alicubi | Vom Unterschied zwischen Veilchen und Orchidee

  • War Corvinus gerade eben noch wütend gewesen, verschloss er sich nun wieder. Siv meinte es beinahe sehen können, und es ließ sie ohnmächtig und hilflos zurück. Warum tat er das immer? Sie verstand es einfach nicht, verstand nicht, warum er nicht wenigstens ihr gegenüber seinen Gefühlen freien Lauf ließ, abgesehen von den Momenten, in denen sie ihn so sehr reizen konnte, dass seine Wut zu groß wurde. Hilflos sah sie dabei zu, wie sein Gesicht wieder kühler wurde, abweisender, bis die letzten Spuren von Wut verschwunden zu sein schienen, so gänzlich, als sei sie nicht mehr – so gänzlich, als sei sie durch etwas anderes ersetzt wurden. Ihre Worte hatten nicht den von ihr gewünschten Effekt. Sie lösten weder Freude bei ihm aus noch Widerspruch, nichts, was auf Gefühle schließen ließ, die sie hoch loderten, dass sie einen verbrannten und fast zerrissen. Siv kannte Corvinus, sie wusste, wie er war, und doch war sie in dieser Hinsicht so anders, dass es ihr immer noch schwer fiel zu begreifen, wie er sich so sehr beherrschen konnte.


    Und als er sie nun erneut ansah, war sie wieder da, die Maske. Seine Stimme klang… gleichgültig, schrecklich gleichgültig, als er meinte dann solle sie eben bleiben. Unwillkürlich wich Siv einen Schritt zurück, dann noch einen. Sie wollte nicht bleiben, wenn es ihm egal war. Wenn es ihn nicht kümmerte. Sie starrte ihn an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie fand keine Worte, und während sie ihn ansah, bemerkte sie, dass die Maske nicht ganz so perfekt zu sein wie sonst. Sie schien bröckeln zu sehen an den Rändern. Seine Lippen waren aufeinander gepresst, wirkten fast verbissen, und den Ausdruck in seinen Augen konnte sie nicht deuten – aber es war nicht Gleichgültigkeit. Noch nicht einmal gespielte. Sie hob eine Hand, in einer hilflosen Geste, die sie nicht vollendete, wandte sich dann ab und machte ein paar frustrierte Schritte, die sie beinahe über den Weinbecher stolpern ließen. Wütend kickte sie ihn noch weiter zur Seite, während sie ihrer Frustration in einem Aufschrei Luft machte und sich mit beiden an den Kopf griff, in die Haare. Der Schmerz, der in ihrer Kopfhaut aufblitzte, brachte sie wieder ein wenig zur Ruhe, und sie ließ die Hände wieder sinken, starrte auf den roten Wein, der sich am Boden ausgebreitet hatte und nun auch am Saum ihrer Tunika leckte. Sie sah ihn nicht an. Sie hatte Angst davor, dass die Maske nun endgültig perfekt sein könnte. "Was willst du? Wirklich? Willst du, dass ich gehe? Wenn ja, wenn du das willst, dann…" Dann würde sie sich etwas überlegen müssen. Sie wollte nicht aufgeben, nicht so schnell, nicht so leicht. Aber es war nicht schnell und nicht leicht. Wie häufig waren sie beide schon an diesem Punkt gewesen, wie häufig hatte sie diesen Kampf schon gefochten? Sie kämpfte ja schon seit Jahren darum, dass er zu dem stand, was er für sie fühlte, nicht vor anderen, aber vor ihr. "Ich will nicht gehen. Aber… bleiben… Bleiben ist schwer, wenn du das nicht auch willst."

  • Die Wicklung meiner toga löste sich allmählich in Wohlgefallen auf, als ich den Arm achtlos sinken ließ und die darübergelegten Falten sich in Wohlgefallen auflösten. Der Stoff war ohnehin ruiniert, was machte es da schon, wenn sich die Falten auf dem weinglitschigen Boden türmten? Mir wurde bewusst, dass ich mich in gewisser Weise selbstkasteite. Warum stand ich immer noch hier und setzte mich dieser Situation aus?


    Gerade, als ich mich dazu entschlossen hatte, zu gehen, wandte jedoch Siv sich von mir ab und trat zurück. Mein Blick folgte ihr, ruhte auf ihr, als sie den Blick senkte und ich nurmehr ihr golden umrahmtes Profil betrachten konnte. Was ich wirklich wollte? Ich schloss gezwungen die Augen und hob das Kinn an, um tief die leicht nach Kohle riechende Luft einzuatmen. "Es geht hier nicht darum, was ich will, Siv", entgegnete ich leise und ließ noch einen Moment verstreichen, ehe ich den Kopf wandte und sie ansah. "Das ging es nie, und ich habe nun nicht mehr das Recht, dir Vorschriften zu machen. Du kannst nach Hause gehen, vorher oder...nachher. Du kannst hierbleiben, bei...in...in diesem Haus, in Rom. Du kannst jetzt tun, was du für richtig hältst." Ich schluckte den Kloß hinunter, zumindest versuchte ich es. Es gab etwas, auf dass ich hinweisen musste. "Du kannst bei mir bleiben. Und bei Celerina."

  • Siv schloss die Augen, als sie seine Stimme hörte. Er begriff es nicht. Es ging nur um das, was er wollte. Sie kannte die Realität, sie machte sich nichts vor, aber in diesem Augenblick, was diese Entscheidung betraf, was sie beide betraf, ging es nur darum. Für sie betraf, ging es nur darum. Was sollte sie denn hier, wenn er sie nicht wollte? Oh, sie konnte sich weiter um den Garten kümmern. Brix helfen. Ihr Kind bekommen und großziehen. Und irgendwann daran zugrunde gehen, dass er sie ignorierte, weil er nicht gewollt hatte, dass sie blieb. Einer ihrer Mundwinkel bog sich um eine Winzigkeit nach oben, in der Andeutung eines sarkastischen, zugleich bitteren Lächelns. Sie hatte getan, was sie für richtig hielt. Damals in Germanien, bei ihrem Fluchtversuch, der nur deswegen gescheitert war, weil sie realisiert hatte dass sie bei ihm bleiben wollte. Dass sie ihn liebte. Und sie hatte Hels Reich durchquert wegen dieser Entscheidung, oder jedenfalls kam es ihr so vor, selbst im Nachhinein betrachtet.


    Als dann Celerinas Name fiel, konnte sie ein Zusammenzucken nicht unterdrücken. Die Flavia. Sie wusste doch, dass die Flavia hier war, dass sie nicht verschwinden würde, dass sie seine Frau war. Sie wusste, dass sich daran nichts ändern würde, nur weil sie jetzt frei war. Es war völlig unnötig, das zu erwähnen, fand sie. "Ich weiß. Aber das ist nicht wichtig. Darum geht es nicht." Jetzt sah sie auf, sah ihn an. Wieder meinte sie Tränen in sich zu spüren, während gleichzeitig immer noch Wut in ihr brodelte. "Die Wiege", sagte sie unvermittelt. Diese wunderschöne, kostbare Wiege, die in ihrer Kammer stand. "Warum hast du die Wiege geschenkt? Und das Buch, aus deiner Kindheit. Und das hier." Ihre Hand legte sich auf ihren Hals und holte die Kette mit dem zierlichen Pferdeanhänger hervor. Alles Geschenke, die etwas bedeuteten. Die davon zeugten, dass er sich Gedanken gemacht hatte, was ihr wirklich gefallen könnte – oder die ihm viel bedeuteten. Keiner schenkte solche Dinge einfach nur so. Das Pferd ließ sie sich noch eingehen, auch wenn er ganz zu Anfang noch gar nicht gewusst haben konnte, nicht von ihr, wie sehr sie Pferde liebte. Aber das Buch trug deutliche Spuren von der Liebe, die es erfahren hatte von dem Jungen, dem es gehört hatte. Und die Wiege… Siv ging wieder einen Schritt auf ihn zu, noch einen, und sah ihm in die Augen, suchend, fordernd, und vielleicht ein klein wenig bittend. "Es geht nur um das, was du willst." Sie hob zögernd eine Hand. "Für mich. Du weißt doch, was ich denke." Sie hatte sein letztes Angebot, sie freizulassen, nicht aus einer Laune heraus abgelehnt. Gerade er sollte das wissen. Ihre Hand senkte sich und legte sich auf seine Brust, auf Höhe seines Herzens, dort wo der Fleck war, auf der Tunika nur schwach sichtbar, weil die Toga den größten Teil aufgesogen hatte. "Ich liebe dich." Plötzlich fühlte sie sich unglaublich verwundbar. Verletzlich. So selten sprach sie diese Worte aus, obwohl kein Tag verging, an dem sie nicht spürte, dass es genau so war. Es auszusprechen, war noch einmal etwas anderes als es nur zu zeigen, und es war etwas völlig anderes, es so auszusprechen wie jetzt, nicht im Halbschlaf, wenn sie schon am Wegdämmern war, sondern so klar, so bewusst. Es machte verletzlich. Mehr noch, weil sie wusste, dass er damit nicht umgehen konnte. Dass er es nicht hören wollte. Plötzlich saß in ihrer Kehle ein riesiger Klumpen, und ihre Finger begannen zu zittern, als sie sie von seiner Brust zurückzuziehen begann.

  • Die Erwähnung Celerinas schien die gewünschte Reaktion nicht zu haben. Zwar zuckte Siv zusammen, aber sie erwiderte sogleich, dass es nicht wichtig war. An ihrer Stelle wäre ich, soweit ich mich überhaupt in sie hineinversetzen konnte, wohl deutlich anderer Meinung gewesen, und aus diesem Grund glaubte ich ihr kein Wort.


    Dann kam sie vollkommen unvermittelt auf die Wiege zu sprechen. Ein schneller Themenwechsel, der mich ein wenig aus dem Konzept brachte. Ich runzelte die Stirn. Die Wiege, das Kinderbuch, der Anhänger. Warum ich ihr diese Dinge geschenkt hatte? "Weil", begann ich, ehe ich mitten im Satz realisierte, dass ich eigentlich keine Antwort darauf hatte. Weil man solche Dinge eben verschenkte, wenn es Zeit und Gelegenheit dazu gab? Ich blinzelte derangiert, blickte ein wenig zur Seite und auf den Boden. Als ich eine unverfängliche Antwort auf die Frage nach dem Warum gefunden hatte, sah ich Siv wieder an. Sie hielt das schlanke Silberpferchen an seinem Lederband immer noch, ließ es dann los. "Weil ich es wollte."


    Man mochte denken, ich sei schwer von Begriff. Man mochte denken, ich sei den kalten Gletschern nicht unähnlich, die in den Alpen zu finden waren. Die Wahrheit aber war, dass ich sehr wohl verstand, dass Siv versuchte, mich zum Reden zu bringen. Zum Reden über das, was in mir vorging, über Empfindungen und Gefühle. Nun war es so, dass ein Römer jedoch dahingehend erzogen wurde, sein Innerstes sorgsam zu verschließen und zu verbergen. Sicherlich gab es hierin weniger Begabte und solche wie mich. Ich war nicht immer dazu imstande gewesen, empfindsame Regungen zu verbergen, und es gab Dinge, die beherrschten mich noch mehr als ich sie. Die Wut beispielsweise. Geriet ich in Rage, konnte ich sie unmöglich vor anderen verbergen. Erst recht nicht, wenn sie mir nahe standen. Das war ein Makel, der an mir haftete, und ebenso war es wohl ein Makel, dass ich seit dem Schmerz, der auf den Tod meiner Mutter und den Freitod meines Vaters gefolgt war, möglichst keine anderen Gefühle mehr an mich heranließ. Ich war ein Römer, verdammt, also was war falsch daran? Es war eine römische Tugend, nicht sentimental zu sein! Siv kannte mich. Siv wusste eigentlich, dass ich mit solchen Dingen nicht umgehen konnte, und doch wurde sie es nicht müde, mich ständig damit zu konfrontieren. Oder tat sie es genau aus diesem Grund? Und seit meiner Hochzeit mit Celerina buhlte auch sie um Zuneigung, um Liebe. Gleich in der Hochzeitsnacht hatte sie mich gefragt, was ich empfand. Und wenn es nicht Liebe war, ob ich sie wohl jemals würde lieben können. Warum gaben sie sich nicht damit zufrieden, wie ich war? Auch mit Ursus eckte ich immer wieder deswegen an. Er sah stets nur das Schlechte in mir, so glaubte ich. Zum Teil war es mein Eigenverschulden, das wusste ich, weil es mir eben nur mit dem Zorn so unsäglich schwer fiel, ihn zu verbergen, und weil man ob dessen glauben mochte, Ingrimm sei das einzige tiefe Gefühl, dessen ich fähig war.


    Der Blick war kurze Zeit in weite Ferne gerichtet gewesen, und ich gelangte nur durch die Bewegung zurück auf den Boden der Gegenwart, die Siv machte, als sie sich mir wieder näherte. Ich wollte wegsehen, doch der Blick, mit dem sie mich bedachte, hielt den meinen fest. Bei ihren Worten zog ich eine gequälte Grimasse und drehte den Kopf leicht fort, den Blick aber konnte ich einfach nicht losreißen von ihr. Ich fühlte mich, als müsse ich ohne Umschweife zerspringen, in tausende und abertausende Scherben, die alsdann weingetränkt sich im tablinum würden verteilen, wenn ich nur noch einen Moment länger ihr Stand hielt. Ihre flache Hand auf meinem Herzen war - es war - zu viel - einfach zu viel! Ich schloss gepeinigt die Augen, hielt den Atem an, wie um mich in mein Schicksal zu fügen und augenblicklich zu zerreißen, doch...nichts passierte.


    Ihre Hand war warm. Mein ganzer Körper stand unter Spannung, war zum Zerbersten gespannt, auch, als sie in vollem Bewusstsein behauptete mich zu lieben. Ich stand so eine Weile herum, einer erstarrten Salzsäule nicht ganz unähnlich. Die Hände, das bemerkte ich jetzt, waren zu Fäusten geballt. So sehr, dass die Nägel in die Innenflächen der Hand schnitten. Ich lockerte sie ein wenig, öffnete gleichsam die Augen und blickte langsam hin zu Siv, ohne jedoch den Kopf zu drehen. Die Anspannung war keinesfalls vergangen, schien sogar noch zugenommen zu haben. Ich realisierte, dass ich noch immer nicht atmete, und korrigierte diesen Missstand mit einem leisen Keuchen. Eine ganze Weile stand ich einfach nur da und atmete. Dann schüttelte ich den Kopf, so langsam, dass es nur schwerlich als echtes Kopfschütteln gewertet werden konnte, und ohne den auf Sivs Augen gehefteten Blick fortzunehmen. Der Ausdruck, mit dem ich sie bedachte, zeugte wohl von innerem Kampf, von Pein, vielleicht auch von einer Spur Angst und dem Gefühl, zum Scheitern verurteilt zu sein. Einem Außenstehenden wäre es vermutlich nicht einmal aufgefallen, wie schlecht es mir ging. Ob Siv es sah, wusste ich nicht. Ich wusste ohnehin nichts. Nicht war ich tun sollte, nicht wie ich weiterhin würde bestehen können mit all dieser Misere, mit all meinen Fehlern - von denen der schlimmste für mich justamente wohl der Umstand sein mochte, nicht zu einer Umarmung fähig zu sein in diesem Moment.

  • Siv wusste nicht, was sie noch tun sollte. Sie war am Verzweifeln. Sie verstand nicht, warum er nicht einfach sagen konnte, was sie ihm bedeutete – denn dass sie ihm etwas bedeutete, das war doch offensichtlich. In manchen Moment zumindest. Natürlich hatte er ihr etwas schenken wollen, aber warum, und warum ausgerechnet diese Dinge, das beantwortete er ihr damit nicht. Aber immerhin schien sie ihn nun ein wenig aus dem Konzept gebracht zu haben mit ihrer Frage, gemessen an der Zeitspanne, die er schwieg, bevor er ihr schließlich diese unverfängliche Antwort gab. Im Anschluss daran sah er wieder weg. Sein Blick schien in weite Ferne zu schweifen, und Siv konnte nur ahnen, was gerade in ihm vorgehen mochte. Erst als sie auf ihn zuging, wandte er sich wieder ihr zu, aber er sagte nichts. Nichts auf ihre Berührung. Nichts auf ihre Worte. Nichts auf ihr Ich liebe dich. Sie hatte es geahnt, gewusst, dass er darauf nicht reagieren würde. Ganz egal, was er tatsächlich für sie empfand – und so sicher Siv sich manchmal war, absolute Sicherheit hatte sie nie, konnte sie nicht haben –, er konnte es nicht aussprechen. Es war ein Teil von ihm, machte ihn mit zu dem, der er war – den, den sie liebte. Auch wenn sie sich bei Hel wünschte, er könne einmal über seinen Schatten springen. Ein einziges Mal nur.


    Eine Reaktion bekam sie allerdings doch, irgendwie. Plötzlich, unerwartet für sie, keuchte er leise auf, und in seinen Augen schienen zu lodern. Siv schnitt es ins Herz, den gequälten Ausdruck darin zu sehen, und ihre zitternde Hand, die schon auf dem Rückzug gewesen war, blieb auf seiner Brust legen. Er konnte es nicht sagen. Konnte nichts von dem sagen, was in ihm vorging, was er fühlte, und würde es vielleicht nie können. Es war keine neue Erkenntnis für sie, aber zu sehen, wie sehr er sich damit selbst verletzte, das war es, was sie ebenfalls schmerzte. Sie presste kurz die Lippen aufeinander und senkte ihren Blick. Sie wollte ihm helfen, so gern, aber das einzige, was ihr in den Sinn kam, wäre darüber zu reden, ihn dazu zu bringen, die Gefühle einfach hinauszulassen – und genau das konnte er nicht. Siv schloss die Augen, neigte den Kopf nach vorn und legte ihre Stirn auf seine Brust, berührte ihn aber sonst nicht. "Ich will nicht gehen, Marcus", murmelte sie. "Ich will nicht weg." Von dir, fügte sie in Gedanken hinzu, aber das sprach sie diesmal nicht aus. Ohnehin war es klar, für sie jedenfalls – und Corvinus sah nicht so aus, als ob er noch mehr vertragen könnte. Im Gegenteil schien er jemanden zu brauchen, der einfach nur da war, ohne Erwartungen, ohne Ansprüche.

  • Irgendwann legte Siv ihre Stirn an meine Brust. Die Stelle schien zu brennen, und doch hielt ich stand, obwohl der Fixpunkt nun nicht mehr da war, an den ich bis eben meinen Blick geheftet hatte. Ich hörte, was sie sagte, und ich glaubte auch, das Unausgesprochene zu hören. Sie erwähnte nicht, dass sie wegen mir bleiben wollte - und es war mir bewusst. Ebenso, wie dass es an mir lag, sie zu umarmen. Es wäre natürlich gewesen, menschlich und, nun ja, richtig. Wo ich sonst jedoch relativ schnell bei der Sache war, so war mir in diesem Moment, in jener Situation allerdings jegliche Berührung, die Eigeninitiative voraussetzte, unmöglich. Im Gegenteil, mit jedem Herzschlag war diese...diese aufopferungsvolle Nähe Sivs mir mehr unerträglich. Ich blieb dennoch stehen, zwang mich zuwenigst zu diesem Eingeständnis, wenn ich auch sonst nur ein innerlich kümmerliches Exemplar eines Menschen war - zumindest, was die Gefühle anging. Ich vermutete, mir dessen noch nie so sehr bewusst gewesen zu sein wie in gerade diesem Augenblick.


    Ob das vielleicht die Kehrtwende war? Soweit mochte ich nicht denken. Dennoch zuckten meine Mundwinkel, teilten sich die Lippen. War Siv mein Strohhalm? Verständnislos blinzelte ich, ohne dass es jemand bemerkt hätte, zutiefst verwundert und zugleich verschreckt vor diesen wirren Gedanken. Wenn es so war, und ich mich ihr tatsächlich öffnen konnte, warum war es dann so schmerzhaft? Warum kamen die Worte nicht heraus, die mir im Sinn herumschwirrten? Immerhin, "Ich.." Doch mehr entwich dem Schraubstock nicht, in den ich mich selbst eingespannt hatte. Nur "Ich...ich..."! Gar kümmerlich, für einen Römer, für einen Senator, und erst recht für einen Mann! Erneut versteifte ich mich, hob dann mechanisch die Hände und fasste Siv an den Oberarmen. Ich konnte sie nicht ansehen, ihr nicht ins Gesicht sehen. Dispiter, ich schämte mich so sehr! Und das machte mich wütend, mein eigenes Unvermögen, selbst...selbst Siv gegenüber. Ich stieß die Luft aus meinen Lungen, schob Siv zur Seite und sah sie immer noch nicht an. "Ich kann das nicht", schnappte ich mit rauher Stimme. Jede Lüge wäre mir leichter von den Lippen gegangen als das, was sie hören wollte! Ich wandte mich ab. Riss mit der Linken auch noch den Rest des Stoffgewühls von der rechten Schulter. Ein Zipfel der toga bedeckte den Becher.


    Ich fühlte mich nun wieder freier, nicht so beklommen wie gerade noch. "Wenn du bleiben möchtest, bleib", sagte ich matt zu einer Weinpfütze auf dem Boden. "Aber ich kann nicht das sein, was du willst." Ich presste die Lippen aufeinenader, hielt es nur noch einen winzigen Moment in dieser Haltung, hier in diesem Raum aus. Dann stieß ich mich ab und verließ das tablinum - samt seinem Durcheinander, wie ich hoffte, auch wenn ich das Wirrwar in meinem Kopf mit mir nahm in meine Gemächer. Ich wusste schon, warum Gefühle besser tief in einem vorborgen blieben. Zu was ein allzu freigiebiger Umgang damit führte, hatte ich bei Helena gesehen, meiner Base. Ihr versuchter Selbstmord war mir noch gut in Erinnerung geblieben, ebenso die unglücklichen Briefe, die sie ab und an aus Korfu vom Landsitz ihres Ehemannes schickte. Um alles auf der Welt wollte ich einer möglichen Wiederholung eines solchen Zwischenfalls vorbeugen, und wie gelang mir das besser, indem ich alles so weit verschloss, dass selbst ich nicht mehr richtig heranreichte?


    Als die Tür zu meinem Schlafgemach ins Schloss fiel, wurde ich mir der Einsamkeit bewusst, in die ich mich damit selbst verfrachtete. Stille staute sich in der Luft, sickerte durch jede Pore meiner Haut und erstickte auch noch den letzten Keim der tiefen Zuneigung, die ich Siv zuvor versucht hatte, zu offenbaren.

  • Siv blieb, wie sie war. Sie erwartete nicht einmal, dass er seine Arme um sie legte, nicht in diesem Augenblick – nicht so, wie er gerade ausgesehen hätte. Hätte sie geahnt, dass sie ihn sogar mit dieser Geste unter Druck setzte, dass er ihre Nähe als aufopferungsvoll empfand, sie wäre von ihm zurückgewichen wie vor einer giftigen Schlange. So aber blieb sie einfach, wo sie war – bis sie etwas hörte. Ich… Sie öffnete ihre Augen, verharrte aber in ihrer Position, ungewiss über das, was nun kommen mochte. Ein Teil, ein kleiner, dafür umso starrsinnigerer Teil ihrer Selbst hoffte wider jedes bessere Wissen, dass er sagen würde, wonach sie sich sehnte: ich will, dass du bleibst. In dieser kurzen Zeitspanne wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr sie sich nach diesen Worten sehnte – wie sehr sie sich nicht nur danach sehnte, sondern auch, wie sehr sie sie brauchte. Aber die Worte kamen nicht. Stattdessen umfassten seine Hände ihre Arme und schoben sie schließlich fort von sich, ohne sie anzusehen. Aber schlimmer noch als die rauen Worte, die darauf folgten, war das, was danach kam. Die Mattheit, die Hoffnungslosigkeit, die in seiner Stimme mitschwang als er ihr sagte, sie könne bleiben. Als er ihr sagte, er könne nicht sein was sie wollte. Jetzt war es so weit. Jetzt, als sie diese Worte hörte, spürte sie, wie verletzbar sie sich zuvor gemacht hatte, als sie diese verhängnisvollen drei Worte ausgesprochen hatte.


    Sie blieb stehen, wo sie war, während er sprach, während er den Boden anstarrte, während er sich umdrehte und schließlich den Raum verließ. Sie blieb auch noch stehen, als er schon längst gegangen war, und schließlich, langsam, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Kein Laut war zu hören, kein Schluchzen, noch nicht einmal hörbares Atmen. Lautlos liefen die Tränen über ihre Wangen, während sie auf die Tür starrte, die Stelle, wo er verschwunden war. "Du bist es aber", wisperte sie irgendwann. "Bei Hel, du bist es einfach. Ganz egal, was du von dir hältst, warum begreifst du das nicht." Müde, nicht körperlich, aber geistig, seelisch, drehte sie sich um und begann, den Becher aufzuräumen und den Wein aufzuwischen, aber irgendwann ließ sie sich einfach ihn der Nähe eines Kohlebeckens auf dem Boden nieder. "Warum machst du’s nur so schwer…" Sie starrte in die Flammen, wehrte sich innerlich gegen Gedanken, die sich ihr ohne ihr Zutun aufdrängten, wehrte sich, konnte aber doch nicht verhindern, dass sie durch Ritze ihrer inneren Abwehr sickerten und sich einnisteten. Was sollte sie denn hier, wenn er sich tatsächlich noch nicht einmal ihr gegenüber durchringen konnte ihr zu sagen, dass er wollte, dass sie blieb – egal was für Schwierigkeiten das bringen mochte? Sie ging nicht einmal davon aus, dass sie ihm gar nichts bedeutete – aber wie viel konnte sie ihm denn tatsächlich bedeuten, so wie er sich verhielt? Wie sehr konnte er wollen, dass sie blieb? Wenn er, der der Grund dafür war, ihr nicht einmal zeigen, geschweige denn sagen konnte, dass er es auch wollte – gleich aus welchen Gründen – was für einen Sinn machte es denn dann zu bleiben…

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!