I -II
Der kapitolinische Hügel war einer der besten Orte in Rom, um seiner eigenen Nichtigkeit sich bewusst zu werden, nicht nur ob des imposanten und in seiner Größe einschüchternden Tempels der kapitolinischen Trias wegen, sondern gleichsam des grandiosen Ausblickes auf die endlose Stadt hinab, sowie des schroffen tarpeischen Felsens, an welchem ein Schritt das Finitum der Endlichkeit konnte herbeiführen. Gracchus brauchte seiner Nichtigkeit nicht erst sich bewusst zu werden, trug er sie doch seit seiner Kindheit bereits tief im Herzen, hatte nie vollbracht, sie aus sich zu vertreiben, hatte keinem Schritt, keinem Erfolg seines Lebens je so viel an Bedeutung zukommen lassen, dass es dazu hätte gereicht, sie zu überdecken - und dennoch genoss er den Anblick des unermüdlichen Treibens, des nie endenden Getümmels drunten im Tal unter ihm, ließ das immerwährende, gleichförmige Leben der Stadt ihm doch ein wenig Ruhe, ein wenig Leichtigkeit einziehen in sein Gemüt. Seit Tagen ließ die Schwere nicht ab von ihm, füllte seinen Geist mit diffusem Nebel, seit Nächten wälzte er sich unruhig, träumte von diesem Ort - in stets differenter Art und Weise, doch stets mit dem gleichen, endgültigen Ende -, oder dämmerte nur verloren dahin, suchte etwas zu entkommen, das in ihm war, das keinen Namen kannte und nicht sich fassen ließ. Tagtäglich suchte er abseits der pflichtschuldigen Sollerfüllung aus dem gesellschaftlichen Leben sich zurückzuziehen, wiewohl er selbst in diesem flachen Gewässer der Sollerfüllung ein jedes Mal elendig ertrank, dem steinbeschwerten Nichtschwimmer in der stürmischen Gischt aufbrausender Hochseefluten gleich. Bisweilen beschlich das Gefühl ihn, die Welt überhole ihn nurmehr beständig, die Realität rausche an ihm vorbei in einer gänzlich anderen Dimension der Zeit als diese in ihm selbst zerrann, als würde alles und alle um ihn herum stromlinienförmigen Fischen gleich durch den oceanos des Lebens pflügen, während er selbst behäbig, mit schweren, voll Wasser gesogenen Stoffen behängt über den unebenen Grund watete, im sandigen Schlick stolpernd und festhängend, kaum voran kommend. Manches mal schien jeder Tag ihm nurmehr wie ein Kampf - ein Kampf seines Geistes gegen seinen Leib, ein Kampf seines Leibes gegen sein Gemüt, ein Kampf seines Gemütes gegen seinen Geist - nichts wollte in ihm noch ineinander greifen, sein Selbst in seiner Ganzheit pendelte zwischen Disharmonie und Dysbalance hin und her, allfällig winzige Augenblicke in der erlösenden Schwebe verharrend, so winzig, so marginal, dass sie längstens nicht mehr für ihn zu greifen waren, er eines ausgeglichenen Zustandes nicht einmal mehr sich konnte entsinnen. Fahrige Rastlosigkeit trieb ihn um im einen, schwere Trägheit im anderen Augenblicke, stets gewürzt mit dem Beigeschmack der Sinnlosigkeit, dem Wunsch danach sich einfach nurmehr fallen zu lassen - denn Fallen musste sein wie Fliegen, nur dass bei ersterem irgendwann der Moment des Aufpralls würde kommen, jener Augenblick, in welchem alles endlich, alles nichtig würde sein - die Kälte, der Schmerz, die Hoffnung, der Trübsinn, das Bangen und Warten, die längst verblasste Erinnerung, wie auch alles hernach. Einmal noch durch die Lüfte segeln, die fedrigen, graufarbenen Schwingen reglos im Winde, den Schnabel stolz empor, und dann nurmehr aufprallen, zerschmettern, zerbersten. Nichts, das bleibt. Nichts bleibt. Ohne Furcht vor der Höhe trat Gracchus an die Kante des tarpeischen Felsens heran und blickte hinab zum weit entfernten steinernen Grund unter ihm, auf welchem schon manch römischer Leib war zerschellt. Er wünschte sich, seinem Leben in Achaia ein Ende gesetzt zu haben, fort von aller Schmach, fort von allem gierigen Blecken, welches in Rom über jedes Andenken würde herfallen, still und leise, eines Römers würdig. Doch nicht einmal dazu war er fähig gewesen, wie zu nichts sonst, das je seinem Leben hätte zur Ehre gereicht. Langsam schob er mit der Spitze des ledernen Schuhs einen Kiesel zum Rande des Felsens, gab ihm einen Schub, dass der Stein über die Kante hinweg rollte, einen marginalen Augenblicke in Schwebe verharrte, ehedem die Anziehung der Erde ihr übriges tat, ihn lockend zu sich hinab rief.
'Eins … zwei … drei ...'
, zählte Gracchus stumm den Fall des Kiesels, bis dass dieser aufschlug auf dem steinernen Grund, sich zur Ruhe legte neben zahlreichen seiner Art. Drei Augenblicke, ein Leben zu bedauern, drei Augenblicke, eine letzte Entscheidung zu bereuen, drei Augenblicke zu erinnern oder zu vergessen. Drei Augenblicke, und alles, was dem Geiste bedeutsam erschien, würde der Nichtigkeit erliegen. Nurmehr fallen und nichts, das bleibt. Nichts bleibt. Nichts.