"Was genau machen wir jetzt eigentlich hier?", stellte Vala eine ziemlich dumme Frage, die ihm gleichzeitig aber notwendig vorkam, denn ihm ging die Geheimniskrämerei seines Begleiters mit zunehmender Dauer ihres Herumirrens auf dem aventinischen Hügel ziemlich auf den Sack. Linus hatte ihn mit wenigen Worten aus der Casa Prudentia gelockt, just als Vala sich darüber wunderte, wie Orpheus nur so dumm gewesen sein konnte, sich kurz vor Ende doch noch umzudrehen und seine Eurydike damit aus der Hand zu geben. Linus hatte das mit "Denk mal drüber nach.." abgetan, und ihm gesagt, dass an diesem Tag eine Lektion an der Reihe war, die fundamental für sein Verständnis von römischer Politik sein würde.
Was Vala nicht im geringsten erklärte, warum sie auf dem Aventin durch die Gegend liefen. Dessen nicht genug, bestand Linus darauf, seine Masquerade mit dem Stock weiter aufzuführen, was ihr Tempo ins unerträgliche verlangsamte. Sie sprachen auf dem Weg über dies und das, und Vala wunderte sich immer wieder, wie der alte Grieche aus Belanglosigkeiten aus seinem Leben bedeutungsschwangere Zusammenhänge konstruieren konnte. Oder vorgab, es zu tun.
Linus von Patrae
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Der alte Grieche wischte die Frage nur beiseite, und murmelte ein halbverständliches "Gleich sind wir da.", bevor er unvermittelt in eine Kurve einbog, die mehr wie ein Loch zwischen zwei großen Insulae aussah, denn wie eine wirklich gewollte Straßenführung.
Erst als Valas Nase einen Geruch aufnahm, der sich stark von dem Siff unterschied, der auf den aventinischen Straßen herrschte, bekam er eine Ahnung, warum sie herkamen: "Zum Tiber hätten wir auch am Quirinal gekonnt, macht es Sinn, durch die ganze Stadt zu laufen?"
Der Blick, den er für diese Frage erntete war vernichtend. Nein, schlimmer: hochmütig und herabblickend. Linus hatte es sich angewöhnt, Vala wie ein ungezogenes Kind zu behandeln, wenn er Dinge nicht verstand, oder einfach schneller redete als nachdachte. Und das schlimmste war: der alte Mann wusste, was er damit mit Valas Stolz anrichtete.
Wenige Minuten später standen sie vor enormen hölzernen Aufbauten, Lastkränen, Fluss- und Seemöwen stritten sich um Abfälle und geplatzte Behältnisse und links und rechts von ihnen erhoben sich gigantisch anmutende Lagerhäuser.
"Der Hafen...", erkannte Vala laut denkend, wohin ihn der alte Mann geführt hatte, während derselbe darauf verzichtete, dies wie normalerweise als gedankenlose Unbeherrschtheit zu tadeln.
"Richtig. Der Hafen.", sprach Linus triumphierend, und freute sich insgeheim sehr darüber, den Jungen überrascht zu haben, auch wenn er ihn später schelten würde, dass derlei Überraschungen irgendwann sein Tod sein könnten. Vala sog die Eindrücke dieses Fleckens Rom, den er noch nie gesehen hatte, wie ein Schwamm in sich auf, und war schier überwältigt von der Masse an Waren, die hier anscheinend jede Stunde umgeschlagen wurden. Linus trabte derweil munter weiter, während das rhythmische Klopfen seines Stocks auf Plasterstein vom Lärm des geschäftigen Hafentreibens übertönt wurde. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich durch die Masse an Arbeitern, Schiffseignern, Verwaltern und Bettlern hindurch an eine Stelle bewegt hatten, von der sie bequem den ganzen Hafen im Blick hatte, und dieser Anblick verschlug Vala schlicht die Sprache: es mussten tausende Quadrantales und Talenta sein, die hier umgeschlagen wurden. ZIGTAUSENDE.
"Nun, junger Duccius.", begann der Grieche mit dem für ihn typischen Erzählton, "DAS HIER ist Rom." Vala war dieses Mal schlau genug, nicht dumm nachzuhaken, und überließ es stattdessen seinem Lehrer, zu vermuten, dass der Junge Germane nicht die geringste Ahnung hatte, was er damit meinte: "Hier werden tagtäglich Unmengen an Getreide umgeschlagen, mit denen Rom ernährt wird. Dieses Schiff hier..", er deutete wahllos auf eines der Schiffe, die Flussaufwärts von Wind und Zugtieren in den Hafen geschleppt wurden, "..bringen das Korn, das in Aegyptus gedeiht, und von dort nach Ostia verschifft wird. Dieses Korn ermöglicht das Rom, wie wir es kennen. Der Kaiser lässt es aus seiner Provinz nach Rom schaffen, und verteilt es dort an die Bevölkerung. Warum tut er das, Alrik?"
Vala zuckte zusammen, als der Grieche ihn bei seinem germanischen Namen nannte. Das tat er normalerweise nur, wenn Vala in Gedanken abgedriftet war, und er hasste ihn dafür. Nicht, dass er seinen germanischen Namen nicht mochte. Aber dieser war ausschließlich seiner Familie vorbehalten, wenn überhaupt. Alrik war ein Mensch, den es seiner Meinung nach nichtmehr gab. Die Frage des Griechen stellte ihn schon vor eine schwerere Aufgabe, konnte Vala doch mit keiner Hilfestellung rechnen. Irgendwann, nach langwierigen Minuten in denen der alte Grieche passiv und emotionslos das Treiben des Hafens beobachtete, rang Vala sich zu einer Antwort durch: "Weil damit verhindert wird, dass die Bevölkerung Roms hungert, und sich vielleicht gegen den Kaiser erhebt?"
Linus nickte zufrieden, blickte Vala jedoch nicht an, als er weiter zu erzählen begann: "Das ist es, aber längst nicht alles. Korn bedeutet Macht. Früher, als die Menschen noch eigenes Land besaßen, und der Senat die Macht in Händen hielt, war das Leben in Rom ein ständiges Hin und Her in politischen Dingen. Aber wie in jedem Reich setzten sich auch hier die Eliten durch, erlangten immer mehr Grund, und selbst die Gracchen mit ihrem ambitionierten Programm scheiterten, obwohl es genau dem entsprach, was das Volk eigentlich brauchte. Aber die Eliten haben garkein Interesse daran, das Volk selbstständig und autark sein zu lassen. Denn damit wäre es schwerer zu kontrollieren. Dass der Princeps sich mittlerweile selbst gegen diese enorm mächtige Elite durchgesetzt hat, liegt in der Natur der Dinge: er kontrolliert das Korn. Er kann es sich leisten, das Volk zu ernähren, auch wenn es Unsummen verschlingt. Brot und Spiele, junger Duccius, Brot und Spiele. Gib dem Pöbel zu fressen, und er hungert nicht, gib ihm etwas zum beglotzen, und er denkt nicht nach. Wenn du das erreicht hast, hast du die Liste der Instanzen, die du kontrollieren musst erfolgreich verkürzt. Und der Senat ist damit einer seines größten Kräfte beraubt: der Meinungsmache. Denn wenn der Pöbel keine eigene Meinung hat, gibt es niemanden, der sie beeinflussen kann."
Vala brummte nur als Zustimmung, hatte er doch schon etwas ganz anderes im Sinn: eine Frau trieb sich zwischen einer in der Nähe werkelnden Menge an Hafenarbeitern herum, und der Anblick irritierte ihn dann doch.
"Junge, hörst du mir zu?", hakte der alte Mann nach, der dem Blick des Jungen folgte, und ebenso die Frau erblickte, "Was hab ich dir zum Thema Frauen gesagt? Ich kann dir den ganzen Tag die Geheimnisse der Res Publica vorpredigen, wenn du eine Frau siehst, ist das alles wieder weg! Ist das zu fassen?"
Linus schlug zu. Hart. Und nicht mit irgendwas: auf einmal offenbarte sich Vala, warum der alte Grieche seinen Stock so pflegte, denn das Holz krachte mit einem tumben Klang auf seinen Hinterkopf, und der junge Germane stolperte, vollkommen unvorbereitet getroffen, einen Schritt weit nach vorne, und lief Gefahr über die Kaimauer in den Tiber zu fallen. Der alte Grieche ließ sich jedoch nicht lumpen, und stupste Vala mit der Spitze seines Stocks sachte in den Rücken. Gerade genug, um Vala vollkommen seines Gleichgewichts verlustig werden zu lassen, und ihn mit einem lauten Platschen in den Tiber fallen zu lassen.
Als Vala wieder auftauchte, spie er eine ganze Armada an römischen und germanischen Flüchen gegen den Mann aus, und schimpfte aus dem Wasser heraus wie ein Rohrspatz gegen die Dreistigkeit des alten Mannes.
"Das wird dich lehren, in meinen Stunden mit dem Sack zu denken, anstelle mit dem Kopf!", witzelte Linus vergnügt auf seinen Stock gelehnt an der Kaimauer stehend und mit einem süffisanten Blick auf Vala herabblickend.
Wenn eine Grazie der Auslöser dieses Fauxpaxs sein möchte, ist sie hiermit herzlich eingeladen.