exedra | Am Scheideweg

  • Orest war dieser Tage sehr beschäftigt. Ich hatte ihm ein Dutzend Male angeboten, ihm etwas abzunehmen, doch er war in dieser Hinsicht mir selbst sehr ähnlich. Zu guter Letzt hatte doch er eine Bitte an mich herangetragen. Zähneknirschend zwar, doch wollte ich ihm selbstverständlich helfen. Zu diesem Zwecke suchte ich derzeit seine Schwester, Narcissa. Ich hatte wohl von allen Bewohnern dieses Hauses am längsten gebraucht, bis ich die Zwillinge einigermaßen sicher auseinander zu halten vermochte - und das sicherste Indiz für die Präsenz Narcissas war nach wie vor ein Buch in ihrer Hand. Aus diesem Grunde suchte ich sich auch zunächst in der Bibliothek, wo mir der Bibliothekar versicherte, sie vor kurzem mit einem Buch hinausmarschieren gesehen zu haben. Ich machte mich darob auf ins Peristyl, in der Hoffnung, sie zu finden, hatte jedoch bereits in der exedra Glück.


    Ich näherte mich Narcissa und setzte ein Lächeln auf. "Salve, Narcissa", grüßte ich und war mir sicher, dass ich auch eben diese vor mir hatte. Ich setzte mich in einen nahe stehenden Korbstuhl und betrachtete sie kurz. "Was liest du denn?" erkundigte ich mich interessiert. Meine Lieblingsbücher waren in frühem Alter die Gaius-Kriminalgeschichten gewesen, in ihrem Alter hatte ich bereits viele Berichte und Abhandlungen zu lesen und darob nur noch sehr wenig Zeit für kurzweilige Lektüre.

  • Die Eröffnung Floras Geheimnisses im balneum lag nun schon einige Tage zurück und noch immer empfand die junge Aurelia eine gewisse Erschütterung und auch Befangenheit angesichts ihrer Schwester, die sich nur allmählich legte. Das aber war nicht der Grund, weshalb sich die junge Frau in den letzten Tagen mehr als gewöhnlich zurückgezogen hatte. Das Ereignis war nur der Stein des Anstoßes gewesen. Es brachte Narcissa dazu wieder vermehrt über ihr eigenes Leben nachzudenken. Das was es war und darüber, was sie mit ihm anfangen wollte. Zweifelsohne hatte man da in ihrer Familie ganz eigene Vorstellungen – Vorstellungen, die ihr aber im Moment als zweitrangig erschienen. Bewusst ignorierte sie, dass sie reichlich eingegrenzte Möglichkeiten hatte und gab sich stattdessen der Illusion hin, selbst bestimmt zu können. Das Gespräch mit der Decima hatte sie auf ungewisse Art und Weise beflügelt und dann war da auch noch die Begegnung mit dem Claudier gewesen. Ihr Herzschlag begann zu flattern, als sie an den Mann dachte...


    So kam es, dass Narcissa unsanft aus ihren Gedanken gerissen wurde, als sie ihren Namen vernahm und ruckartig von den schwarzen Buchstaben aufsah, die sie die ganze Zeit über nur angestarrt hatte. Marcus setzte sich zu ihr.
    „Salve...“, erwiderte sie sichtlich irritiert seine Begrüßung. Nicht weil er sie mit dem korrekten Namen ansprach – inzwischen hatten die Familienmitglieder es einigermaßen gelernt die Zwillinge auseinander zu halten, sondern weil sie ohne einen richtigen Grund benennen zu können, den Eindruck hatte, dass er sie gesucht hatte.
    Dabei konnte sie sich nicht einmal recht daran erinnern, wann sie sich zuletzt unterhalten hatten. Der Aedil hatte stets zu den eher unnahbaren Verwandten gehört. Er war zwar da, aber nicht greifbar.
    „Cornelius Tacitus´ Biographie über Gnaeus Iulius Agricola...“, antwortete sie. Immerhin hatte sie noch die ersten zwei Sätze lesen können, bevor sie in ihre eigene Gedankenwelt abgesunken war. Hoffentlich fragte er nicht danach, was sie von ihm hielt...aber dann konnte sie immer noch sagen, sie hatte erst gerade damit angefangen. Stimmte ja auch – irgendwie.
    Unauffällig neigte sie den Kopf etwas zur Seite und betrachtete den Aurelier. Noch war sie sich nicht sicher, ob sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte oder Marcus einfach durch Zufall hier herein gekommen war.
    „Wie laufen die Geschäfte? Du hast bestimmt viel zu tun?“, verlegte sie sich erst einmal auf eine unverfängliche Frage.

  • Während ich so dasaß und Narcissa betrachtete, wurde mir allmählich klar, dass ich im Grunde kaum etwas von ihr wusste. Sie las gerne...und da hörte es auch schon auf. Weder wusste ich, was sie gern las, noch was sie sonst ausmachte. Das war eigentlich schade, und doch hatte ich nun die Aufgabe, sie an Orestes' Stelle noch weiter von uns zu entfremden, denn so kam es mir in jenem Moment vor. Und ihre Antwort verwunderte mich sichtlich. Ich hätte eher auf seichte Lektüre getippt, doch sie las die Biografie eines Senators und bedeutenden Heerführers Britanniens. Das Erstaunen mochte sich kurz in meinem Blick widerspiegeln, doch schwieg ich dazu, denn ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, indem ich ihr ausgedprochen unterstellte, was ich soeben im Stillen gedacht hatte. So nickte ich nur einige Male ein wenig nachdenklich und ließ mich von ihr betrachten, bis sie ihre Gegenfrage stellte und ich schmunzeln musste. Einen Kommentar konnte ich mir nun doch nicht mehr verkneifen. "Das Ädilat ist vorüber, die Berge haben ein wenig abgenommen - du interessierst dich für Politik?" Eigentlich eine unnötige Frage, würde Narcissa denn sonst diese Biografie lesen?


    Ich räusperte mich. "Aber es ist gut, dass ich dich treffe, ich hatte dich ohnehin gesucht. Ich werde dich auch nicht allzu lange stören, wenn du lieber weiterlesen möchtest..." bemerkte ich und kratzte mich kurz an der Wange. "Dein Bruder ist in letzter Zeit sehr beschäftigt und hat mich deshalb gebeten, mit dir über etwas Wichtiges zu reden..." Wie musste sich das nun anhören! Es klang gar so, als würde ich nun gleich einen Monolog zu den bestimmten Voraussetzung zur Empfängnis eines Kindes herunterbeten wollen. Meine vorsichtig tastende Miene trug gewiss auch nicht dazu bei, dass Narcissa sich unbefangen fühlte, dabei war das, was ich ihr zu sagen hatte, eine Ehre und keine Strafe.

  • Das Erstaunen, das für den Hauch eines Augenblicks über sein Gesicht flackerte entging ihr nicht. Was hatte er erwartet, vielleicht dass sie Ovids Abhandlungen zum Thema Schönheitspflege las? Die hatte sie zwar bereits einmal gelesen, allerdings schon früher, als sie noch in Terentum gelebt hatten. Narcissa fühlte sich unangenehm an das erste Gespräch mit dem Verwandten erinnert, bei dem er ihre Fragen nahezu meisterhaft uminterpretiert hatte. Schnell hatte sie verstanden, dass er nicht sehr davon hielt, wenn sich junge Mädchen mit Politik beschäftigten.
    "Ich finde, jeder sollte zumindest eine leise Ahnung davon haben, was um einen herum geschieht...Mir behagt der Gedanke nicht, nicht zu wissen, was vor sich geht...", antwortete sie ihrer Meinung nach dioplamtisch, ließ die Schriftrolle in ihren Schoß sinken und beobachtete dabei Marcus' Gesicht. Noch immer erfüllte sie ein gewisses Misstrauen, als erwarte sie, dass ein großer schwarzer Hund hinter seinen Worten hervorsprang.


    Dass es sich bei seiner Frage tatsächlich nur um höfliches Geplänkel gehandelt hatte, wurde bereits im nächsten Augenblick klar. >Also doch...Was will er?< Das, was er sagte, beruhigte sie nicht unbedingt. Bisher hatte sie Marcus eher als kühlen Kopf kennen gelernt, der seine Worte mit Bedacht wählte. Wenn er sagte, es ging um etwas Wichtiges, dann konnte sie also davon ausgehen, dass es auch so war. Rein äußerlich gelang es ihr, ihre innere Unruhe zu verbergen und auch dass es ihr ein wenig die Nase hoch ging, dass sich Manius nicht die Zeit nahm, persönlich mit ihr zu sprechen, wenn es doch um etwas Wichtiges ging. Bisher hatte sie von ihrem Bruder reichlich wenig gehabt. Fühlte er sich denn so unverantwortlich für seine eigenen Schwestern? Unauffällig rutschte Narcissa ein wenig in dem Weidenkorb hin und her.Ein bedeutungsschwangeres Schweigen folgte. Sie hatte nicht vor es Marcus aus der Nase zu ziehen und wartete geduldig darauf, bis er fortfahren würde.

  • Das war eine gute Antwort, wie ich fand, und ich hatte unter diesem Aspekt nichts dagegen, dass sich Narcissa ein ganz klein wenig für politische Dinge interessierte, auch wenn das selbstverständlich eine Angelegenheit für Männer war. An das erste Gespräch nach Ankunft der Zwillinge konnte ich mich kaum noch entsinnen - entweder war es zu lange her oder aber ich wurde tatsächlich allmählich alt. Die Lektüre allerdings ließ Narcissa sinken und signalisierte mir damit ihre volle Aufmerksamkeit. Ich räusperte mich erneut, denn es behagte mir selbst nicht so recht, dass ich derjenige sein sollte, der Orestes' Schwester davon in Kenntnis setzte. Die meisten Frauen, so glaubte ich, sahen ihr Glück in einer Schar Kinder und der Regimentführung des Haushaltes, und es war mir jedes Mal von Neuem verwunderlich, dass es hier auch Ausnahmen gab.


    Narcissa stellte keine Frage, sie sah mich lediglich erwartungsvoll an. "Wir haben beschlossen, dich dem Kaiser als Vestalin vorzuschlagen", erklärte ich ihr weniger diplomatisch. Im Grunde stellte ich sie damit vor bestehende Tatsachen, was auch durchaus der Fall war. Orest hatte mit seiner Mutter korrespondiert, und jene hatte versprochen, ihm ein wenig Zeit zu lassen und dann einen Brief an Narcissa zu schreiben, was wohl auch bald der Fall sein mochte. Und für Narcissa bedeutete dies nun, dass ihre Zukunft keine Kinder vorsah, und einen Ehemann wohl auch nicht. Wenn sie alt genug war, den Dienst als Vestalin mit erhobenem Haupte zu verlassen, würde sie keine Kinder mehr gebären können, und damit war sie nurmehr interessant für einen Mann, der bereits genügend Erben besaß. Ich musterte meine Base und harrte ihrer Reaktion. "Du triffst zwar nicht mehr ganz das Alter einer Jungvestalin, doch mit der richtigen Unterstützung wird man dich sicherlich auch in deinem Alter noch annehmen." Vermutlich würde man ihre tatsächliche Jungfräulichkeit testen wollen, doch das wäre akzeptabel.

  • Ihre Antwort schien ihn nicht zu besänftigen. Zumindest war das Narcissas Eindruck, als sie in Marcus´ ernstes Gesicht sah. Sie machte sich schon auf eine Moralpredigt über die Sitten und Normen der römischen Gesellschaft bereit, auch wenn es sie ein wenig irritierte, dass er so zögerte.


    „W-“, Narcissa glaubte noch, sich verhört zu haben; Blickte ihn mit großen grünen Augen an. Dann, mit dem nächsten Atemzug, als ihr Verstand erfasste, dass er soeben tatsächlich diese Worte ausgesprochen hatte, entglitt ihr für einen Herzschlag lang die Kontrolle über ihre Mimik und ein Ausdruck des Entsetzens trat auf ihre Züge.“WAS?!“ >Das muss ein Scherz sein…das kann er nicht ernst meinen…< Die junge Aurelia fing sich wieder, nervös, labil. Ein unruhiges Lächeln kräuselte ihre Lippen, während sie abermals ihr Gewicht im Sessel verlagert. Er sprach weiter. Unbeirrt. Ihre Gedanken wanden sich. >Er ist gar nicht befugt…Orest hat die Verantwortung...Haben sie miteinander geredet – er redet mit ihm, aber mit mir nicht!< „Das kann nicht euer Ernst sein!“, Sie schreckte zurück, als ihr ihre eigene Stimme in den Ohren nachklang und sie den Gedanken aussprach.

  • Aus irgendeinem Grund heraus schien sie entsetzt zu sein. Nur weshalb? War es die Aussicht, voraussichtlich keine Kinder zu bekommen? Die Familie weniger oft zu sehen? Narcissa hatte ihre Augen aufgerissen und starrte mich regelrecht fassungslos an. Das verwirrte mich zugestandernermaßen. "Es ist eine große Ehre, zur Vestalin erwählt zu werden", erwiderte ich ein wenig derangiert. Warum nur entsetzte sie ihre Zukunft dergestalt, die Orest mit mir besprochen hatte? Langsam keimte in mir die Vermutung, dass Orest nur deshalb nicht mit Narcissa hatte reden wollen. Damit sie mir gram sein konnte, nicht ihm. Wenn das tatsächlich der Fall war...


    Ich blinzelte. "Narcissa", begann ich und suchte an ihren Verstand zu appellieren. "Dein Bruder sieht es ebenso wie ich. Wir würden es gern versuchen. Dir stünden damit alle Türen offen, bedenke das! Eine Vestalin ist sehr angesehen und hat viele besondere Rechte. Sie sind die angesehendsten Frauen im ganzen Reich und praktisch unantastbar. Soweit ich weiß, hat auch deine Mutter sich positiv zu Manius' Entschluss geäußert." Es blieb immer noch die Möglichkeit offen, dass der Kaiser sie ablehnte, dann müsste man sich nach einem Ehemann umschauen. Doch versuchen wollten wir es in jedem Falle.

  • Eine Ehre…natürlich. Narcissa sah das Unverständnis auf Marcus´ Gesicht und ihr wurde klar, dass er das, was er sagte auch so meinte. Dass er daran glaubte. Er kam erst gar nicht auf die Idee, dass es auch die Möglichkeit gab, dass einen die Vorstellung, für immer weggesperrt zu werden, mit blankem Entsetzen erfüllen konnte. Denn das war es, was die junge Frau im Dienst an der Göttin Vesta sah, auch wenn sie wusste, dass auch diese Priesterinnen die Erlaubnis hatten, den Tempel dann und wann zu verlassen. Konnte dieser Mann nicht verstehen, was er da sagte? Ein Leben als Priesterin - damit waren alle anderen Wendungen und Drehungen des Lebens, die dort draußen auf sie warteten ausgeschlossen, passé. In jenem Moment waren alle Gedanken an ihren Bruder wie weggewischt. Es spielte keine Rolle mehr, dass nicht er es war, der ihr diese Nachricht überbrachte.


    Ihr Name drang an ihr Ohr und sie zwang ihre Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart. Jetzt versuchte Marcus es mit Logik. Er konnte nicht ahnen, dass er damit nur mühsam beherrschten Zynismus in ihr ansprach. Er konnte nicht wissen, dass es ihr herzlich egal war. Flora…das würde auch bedeuten, dass sie sich von ihrer Schwester trennen musste. Dieser Gedanke kam ihr noch gar nicht. „Welche Türen?“, sie stellte die Gegenfrage eigentlich nur, um ihn zu ärgern, ihn zu fordern, ihn zum Denken und konkretisieren zu zwingen. Dass nur in der lächerlichen Hoffnung, er möge erkennen, dass dieser Weg doch nicht so großartig war, wie er versuchte ihn ihr zu verkaufen. Denn das tat er gerade. Narcissa war selbst überrascht, wie welch kühlen Ton ihre Stimme dabei annahm.
    „Ich weiß nicht was euch beide auf die Idee gebracht hat, ich wäre für dieses Priesteramt geeignet…“,

  • Narcissa sah mich entgeistert an. Ich konnte das nicht verstehen, und mein Unverständnis drückte sich in einer gerunzelten Stirn samt forschendem Blick aus, mit dem ich meine junge Verwandte bedachte. Die Frage, die sie im Anschluss stellte, konnte sie eigentlich unmöglich ernst meinen. Mein Kopf zuckte ein Stück zurück, das Stirnrunzeln vertiefte sich, ehe ich ihr antwortete. "Als Vestalin bist du eine Tochter des Kaisers, Narcissa. Du zählst du den einflussreichsten Frauen Roms und genießt großes Ansehen. Niemand würde es wagen, einer Vestalin die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Du wärest ein gern gesehener Gast, trügest eine große Verantwortung und dein Wort hätte Gewicht, nicht zuletzt dank der Tatsache, dass du eine Kaiserstochter wärest." Ich schüttelte den Kopf. "Was lässt dich glauben, dass du nicht dafür geeignet bist?" Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. "Du bist so passend wie jede andere auch, sogar noch passender, wenn du mich fragst - immerhin waren die Vestalinnen einst Patrizierinnen, auch wenn nun sogar Freie dort aufgenommen werden." Und Orest war, ebenso wie die Mutter der beiden, recht deutlich gewesen, was die Stellungnahme hierzu anbelangte: Narcissa würde Vestalin werden, ob sie die Vorteile nun sah oder nicht. Vielleicht hatte Orestes mich deswegen gebeten, Narcissa diese Nachricht zu überbringen. Vielleicht, damit letztenendes ich selbst als der Verhasste da stand, der sie vermeintlicherweise um ihre Zukunft als Ehefrau und Mutter gebracht hatte. Das ging mir erst in diesem Moment auf.

  • Er versteht es nicht. Marcus bedachte sie mit einem Blick, der absolutes, vollkommenes Unverständnis ausdrückte. Mehr noch, er machte einen ärgerlichen Eindruck auf sie. Narcissa konnte die Gedanken hinter seiner gerunzelten Stirn förmlich hören: Dummes Mädchen; Wir haben dich dazu auserwählt dir eine solche Ehre zuteil werden zu lassen!
    Natürlich war Narcissa das, was er ihr vortrug nicht unbekannt. Es überraschte sie auch nicht, dass er all jene Dinge aufzählte, die eine Vestalin privilegierte, während all jenes, was einer Priesterin verboten war, im Dunkeln dahin dämmerte. Aber eigentlich war es auch nicht das erklärte Ziel der jungen Aurelia gewesen, etwas über das Amt einer Vestalin zu hören, sondern ihn zum Denken zu zwingen und für sich Zeit zu herauszuschlagen, um sich zu ordnen. Die Schattenseite ignorierte er geflissentlich. Vermutlich existierte sie für den Pontifex schlichtweg nicht.


    Als Marcus die Gegenfrage stellte, kamen Narcissa spontan eine Reihe von Antworten in den Sinn: Sie wollte nicht. Sie wollte Flora nicht verlassen und sie wollte ihr Leben nicht an eine Göttin opfern, die ihr nichts als kaltem Stein entgegen brachte. Als Vestalin konnte sie noch weniger tun, denn als Ehefrau und Mutter. Nämlich gar nichts. Das Gespräch mit der Decima trat aus ihrer Erinnerung hervor. Würde es dich ausfüllen? Was sich die junge Aurelia ersehnte war ein selbst bestimmtes Leben. Das sah konnte sie im Gottesdienst nicht sehen. Narcissa war jedoch weise genug ihre Gedanken für sich zu behalten.
    „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen...“, sagte sie unvermittelt und ihre Stimme durchdrang die exedra ohne jegliches Zittern. Zugegebenermaßen etwas steif erhob sie sich, die Schriftrolle fest in der Hand.

  • Ich versuchte wirklich, ihre Haltung nachzuvollziehen. Gewiss war es nur der Schreck, dass sich ihr leben so plötzlich verändern sollte. Anders konnte ich es mir kaum erklären, denn für welche Frau wäre es nicht eine Verlockung gewesen, in den engen Kreis der Vestalinnen aufgenommen zu werden und - nebst den Pflichten, versteht sich - auch die Rechte zu genießen? Eine Dienerin der Vesta war schließlich unantastbar, mehr noch, sie konnte sogar einen gesprochenen Schuldspruch aufheben - und besaß damit durchaus Macht. Vestalinnen durften als Einzige am Tage mit einem pilentum durch Rom fahren, sie durften sogar eigene Testamente aufsetzen, was jeder Römerin sonst nicht erlaubt war. Was machte es da aus, dass sie vorerst keine Ehe schließen konnte?


    Narcissa schwieg verbissen, und ich sah sie ratlos an. Dieses Gespräch würde ihr wohl im Gedächtnis hängen bleiben als schlechte Erinnerung, wie es aussah, und ich ahnte, dass Orest deswegen mich gebeten hatte, es zu übernehmen. Nun, das Kind war in den Brunnen gefallen und ich damit offebar unten durch. Irgendwann wäre sie uns allerdings dankbar, daran glaubte ich fest. Plötzlich tat sie kund, gehen zu wollen, und stand auf. Ich sah sie überrascht wie nachdenklich an und beschloss, dass es vermutlich das beste war, wenn wir hier ersteinmal abbrachen. Ich erhob mich ebenfalls. "Nein, bleib nur hier. Ich wollte dich nicht beim Lesen stören. Ich werde gehen, ich habe ohnehin noch zu tun. Versprich mir bitte, dass du über meine Worte nachdenkst, Narcissa." Obgleich sowohl sie als auch ich wussten, dass dahinter keine Bitte stand, da Orest diesen Weg für Narcissa gewählt hatte und ihrer beider Mutter ihn befürwortete. Ich schenkte ihr ein Lächeln und ließ sie dann allein. Vier Tage, überlegte ich. Soviel Zeit würde ich ihr geben, um nachzudenken. Morgen standen die Nonae Caprotinae an, da wäre ohnehin nur wenig Zeit, um erneut zu reden.

  • Wäre es einem Außenstehenden möglich gewesen, die Gedanken der beiden Aurelier zu lesen, so hätte er festgestellt, dass ihre Standpunkte nicht konträrer hätten sein können. Für Narcissa überwogen klar die Nachteile. Alle Privilegien konnten nicht aufwiegen, dass sie von ihrer Schwester getrennt und ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt würde – letzteres hatte sie eigentlich nie wirklich besessen, sondern eher eine Illusion, ihr eigenes Leben nach ihren Vorstellungen gestalten zu können. Das Gespräch hatte grundlegend ihre Haltung geändert. Hauptsächlich gegenüber Orestes, der ihr diese Botschaft durch einen dritten hatte überbringen lassen. Für sie war klar, dass Marcus, der sich nun seinerseits erhob, um sie allein zu lassen, nichts weiter gewesen war als der Laufbursche. Er mochte dieser fixen Idee zwar zustimmen, aber der Aurelier war es nicht gewesen, der sie ins Spiel gebracht hatte. Sonderlich unwohl schien er sich dennoch nicht zu fühlen. Pflichtschuldig nickte Narcissa auf seine Bitte hin, die eigentlich keine war. Vielmehr wollte er ihr Zeit geben, sich damit abzufinden und nicht darüber nachzusinnen und dann zuzustimmen. Sein Lächeln, mochte es auch aufmunternd sein, berührte die junge Frau nicht im Geringsten und sie brachte es auch nicht über sich, sich zu einer Erwiderung zu zwingen. Vielmehr stand Narcissa da und sah Marcus nach, wie er die exedra verließ. Erst dann, als sie allein war, ließ sie sich ermattet in den Weidenkorb sinken. Ihr Blick glitt blind zu der Schriftrolle in ihrer Hand. Zum Lesen hatte sie nun keinen Sinn mehr.


    -fine-

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