend, hervorragend, alles schauend, alles auch hörend, wie, soweit ich sehe, der erste Dichter, Homer, es nur an ihr so befunden hat.


    Ich halte es deshalb für ein Zeichen menschlicher Schwäche, nach dem Bild und der Gestalt der Gottheit zu suchen. Wer auch Gott sein mag, wenn es überhaupt einen anderen gibt als die Sonne, und in welchem Teil des Alls er auch sein mag, er ist ganz Gefühl, ganz Gesicht, ganz Gehör, ganz Seele, ganz Geist, ganz er selbst. Unzählige Götter anzunehmen – und sogar entsprechend den Lastern der Menschen - , wie etwa eine Gottheit der Keuschheit, der Eintracht, des Geistes, der Hoffnung, der Ehre, der Milde, der Treue, oder, wie es Demokritos für richtig gehalten hat, nur zwei, Strafe und Belohnung, grenzt an noch größere Leicht- fertigkeit. Die gebrechlichen und geplagten Sterblichen haben, ihrer Schwäche bewusst, die Gottheit in Teile zerlegt, damit jeder in seinem Anteil das verehre, was er am meisten braucht.


    Spätestens bei ‚Zeichen menschlicher Schwäche‘ prustete Phaeneas. Mit großen Augen verfolgte er weiter, was Plinius da behauptete. Dessen Beschreibung des Göttlichen konnte er mit seiner eigenen wagen Vorstellung davon prinzipiell nur zustimmen, bekam dann aber noch einmal große Augen bei der Art und Weise, wie der Autor über die ... allgemein verbreitete Perspektive von den Göttern herzog.
    Aber ... es bestätigte Phaeneas‘ Sichtweise von der Lebenseinstellung seiner Zeitgenossen, die ihr Lebensglück viel zu sehr an einer ungewissen Gottheit aufzuhängen schienen. Gut, seiner eigenen Einschätzung nach gab es für ihn selbst sowieso kein Lebensglück; aber zumindest die Möglichkeit, gewisse Kleinigkeiten ein bisschen ins Bessere oder ins Schlechtere steuern zu können – gewissermaßen eigenhändig, ohne überirdisches Eingreifen. Erstrecht wenn es um die eigenen Tugenden und Laster ging. (Und gerade letzteres hatte der Bithynier perfekt im Griff, war seit Kindheit auf daran gewöhnt, jeden Wunsch danach, Spaß haben zu wollen, im Keim zu ersticken.)
    Trotzdem war er von dem, was er da las, so überrumpelt, dass Phaeneas laut auflachte, überrascht und ein kleinwenig ungläubig, aber doch amüsiert, über diese seiner Meinung nach gewagte These.


    Sim-Off:

    Wer hat Lust, gemeinsam mit Phaeneas die Gedankengänge des Plinius zu den menschlichen Vorstellungen vom Göttlichen zu erkunden?


    Inklusive Fortsetzung des Textes der Naturalis Historia

  • Sim-Off:

    Ich komm gern einmal dazu


    Alaina ging es am Besten, wenn sie nicht über sich selbst nachdenken musste, wenn sie arbeitete und beschäftigt war. Abegelenkt von den eigenen Seelenqualen. Denn wenn sie auch den Eindruck einer starken selbstbewussten Frau machte, hatte sie furchtbare Angst sich selbst zu stellen. Den Ängste, welche sie verzweifeln ließ. Wirkliches Glück hatte sie nie erfahren, sie kannte jedoch das Wort Verlust nur zu gut. Im Grunde ihres Herzens war sie allein, auf sich gestellt und wenn sie Schwäche zeigte, dann würde die Welt für sie zusammen brechen. Von daher mochte sie es nicht, wenn sie einfach nur Zeit für sich hatte, keine wichtigen Aufgaben auf sie warteten und sie schon fast gezwungen war, einmal wieder auf ihre eigenen Bedürfnisse einzugehen. Damit sie nicht der Verzweiflung anheim fiel, war sie zum Mercatus gegangen und beobachtete mit wachsamem Blick die Menschen. Sie wirkte so unbeschwert, diese Römer. Leise seufzte sie, nicht die Römer trugen Schuld daran, was aus ihr geworden war. Alles hatte mit einem Feuer angefangen und das niemand ein weiteres Maul an seinem Tische haben wollte. Im Grunde war sie eine Verstoßene ihres eigenen Volkes, ohne zu wissen warum. Und dennoch, dennoch sehnte sie sich nach einer Familie, Menschen welche sie ihretwegen liebten und umsorgten. Dieser Gedanke schmerzte sie mehr, als jeder andere. Aus Verbitterung zog sie die Mauer um ihr Herz höher. Schwäche konnte sie sich nicht erlauben. Niemals, denn dann würde sie zusammenbrechen und in tiefe Dunkelheit der Verzweiflung stürzen. Erschrocken zuckte sie zusammen, als jemand lachte. Wild sah sie sich um und entdeckte einen Man, welcher sich anscheinend amüsiert über eine Schriftrolle beugte. Diese Ablenkung kam ihr recht willkommen.


    „Salve!“ grüßte sie vorsichtig. „Darf ich fragen was dich so sehr amüsiert?“ Aufmerksam musterte sie ihn. Er schien nicht wirklich zu den reichen und affektierten Gockeln der Stadt zu gehören. Seine Kleidung war zwar aus gutem Stoff, doch eher schlicht gehalten. Unauffällig suchte sie nach einem Sklavenzeichen. „Ich bin Alaina!“ stellte sie sich dann eilig vor.

  • Plötzlich stand eine junge Frau vor Phaeneas und richtete ein Salve an ihn. Sie war schlank und hatte ein zartes Gesicht und sie stammte ganz sicher nicht hier aus dem Mittelmeerraum, wie er germaniengeübt feststellte.


    Nichts an Phaeneas deutete auf seine Unfreiheit hin. Nie hatte er versucht zu fliehen, nie war er aufsässig gewesen, weshalb er weder einen Ring um den Hals noch ein Brandzeichen oder ähnliches irgendwohin verpasst bekommen hatte. Auch hatte er nie in einem Haus gedient, in dem es üblich gewesen wäre, alle Sklaven als der Familie zugehörig zu zeichnen.
    Höchstens konnte man es an seinem Verhalten ablesen. An seinen ernsten Augen, in denen auch jetzt, obwohl sie belustigt blitzten, diese Ernüchterung, die Desillusionierung stand. An seinen kleinen Gesten, daran, dass er sich nicht groß in Szene setzte, sich immer lieber unaufällig im Hintergrund hielt, wie auch hier, im Staub sitzend, den Rücken an die Hauswand gelehnt. Daran, dass er nicht aufmerksamkeitsgewohnt die Stimme hob und keine pathetischen Worte machte.


    „Salve.“ Mit einem schnellen Blick maß er sie. „Ich bin Phaeneas“, antwortete er dann. „Lies das hier, dann verstehst du es!“ Und so reichte er ihr die Papyrusrolle hin, mit dem Zeigefinger der linken Hand auf die Stelle weisend, die er meinte.

    Sim-Off:

    Siehe Text oben


    „... Ähm ... Kannst du lesen?“, fiel ihm dann selbst noch ein. Schließlich hatte er noch bis vor kurzem auch nicht lesen können und es war völlig normal, jemandem zu begegnen, der es nicht beherrschte. Noch einmal überflog er ihre Erscheinung, kam aber anhand ihrer Kleidung zu keiner Antwort seiner ohnehin schon gestellten Frage.

  • Auf den ersten Blick konnte sie nicht sagen, ob es sich bei ihrem Gegenüber um einen freien Mann handelte oder um einen Sklaven. Und selbst wenn, dann spielte es keine Rolle für sie. Der Unterschied zwischen ihr und einem Sklaven war auch nur der, dass sie Glück gehabt hatte. Sie hätte in der Sklaverei ebenso landen können, wie viele Andere. Kurz entschlossen ließ sie sich neben ihm nieder, setzte sich in den Staub und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.


    „Es freut mich dich kennen zu lernen!“ sagte sie vorsichtig lächelnd und nahm ihm dann die Schriftrolle ab. Sie überflog gerade die ersten Zeilen, als er sie fragte ob sie lesen konnte. „Mhm..?“ machte sie fragend, hob dann den Kopf und nickte bedächtig. „Ja, ich kann lesen und schreiben. Ich beherrsche auch einige Sprachen. Ich arbeite als Scriba“, erklärte sie ihm dann, ehe sie sich der Schriftrolle widmete Ihre Augen huschten erstaunlich schnell über die geschriebenen Zeilen. Am Ende des Textes stieß sie ein amüsiertes „Hah!“ aus.


    „Die spinnen die Römer!“ meinte sie und reichte ihm das Schriftstück wieder zurück. „Nun verstehe ich warum du so amüsiert bist!“ fügte sie schmunzelnd hinzu.

  • Sie setzte sich neben ihn und begab sich somit in die gleiche Position, wie er. Sie begab sich auf eine Ebene mit Phaeneas.


    Aufmerksam beobachtete ihr Lächeln. Immer wenn ihm jemand neu begegnete, prüfte er anfangs vorsichtig die Zeichen, die sein Gegenüber in seine Richtung aussandte - legte sich noch lange nicht fest, ob er ihnen glauben sollte, ob sie echt waren oder nicht.
    Nun gut, seine Erkundigung an sie erledigte sich bald selbst, in Anbetracht dessen, wie mühelos sie den Text betrachtete. „Dann hast du mir einiges voraus. Ich kann nur Lateinisch“, merkte er durchaus mit der gebührenden Achtung an. Auch wenn er kein bisschen neidisch war.


    „Klasse, nicht wahr?“, war sofort Phaeneas‘ enthusiastische Reaktion. Dass das Mädchen neben ihm, Alaina, nun seine Freude über die schlagfertig-freche Art des Plinius teilte, machte die Sache noch einmal besser.
    „Die Griechen wenn dann aber auch“, fügte der bithynische Sklave verschmitzt hinzu.
    Nicht lange konnte Phaeneas dementsprechend die Papyrusrolle beseite lassen und so versuchte er sich noch einmal in den niedergeschrieben Worten zu orientieren und schob dabei die Schrift in die Mitte, sodass Alaina gut hineinschauen konnte. „Ich bin gespannt, wie es weitergeht!“


    Deshalb finden wir bei verschiedenen Völkern verschiedene Götternamen und bei jeweils denselben zahllose Gottheiten; sogar die unterirdischen Mächte, Krankheiten und auch viele schlimme Seuchen wurden in Arten geteilt, während wir sie in banger Furcht besänftigt wissen möchten. So hat man sogar von staatswegen auf dem Palatin einen Tempel dem Fieber geweiht, einen anderen der Göttin der Kinderlosigkeit neben dem Tempel der Laren und einen Altar dem bösen Schicksal auf dem Esquilin.
    Deshalb kann man sogar die Zahl der Götter für größer ansehen als die der Menschen, da ja auch die einzelnen auch sich selbst heraus ebensoviele Götter machen, indem sie sich eine Iuno oder einen Genius wählen, die fremden Völker auch gewisse Tiere und sogar widerwärtige als Götter betrachten und vieles, das auszusprechen noch beschämender ist, indem sie bei stinkenden Speisen und ähnlichen Dingen schwören. Der Glaube, dass unter Göttern auch Ehen geschlossen würden und doch seit so langer Zeit daraus niemand geboren worden wäre, ferner dass die einen immer alt und grau, andere jugendlich und Kinder, wieder andere schwarz, geflügelt, lahm, einem Ei entsprossen, abwechselnd einen Tag lebend und tot seien, ist eine fast kindische Faselei; aber alle Unverschämtheit übersteigt es, wenn man ihnen Ehebrüche andichtet, dann für Streitigkeiten und Hassgefühle oder sogar für Diebstahl und Verbrechen Götter annimmt.
    Gott sein bedeutet für den Sterblichen, dem Sterblichen zu helfen, und das ist der Weg zum ewigen Ruhm. Ihn gingen die vornehmsten Römer, auf ihm wandelt jetzt göttlichen Schrittes zusammen mit seinen Kindern der größte Herrscher aller Zeiten, Vespasianus Augustus, der erschöpften Welt zu Hilfe kommend. Dies ist die älteste Sitte, sich hochverdienten Männern dankbar zu erweisen, dass man solche Helfer unter die Götter versetzt. Denn auch die Namen anderer Götter und die oben erwähnten Namen von Gestirnen sind aus verdienstvollen Taten der Menschen entstanden.

  • Im Augenblick spielte es für sie keine Rolle ob Phaeneas Sklave oder freier Mann war. Für den Moment waren sie einfach nur Gleichgestellte, welche sich gemeinsam über eine Disputation beugten.
    „Nun ja, ich bin viel herum gereist, da lernt man dann zwangsläufig mehr als nur Latein und ich besitze ein gewisses Talent für Sprachen!“ erklärte sie ihm offen. Das war schließlich kein Geheimnis. Sie trug andere, dunklere Geheimnisse auf ihrer Seele herum.


    „Der Text hat schon was!“ stimmte sie ihm zu. Ihr Gegenüber strahlte förmlich, weil er in ihr eine Gleichgesinnte gefunden hatte. Sie lachte dann auf, als er meinte die Griechen würden ebenso wie die Römer spinnen. „So genau kann ich das nicht beurteilen, ich bin bisher nur wenigen Griechen begegnet“, erklärte sie. Amüsiert sah sie ihm zu, wie er die nächste Schriftrolle hervorkramte und sie diesmal so hielt, dass sie ihm über die Schulter hinweg mitlesen konnte. Ihre Augen flogen über den Text. Sie musste ein wenig Kichern, sie war mit dem Glauben an die große Mutter aufgewachsen, sie war zuständig für das Leben und die Geburt und sie brauchte keinen Tempel. Sie konnte in vielerlei Hinsicht den Glauben der Römer nicht teilen, sie verstand ihn auch nicht wirklich. Bei einigen Textpassagen schüttelte sie etwas Fassungslos den Kopf. Hier prallten Welten aufeinander.

  • Sie war viel herumgereist ... Da traf sie bei Phaeneas einen Nerv, der für solche Aussagen empfindlich war. Es gab nur ein Land, in das zu reisen der Sklave sich wünschte - natürlich war er unfrei und gehörte dementsprechend dorthin, wo seine Herrschaften waren, aber trotzdem blieb diese eine Sehnsucht unverrückbar in ihm ... „Ähm, warst du ... vielleicht auch mal in Bithynia?“, fragte er vorsichtig. Der möglichen bevorstehenden Enttäuschung wegen.


    „Also die, denen ich begegnet bin, die waren prinzipiell ganz normal. Und das waren einige.“ Und einen davon hatte er geliebt ... „Aber zu ihren konkreten Göttervorstellungen habe ich nichts direktes mitbekommen.“
    Wie er vorhin schon hatte erleben dürfen, las Alaina sehr schnell. Neben sich hörte er sie schon kichern, bevor er selbst richtig in die Worte hineinkam.
    Aber wieder war der Bithynier ganz hingerissen von der Eloquenz des Autors, wie spritzig und mit welchen sprachlichen Mitteln er die Überzeugungen der „Römer“, wie Alaina sagte, ins Lächerliche zog. Und es verzückte ihn die Logik, die dabei aus Plinius’ Worten sprach.
    Nur der letzte Teil des Textes fiel aus dem Rahmen, weil er plötzlich so ernst – ernst gemeint – war. Phaeneas wusste nicht recht, was er von dem halten sollte, was der Verfasser an dieser Stelle aussagte.
    „Meine Güte, was er da beschreibt, klingt alles so schrecklich kompliziert! Wie kann man sich nur etwas so Umständliches antun, um zehntausende von Göttern einzeln zu besänftigen! Und solch unlogische Dinge glauben ... Apropos, was glaubst du eigentlich?“, wandte er sich dann an die, die ihm Gesellschaft leistete, und sah Alaina an.

  • Alaina führte ein Vagabundendasein, denn seit dem Verlust ihrer Familie und einem kurzen Leben auf den kalten Straßen, hatten sie sich nirgendwo mehr wirklich zu Hause gefühlt. Zwar vermisste sie ihre Heimat, aber sie war rastlos. Es gab für sie keinen ort an den sie zurück kehren konnte. Vor allem aber war sie einsam und dies machte sie verletzlich, deswegen, ließ sie niemanden hinter die Fassade der stolzen Frau blicken, aus Angst, dass sie dann nicht dem gewappnet war, was sich ihr selbst offenbaren würde, nämlich reine Verzweiflung und Angst. Phaeneas Frage riss sie aus ihren Gedanken und sie schüttelte darauf hin nur den Kopf. „Leider nicht!“ antwortete sie ihm. „Stammst du von dort?“ fragte sie vorsichtig nach. Irgendwie fühlte sie sich ihm verbunden, er wirkte ebenso verloren wie sie, denn Rom war nicht ihre Heimat.


    „Nun ich denke, es ist immer leicht für einen Fremden, eine andere Kultur als dummes Zeugs abzustempeln, aber für diejenigen, die damit aufgewachsen sind, ist es normal!“ philosophierte sie. Es gab viele Römer und auch Griechen, welche die Kultur der Kelten als barbarisch abtun. Aber dem war nicht so, denn sie war damit aufgewachsen, ihr waren hingegen diese Gladiatorenkämpfe völlig suspekt und noch viele andere Dinge.
    Leicht zuckte sie mit den Schultern. „Wir können dies wohl noch so viel hinterfragen wie wir wollen, aber eine befriedigende Antwort, warum manche Völker so viele Götter anbeten, werden wir wohl nie erhalten. Puh…“, machte sie. Seine Frage war dann doch nicht zu einfach zu beantworten. Ihr Glaube war einfach und komplex zugleich. „Ich bin Keltin und als solche habe ich den Glauben meines Volkes angenommen. Wir haben zwar auch einige Götter, wie zum Beispiel die große Mutter Erde, sie gibt und nimmt leben. Ihr verdanken wir das Wachstum und noch viele andere Dinge. Aber auf der anderen Seite gibt es auch Cernunos oder Taranis. Wir haben nicht ganz so viele Götter wie die Römer und eine völlig andere Vorstellung von deren Einfluss auf unser Leben!“

  • Das war ja klar gewesen. Phaeneas seufzte innerlich. Bisher war sein Leseverhalten auch immer noch zu erbärmlich, um sich durch Bücher über sein Herkunftsland zu informieren, das Land seiner Eltern, seine Heimat. Das Land, das ihm vollkommen unbekannt war. Bithynia. Nichts weiter als ein Klang, nichts weiter als eine Erinnerung seiner Mutter, die mit ihr gestorben war. Wahrscheinlich würde er nie etwas über dieses Land herausfinden. Im Grunde genommen hatte sich der Sklave längst darauf eingestellt. Aber ... eine kleine Hoffnung, eine gewisse Sehnsucht, ein leichtes Verlangen danach, etwas zu erfahren, blieb doch in ihm, würde wahrscheinlich in ihm fortleben bis er tot war.
    „Ja, dorther stamme ich“, ließ Phaeneas Alaina wissen. „Aber ich war nie dort ...“


    „Na ja, ich bin im Grunde genommen damit aufgewachsen, glaube aber trotzdem nicht ... so naiv“, wandte Phaeneas ein, fügte aber an: „Doch im Grunde genommen hast du recht. Mir ist in Germania in vieler Hinsicht bewusst geworden, wie römisch ich bin.“ Oh ja. Das war ihm in sehr vieler Hinsicht aufgegangen. Vieles von dem germanischen Gedankengut hatte ja durchaus seine Berechtigung und hatte Zustimmung von dem Sklaven geerntet, aber bei so manchem war Phaeneas sehr froh, wieder hier in italischen Gefilden zu sein. Vor allem germanische Moral war reichlich umständlich gewesen ... und lebensfern.
    „Und diese Götter vor allem mit einer so naiven Angst anbeten“, ergänzte Phaeneas. „Sollte ein Glaube dem Leben nicht Sicherheit und Stabilität geben?“
    „Ah, Keltin“, stellte der für sich fest. Bei der Schilderung ihres Glaubens hörte er aufmerksam zu. „Na, dann bin ich aber froh!“, meinte er auf Letzteres. Wenn man ihr bisheriges Gespräch betrachtete. „Aber ... welchen Einfluss haben sie auf das Leben der Menschen?“, wollte Phaeneas dann doch noch genauer wissen.


    In der Schrift ging es derweil so weiter:

    Dass Iuppiter oder Merkur sich so oder andere sich anders untereinander nennen und dass es eine himmlische Benennungsweise gibt: wer gibt da nicht zu, dass das bei Ausdeutung der Natur lächerlich ist. Dass das höchste Wesen, was es auch immer sein mag, sich um die Angelegenheiten der Menschen kümmert oder dass es durch eine so traurige und vielseitige Tätigkeit nicht beschmutzt wird: was davon sollen wir glauben oder bezweifeln? Es lässt sich kaum entscheiden, was den Menschen zuträglicher ist, da die einen die Götter überhaupt nicht, die anderen sie in beschämender Weise achten. Fremden Heiligtümern dienen sie und tragen Götter an den Fingern, auch Ungeheuer verehren sie, verbieten und ersinnen Speisen und unterwerfen sich selbst einer so strengen Herrschaft, dass sie nicht einmal im Schlaf Ruhe haben. Nicht Ehen, nicht Kinder, nicht überhaupt sonst irgendetwas wählen sie ohne die Hilfe von heiligen Handlungen. Andere üben Betrug sogar auf dem Kapitol und schwören Meineide beim blitzschleudernden Iuppiter, und den einen helfen ihre Verbrechen, die anderen werden von ihren heiligen Handlungen mit Strafen verfolgt.


    „Da, da haben wir’s wieder“, deutete Phaeneas auf das Ende dieses Absatzes. „Das ängstliche Besänftigen einer Angst, die letzten Endes nicht zu besänftigen ist. Und vor allem: Das sind freie Menschen, die sich so etwas antun. Nicht einmal ein Sklave muss sich beim Essen oder Heiraten nach etwas richten. Natürlich, was Plinius hier schildert, sind Extremfälle. Aber auch Extremfälle kommen vor.“

  • Auch wenn Phaeneas seine Enttäuschung zu verbergen suchte, gelang ihm dies nur im bescheidenem Masse. Sie konnte ihn nur zu gut verstehen, denn es war weit über zehn Jahre her, dass sie das letzte Mal ihre Heimat gesehen hatte. Doch mehr als den Verlust der Heimat, schmerzte sie es, kein zu Hause zu haben, niemandem der sich um sie sorgte oder um ihretwillen liebte. Auch lag dies wohl daran, dass sie jeden auf innere Distanz hielt, sie hatte Angst davor, verletzt zu werden, Schwäche zu zeigen oder einfach sich jemandem anzuvertrauen. Sie hatte eine turmhohe Mauer um ihre Gefühle aufgebaut, die Einsamkeit und auch ihre manchmal ruppige Art waren ihr Schutzschild.
    Leise Sehnsucht klang in seiner Stimme mit und sie nickte bedächtig. „Ich denke, ich kann nachvollziehen wie es dir geht“, sagte sie leise. Dabei zog sie ihre Knie an den Körper und betete ihren Kopf nachdenklich darauf. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. „Du würdest gern wissen wo deine Wurzeln sind“, meinte sie schlicht.


    Leise musste sie lachen, als er meinte er sei doch römischer, als er gedacht hatte. „Auf Reisen erfahren wir meist selbst mehr über uns, denn dann betrachten wir die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Manchmal sehen wir die Dinge dann klarer!“ erklärte sie ihm. Zumindest war es ihr immer so ergangen. Dennoch belog sie sich auch selbst, denn viele Dinge die sie über sich selbst erfahren hatte, wollte sie nicht wahr haben, verdrängte sie. „Ich habe gelernt“, begann sie, als er fragte, ob Götter denn nicht Sicherheit und Stabilität vermitteln sollten, „dass die Götter launische Wesen sind. Aber ich fürchte sie nicht, denn sie haben ebenso Schwächen wie wir. Meine Mutter sagte mir, als ich noch klein war: Rigani wird immer auf dich achten, du bis eines ihrer Kinder, ebenso wie ich es bin. Bringe ihr den Respekt, denn du auch mir bringst und sie wird sich als Dankbar erweisen. Ich glaube, dass wenn wir den Göttern Respekt und Dankbarkeit für ihre Schöpfung entgegen bringen, dass sie uns dann nicht zürnen. Die Römer fürchten ihre Götter, weil sie wohl oft genug an letzterem, der Dankbarkeit für die Schöpfung mangeln lassen!“ Es war eine gewagte These, aber ein versuch den Glauben der Römer zu verstehen. Indirekt hatte sie ihm damit auch auf seine Frage geantwortet, die nun folgte.
    „Nun Einfluss direkt auf unser Leben haben die Götter nicht. Aber wir bitten sie ebenso um Beistand wie alle Religionen es tun. Aber vor allem vergessen wir nicht unseren Göttern zu danken. Ich gebe dir ein Beispiel: Ich bin im Wald unterwegs und brauche Holz für ein Feuer. Natürlich sammel ich trockene Äste, aber zum Dank dafür, lasse ich etwas von meinem Proviant zurück, ein Apfel, ein Stück Brot. Nur das was ich entbehren kann. Im Grunde ist es ein Nehmen und eine Geben!“ Ob er das verstand, für sie war es verständlich, ein Außenstehender konnte schnell verwirrt sein.


    Phaeneas zog die nächste Schriftrolle hervor und wieder las sie über seine Schulter mit. Zwar lernte sie etwas über den Glauben der Römer, aber wirklich verständlicher war es für sie nicht. Nachdem sie geendet hatte, wartete sie darauf dass der Mann neben ihr fertig wurde. Aufmerksam lauschte ihn und zuckte dann ratlos mit den Schultern. „Glaube ist eine schwierige Sache und ich denke, dass viele ihren Glauben vorschieben um nicht die Verantwortung für ihre Taten übernehmen zu müssen. Denn eigentlich ist jeder für sein eigenes Leben verantwortlich. Doch gibt es auch Menschen, die diese Verantwortung scheuen und dann eben meinen, dass alles in den Händen der Götter liegt, so können sie jemand anderem die Schuld geben, wenn ihr Leben nicht so verläuft, wie sie es sich vorgestellt haben.“

  • Alaina glaubte, ihn verstehen zu können ... Ihre Stimme war leiser geworden und als sie, ihren Kopf auf den Knien, ihre Augen in die Ferne richtete, sah Phaeneas sie an. „Ita’st ... Ja, so ist es ... “, antwortete er genauso schlicht, aber vielsagend.
    Das hatte er ebenfalls an Germania gemocht, fast alle Germanen hingen sehr an ihrem Land. Römer kannten meist nur Arroganz gegenüber anderen Gegenden der Erde und bevorzugten deshalb ihr ureigenstes Territorium. Germanen dagegen hatten Phaeneas in diesem seltsamen Gefühl, der Sehnsucht, verstanden ... genauso wie jetzt Alaina.
    „Warst du dort? Warst du in deiner Heimat?“, fuhr er dann fort, sie weiter genau betrachtend.


    „Ja, das habe ich gemerkt“, bestätigte der Bithynier schmunzelnd ihre Feststellung. „Und ich habe dort gelernt, dass ich in mancher Hinsicht germanisch bin, ohne je zuvor dort gewesen zu sein.“
    Aber bald darauf wurde Phaeneas‘ Gesicht düsterer und seine Stimme klang bitter: „Launisch? Oh ja.“ Was Alaina aber weiter ausführte, erstaunte ihn. Schwächen? Götter? Diese Sichtweise war sehr römisch. Aber ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass die Unsterblichen ihre Fehler auf Kosten Sterblicher auslebten.
    Die Geschichte mit der Mutter war natürlich nett. Phaeneas‘ Mutter hatte ihm schließlich genauso ihre Weisheiten übermittelt, die der Bithynier nachwievor hütete wie einen kostbaren Schatz. „Dankbarkeit ... “, wiederholte er nachdenklich. Und bedachte diesen Gedanken in Hinblick auf sich selbst. Wie sollte ein kleines Kind, ein Baby, schon an Dankbarkeit missen lassen? Nein, bei ihm ging diese Überlegung nicht auf. In Folge der Umstände, die ihn seit Geburt empfangen hatten, hatte er sich den Göttern gegenüber vielleicht als nicht sonderlich dankbar erwiesen.
    Alaina bemerkte sicherlich, wie wenig Phaeneas wusste, was er antworten sollte.


    Mit dem, was sie dann sagte, konnte er mehr anfangen. Dass jeder die Verantwortung für sein Leben selbst trug, fand seine volle Zustimmung. Zugleich aber war letztere Formulierung ein in eine von Phaeneas‘ zahlreichen seelischen Wunden gelegter Finger. Denn auch obwohl er gerne die Verantwortung für sich übernahm, verlief sein Leben trotzdem in vieler Hinsicht nicht so, wie er es gerne hätte. Es war ein Sklavenleben ... So wie ein Sklavenleben zu sein hatte, ein Leben, das zu schätzen und zu verteidigen man dem Bithynier beigebracht hatte. „Für einen Sklaven trifft das nicht immer zu ...“, wandte er deshalb ein. „Dann hilft manchmal nur eines, dulden. Und ist es nicht auch im Leben aller anderen so, wenn es nicht gut läuft, dass dulden letzten Endes als einzige Möglichkeit bleibt?“

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