Etwas gelangweilt strich Nigrina durch die Gänge der Villa Flavia. Es galt, ihr neues Heim in Augenschein zu nehmen, kennen zu lernen. Auch wenn ihre Zeit hier von vornherein begrenzt war, das war noch lange kein Grund, sich hier erst mal hängen zu lassen. Und sie wusste ja auch nicht, wie lange die Verhandlungen dauern würden. Am Ende vermasselte Piso noch irgendetwas, was den ganzen Prozess in die Länge ziehen würde. Sie strich also durch die Gänge – selbstverständlich in Begleitung von Sklaven – und ließ sich erklären, was wo war, bis sie schließlich die Exedra erreichte und hinaus in den Garten trat. Das Wetter war traumhaft, dennoch beschloss Nigrina nach einem kurzen Rundgang, sich auf einer Liege in der Exedra nieder zu lassen. Hier konnte sie auch die Sonne genießen, und nachdem sie die Villa erkunde hatte, konnte der Garten auch noch etwas warten. Mit einem fast lautlosen Seufzen schloss sie die Augen und winkelte ein Knie leicht an. Sie war bei Vera gewesen am vorigen Tag. Und Piso hatte tatsächlich nicht untertrieben. Nigrina war… nun, sie gestand es sich ungern ein, aber sie war schockiert gewesen über den Anblick, der sich ihr geboten hatte. Vera war tatsächlich nicht ansprechbar gewesen, hatte kein Anzeichen gegeben, dass sie ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt hatte. Das gefiel Nigrina naturgemäß überhaupt nicht, und obwohl sie wusste, welch enges Verhältnis Vera und Piso miteinander verband, hatte doch ein winziger Teil in ihr geglaubt, sie, ihre Anwesenheit, könne sicherlich bewirken was sonst keiner geschafft hatte – nämlich dass Vera wieder zurückkehrte aus dem Traumreich, in dem ihr Geist wandeln mochte. Sie hatte es sich sogar ausgemalt, während sie neben Vera gesessen und ihre Hand gehalten hatte, stumm und mit ernstem Gesichtsausdruck. Sollten die Sklaven, die anwesend gewesen waren, nur herumerzählen, wie besorgt sie um ihre ältere Schwester war, wie sie sich kümmerte. Ihre Gedanken lesen konnte keiner, und in eben jenen Gedanken hatte sich die Vorstellung, in der sie wundersamerweise ihre Schwester zu wecken vermochte, abgewechselt mit lautlosen Tiraden, dass sie ihre Zeit wahrhaft besser verbringen konnte als sie hier mit einer Komatösen zu verschwenden, die vermutlich nicht einmal merkte, dass sie hier war, von einer Reaktion ganz zu schweigen.
Sie musste ihrem Vater schreiben, Nigrina fand, dass er ein Recht darauf hatte das zu wissen, auch wenn Vera sich ähnlich wie Piso seit langer Zeit schon nicht mehr zu Hause hatte blicken lassen, mal abgesehen von diesem kleinen Besuch vor einiger Zeit, den ihr Bruder dem Landgut in Ravenna abgestattet hatte. Dass die zwei ein völlig anderes Verhältnis zu ihrem Vater hatten als sie war für sie kein Grund, ihm nicht zu schreiben. Sie wusste, dass er sich durchaus für das interessierte, was seine Sprösslinge taten – gerade jetzt, wo sie alle erwachsen waren. Nigrina fand daran nichts verwerfliches. Kinder waren in aller Regel einfach unerträgliche Blagen, kein Wunder, dass die meisten Eltern sie zu Ammen und Kindermädchen abschoben, vorausgesetzt sie konnten es sich leisten. Sie würde das nicht anders handhaben mit ihren. Und, mal ehrlich: es hatte keinem geschadet, ihr nicht, Piso nicht, und auch sonst keinem den sie kannte. Sie vergötterte ihren Vater nahezu, aber sie wusste auch, dass er kaum dazu geeignet war, ein kleines Kind groß zu ziehen. Nein, nein, es war besser, wenn zwischen Eltern und Kindern eine gewisse Distanz herrschte, vor allem so lange die Bälger klein waren. Taugten die Kinder etwas, förderte sie das nur. „Herrin?“ drang eine Stimme in ihre Gedanken. Nigrina brummte unwillig. „Verzeih, Herrin. Ich habe dir einen gemischten Saft gebracht.“ Sie zögerte kurz, dann blinzelte sie, öffnete langsam ihre Augen und streckte ihre Hand aus, ohne ein Wort zu sagen, um den Becher entgegen zu nehmen, den der Sklave ihr reichte. Es war keiner, der sie aus Ravenna begleitet hatte – ihre engsten Vertrauten kannte sie dann doch, und die übrigen waren wieder zurückgekehrt, nachdem sie sie sicher in die Villa Flavia in Rom gebracht haben. Es musste also einer von hier sein, und er bewies, dass gutes Material im flavischen Haus vorhanden war. Sie nickte ihm zu und schaffte es, dabei von oben herab zu wirken, obwohl sie lag und er stand, dann entließ sie ihn mit einer leichten Handbewegung und nippte an dem Getränk, das er gebracht hatte.
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