cubiculum Siv | Ob cuncta dubia

  • Stumm, verunsichert saß Siv in ihrer Kammer, auf ihrem Bett. Finn schlief, in dem Bettchen, das Corvinus ihr geschenkt hatte, und ihr Blick hing wie festgesaugt an seiner kleinen Gestalt. Sie war hier. Seit einiger Zeit nun. Über das Zusammentreffen mit Celerina dachte sie nicht nach, und das wollte sie auch gar nicht, nicht jetzt, nicht im Moment. Stattdessen dachte sie an Corvinus. Und war sich unschlüssig, was sie tun sollte. Sie sehnte sich nach ihm. So lange schon sehnte sie sich nun nach ihm. Und jetzt war sie wieder hier, weil er sie zurückgeholt hatte, tatsächlich – aber sie saß allein in ihrer Kammer. Siv biss sich auf die Lippen. Sollte sie zu ihm gehen? Oder weiter warten? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Sie wusste es einfach nicht. Und so saß sie erst mal weiter da und starrte ihren Sohn an.


    Bis sie es schließlich nicht mehr aushielt. Sie konnte nicht einfach hier sitzen und warten und nichts tun und keine Ahnung haben. Es ging nicht. Sie war wieder hier, und das hieß, dass es wenigstens irgendetwas gab, was sie mit ihm besprechen konnte. Und wenn nicht, dann würde sie etwas finden. Irgendetwas. Sie wollte einfach nur… zu ihm. Alles weitere würde sich dann ergeben. Siv sprang auf und nahm vorsichtig Finn in den Arm. Er war gerade erst eingeschlafen, nachdem sie ihn wieder gestillt hatte, und das war die Zeit, in der er in der Regel am tiefsten schlief und sich durch wenig stören ließ. Dann ging sie mit ihm zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck – und erstarrte.


    Sim-Off:

    reserviert

  • Es war ein anstrengender Tag gewesen und ich war froh, als ich endlich das Haus betrat und mir die toga abnehmen lassen konnte. Brix war nicht auffindbar - zumal ich auch nicht selbst gesucht, sondern nur darum gebeten hatte. Weiter ging es mit vier Briefen, die ich bereits aufgeschoben hatte und die nun allmählich dringlich wurden. Ich diktierte sie Pyrrus und blieb danach noch eine Weile allein im Arbeitszimmer. Siv musste inzwischen schon hier sein, deswegen hatte ich eigentlich Brix sprechen wollen. Dann grübelte ich. Ob es gut war, wenn ich sie noch vor der cena aufsuchte? Hunger hatte ich ohnehin keinen. Dieses Essen mochte zu einer Farce avancieren, und darauf konnte ich eigentlich verzichten. Dennoch wäre es wohl äußerst unklug, am ersten Abend nach Sivs Rückkehr ins Haus nicht zum Abendessen zu erscheinen. Ich erhob mich und ging eine Weile hin und her, blieb schließlich vor dem Fenster zum Garten hin stehen und sah nachdenklich hinaus. Es war verwirrend. Nun war Siv hier, doch besser ging es mir dadurch nicht. Die Probleme hatten sich verschoben, so seltsam das klang. Mein Zugeständnis an sie und an mich selbst hatte dazu geführt, dass Celerina erneut diejenige war, um die ich mich verstärkt bemühen musste. Mehr noch als zuvor, sofern sie mich denn ließ. Mein letzter Versuch dahingehend hatte schließlich nicht sonderlich gefruchtet.


    Einige Minuten später verließ ich mein officium. Wie von selbst führten mich meine Schritte zu dem Zimmer, das man Siv gegeben hatte. Es war größer als die kleine Kammer neben meinen Gemächern, in der sie zuvor als Sklavin geschlafen hatte, wenngleich auch nicht so groß wie das kleinste unserer Gästezimmer. Und doch gab es neben dem obligatorischen Bett und einer großen Truhe nicht nur Platz für die Wiege, sondern auch für einen kleinen Tisch samt zweier Stühle. Ich stand also vor Sivs Zimmertür und sah das Holz an, und gerade, als ich mich vollends entschlossen hatte, zu klopfen, öffnete sich die Tür und eine erschrockene Siv starrte mich an. Ich erwiderte ihren Blick nicht minder perplex, rettete mich jedoch recht schnell in ein Schmunzeln. Sie trug den Knaben im Arm, wie ich bemerkte, und er schlief gerade. Schweigend sah ich Siv an. Ich hätte sie fragen können, wo sie hin wollte, ihr sagen können, dass es schön war, dass sie zurück war, doch ich tat nichts dergleichen und lächelte nur ein wenig. Dann trat ich vor, würde sie zurückschieben, wenn sie nicht selbst zurückwich. Leise schloss sich die Tür hinter uns, und kaum hatte sie das getan, zog ich Siv samt Finn an mich heran und wehrte mich nicht mehr gegen den Wunsch, beide dicht an mich zu drücken und sonst nichts weiter zu tun.

  • Obwohl sie sich eigentlich auf den Weg zu ihm hatte machen wollen, hätte Siv nicht damit gerechnet, dass Corvinus vor ihrer Tür war, gerade im Begriff zu klopfen – und so stand sie für einen Augenblick wie versteinert da und starrte ihn nur an. Corvinus schien im ersten Moment genauso perplex zu sein wie sie, aber er erholte sich schneller. Es dauerte nicht lang, da hoben sich seine Mundwinkel in einem leichten Lächeln, während Sivs Mund plötzlich trocken wurde. Sie suchte nach Worten. Nach irgendetwas, was sie sagen könnte. Aber es wollte ihr einfach nichts einfallen, und selbst wenn es anders gewesen wäre, sie hatte starke Zweifel daran, dass sie etwas heraus bekommen hätte. Einen Augenblick lang sahen sie sich nur an, dann löste Corvinus sich aus seiner Starre und machte einen Schritt nach vorn, und noch einen, und Siv ging zurück, mehr von ihm gedrängt als tatsächlich selbst zurückweichend. Stumm sah sie zu, wie er die Tür schloss, und immer noch fühlte sie sich außerstande, irgendetwas zu sagen – oder zu tun. Sie wusste nicht was. Sie konnte ja noch nicht einmal so wirklich glauben, dass sie nun tatsächlich wieder hier war, bei ihm. Dass sie hier war, weil er es wollte, und nicht, weil sie seine Sklavin war oder zu stur, um zu gehen. Und ein Teil von ihr fürchtete, es könnte ein Traum sein, aus dem sie gleich wieder erwachen würde, wie so oft.


    Sie musste etwas sagen. Irgendetwas. Der Gedanke hämmerte in ihrem Kopf, dass sie nicht einfach wie blöd da stehen und ihn anstarren konnte, ohne etwas zu tun. Aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Die Tür schloss sich hinter Corvinus, und im nächsten Augenblick hatte er sie an sich gezogen, mit Finn auf ihrem Arm – und Siv, nach einem winzigen Moment der Anspannung, vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, wie sie es schon vor ein paar Tagen gemacht hatte, als sie noch bei Uland und seiner Familie gewesen war und Corvinus sie dort aufgesucht hatte. Sie schloss die Augen und atmete seinen vertrauten Geruch ein, schlang ihren freien Arm um seine Seite und presste sich an ihn, so gut es möglich war, ohne Finn zu wecken. Sie schob die Gedanken fort, die Grübeleien, die Zweifel. Solange er sie so hielt, solange sie einfach nur seine Nähe spürte, schien es so leicht zu sein, das zu tun. So leicht wie früher. Und sie hatte das Gefühl, regelrecht ausgehungert zu sein nach seiner Nähe, seiner Wärme, seiner Gegenwart, und obwohl die Zweifel immer noch da waren, obwohl sie immer noch unsicher war, nicht wusste, was er eigentlich… nun ja, wollte, erwartete, plante, ob er tatsächlich akzeptiert hatte, was zwischen ihnen war, ob er tatsächlich nicht mehr glaubte, es wäre besser, wenn sie ging – wünschte sie sich, er würde bei ihr bleiben, würde sie nicht allein lassen in der Nacht.

  • Unzähle Herzschläge vergingen, in denen sich keiner rührte; ich nicht, Siv nicht, der Kleine nicht. Ich dachte nicht darüber nach, was mich später jenseits dieses Zimmers wieder erwarten mochte, ich dachte auch nicht an Celerina oder sonst etwas. Erstaunlicherweise dachte ich an gar nichts. Und fühlte mich dennoch einen Moment lang gut. Das war eine seltsame Situation, noch seltsamer für mich, und doch genoss ich sie. Vielleicht zu sehr. Siv schmiegte sich an mich. Und auch wenn sie in jenem Moment nicht wissen mochte, was ich wollte - ich wusste es. Der Gedanke war einfach da, von einem auf den anderen Moment, und zugleich war er so unpassend, erschien er mir so lieblos, dass ich ihn gleich wieder dorthin verbannte, wo er hergekommen war. Ich löste mich ein wenig von Siv, damit sie ob meiner prekären Lage vielleicht nichts merken mochte, und betrachtete das Kind auf ihrem Arm. Der Junge schlief friedlich, und nun huschte mir doch ein Gedanke durch den Kopf, der Celerina gebührte. Ich brauchte einen Erben. Diese Pflicht lastete schwer auf unseren Schultern, meinen wie den ihren. Es musste endlich Abhilfe geschaffen werden. Doch dass das nun, da Siv zurück war und Celerina gewisse Dinge wusste, leichter werden würde, glaubte wohl nur ein Narr. Ich hatte noch keine Ahnung, was geschehen mochte in der nahen Zukunft. Was geschah, wenn meine Frau und meine Geliebte aufeinandertreffen mochten. Dass dies bereits geschehen war, ahnte ich nicht einmal ansatzweise.


    Für den Moment zählte jedoch nur, dass Siv überhaupt zurück war. Ich neigte mich vor, berührte mit den Fingerspitzen der Rechte flüchtig ihre Wange. Dann küsste ich sie. Unzählige Male hatte ich es bereits getan, doch diesmal war es anders. Ich konnte nicht sagen, was es war - die Gewissheit, dass sie wieder bei mir war, die Tatsache, dass ich diesen Entschluss gefasst hatte oder der Umstand, dass sie mich schlichtweg nicht abgewiesen hatte. Obgleich ich ihn noch gut in Erinnerung hatte, den unsäglichen Tag ihrer Freilassung, der doch ein guter Tag hatte werden sollen und dennoch in einem Fiasko geendet hatte, war ich davon ausgegangen, dass ein Strohfeuer Siv diese Worte in den Mund gelegt hatte. Doch hier stand sie vor mir, der beste Beweis dafür, dass dies kein Strohfeuer war. Obwohl sie frei war, obgleich sie gehen konnte, war sie dennoch hierher zurück gekommen, und als ich mich dieses Mal von ihr löste, floss das erste Wort schneller heraus, als ich denken konnte. "Ich..." Erst bei dem darauffolgenden setzte der Verstand wieder ein und hielt mich zurück. "Danke." Es war mehr ein Murmeln denn ein deutlich zu vernehmendes Wort, mein Blick fixiert auf ihre weichen Lippen, und den Knaben hatte ich ganz und gar vergessen - was ein Leichtes war, da er nach wie vor selig schlief.

  • Siv wusste nicht, wie lange sie so da standen und sich umarmten. Sie genoss einfach nur den Moment. Genoss es, sich – trotz der Unsicherheit, die immer noch da war, trotz dieses leisen Stimmchens, das sie immer noch warnte, er könne irgendwann einen Rückzieher machen wie bisher stets – endlich wieder ganz zu fühlen. Als Corvinus sich dann ein wenig von ihr löste, musste sie beinahe ein Seufzen unterdrücken. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie noch wesentlich länger so da stehen können – und was ihn tatsächlich dazu bewegt hatte, etwas Distanz zwischen sich und sie zu bringen, hatte sie nicht gemerkt. Allerdings kam sie nicht dazu, etwas zu sagen oder ihn womöglich ein weiteres Mal zu umarmen, denn gleich darauf neigte Corvinus sich zu ihr und küsste sie, und diesmal schien Siv alles zu vergessen, die Zweifel und die Unsicherheit, die Grübeleien über ihn und was er wollte, und wie das Ganze hier weiter gehen mochte. Sie wusste nicht, was es war. Aber irgendetwas schien an seinem Kuss anders zu sein, anders als vor ein paar Tagen, als er ihretwegen zu Uland gekommen war, und anders als in den Wochen und Monaten vor Finns Geburt, als sie noch hier gewesen war. Sie konnte gar nicht anders, als den Kuss zu erwidern.


    Auch hier war es letztlich Corvinus, der sich zuerst löste, und Siv lehnte sich ein wenig zurück und musterte ihn nun. "Du…?" fragte sie nach, und ihre Augenbrauen hoben sich ganz leicht, als dann ein Danke kam. "… wofür?" fragte sie leise, während sie Finn etwas in ihrem Arm verlagerte. Sie konnte ihn wieder hinlegen, das wusste sie – er schlief nach wie vor, und nachdem es nun nicht so aussah, als würde sie das Zimmer verlassen, musste sie ihn nicht auf dem Arm tragen. Sie wollte sich nur noch nicht von Corvinus lösen, und so blieb sie, vorerst, lehnte ihre Stirn mit geschlossenen Augen für einen Moment gegen seine Brust, bevor sie ihren Kopf wieder hob und ihn ein weiteres Mal küsste, drängender diesmal, hungriger. Er war hier. Und sie wollte ihn. Sie begann erst nach und nach zu realisieren, wie sehr, und wie sehr ihr das gefehlt hatte, nicht nur seine Gegenwart, seine Nähe, sondern auch die Leidenschaft, die er in ihr zu wecken vermochte. Mit einem fast lautlosen Seufzen löste sie dann zunächst ihre Lippen von seinen und schließlich ihren Körper von ihm, während sie zu Finn hinunter sah und sich zu der Wiege hinüber bewegte, um ihn nun doch hinzulegen.

  • "Für dich." Die Worte waren schneller von meinen Lippen getropft als ich darüber nachsinnen konnte, welche Antwort angemessen war. Ein wenig waren sie mir peinlich, da sie sentimental und emotional, ob dessen idiotisch und verträumt klangen, doch im nächsten Moment waren andere Dinge wichtiger und der peinliche Moment verging, ging in etwas anderem auf, das zunehmend drängender wurde. Ich konnte den Grund nicht benennen, doch mir kam plötzlich der erste Abend nach Sivs Kauf in den Sinn und ich musste kurz schmunzeln. Damals schon hatte sie mich fasziniert, und heute war es nicht anders. Ihr Kuss ging in eine recht eindeutige Richtung, mein Widerstand schmolz proportional zu gewissen anderen Dingen, und ich war ganz froh, als sie einen Schritt zurück trat und mir damit wieder etwas mehr Raum gab. Ich wollte nicht, dass es direkt auf das hinaus lief, was Celerina prophezeit hatte, denn ich hätte mich schuldig gefühlt, wenn sie Recht behalten hätte.


    Siv trat zurück, das schlafende Kind in ihren Armen, und legte es behutsam in die Wiege. Mir fiel kein anderer Grund ein, aus dem sie ihn fortlegen konnte - außer dem offensichtlichen. Dennoch war mir darob unbehaglich zumute. Abwesend strich ich mit en Fingerspitzen über die Kratzer, die Celerina auf meinem Gesicht hinterlassen hatte. Sie waren immer noch leicht geschwollen und gerötet, wenngleich sie auch nicht geblutet hatten. Als Siv sich wieder aufrichtete und zu mir sah, nahm ich ertappt die Hand fort und lächelte flüchtig. Dann beschloss ich, zur Offensive zu schreiten - auch auf die Gefahr hin, dass sie diesen abrupten Themenwechsel als abweisend empfand. "Würdest du dich wieder um den Garten kümmern?" fragte ich sie, während ich an ihr vorbei ging und mich anschließend an den kleinen Tisch setzte, eine Hand locker dabei auf selbigen legte.

  • Für dich, hörte sie noch, bevor ihre Lippen die seinen berührten. Es war nicht der Grund dafür, dass sie ihn küsste, aber dennoch sorgten diese einfachen zwei Worte dafür, dass ihr ein angenehmer Schauer über den Rücken lief. Sie dachte daran, wie er bei Uland aufgetaucht war, daran, wie er ihr gesagt hatte, dass er sie zurückhaben wollte, und dann dachte sie für einen Moment an gar nichts mehr und genoss einfach nur den Kuss. Als sie sich dann aber löste, um Finn in die Wiege zu legen, folgte er ihr nicht – und, zugegeben, das war das, was sie eigentlich erwartet hatte. Dass er ihr folgte. Dass er hinter ihr blieb, mit seinen Händen vielleicht über ihren Rücken strich, ihren Nacken berührte, um sie dann an sich zu ziehen, sobald sie Finn hingelegt hatte. Stattdessen blieb er stehen, wo er war, und als sie wieder aufsah, ohne den Jungen auf dem Arm nun, zog er gerade seine Hand von seinem Gesicht fort, von den Kratzern, die dort zu sehen waren. Dann setzte er sich doch noch in Bewegung, kam aber nicht zu ihr, sondern ging zum Tisch, wo er sich hinsetzte. Und Siv… war verwirrt. Schon wieder.


    Regungslos blieb sie, wo sie war, sah die Hand an, die auf dem Tisch lag, und wusste nicht so recht, was sie nun tun sollte. Fast bereute sie es, Finn hingelegt zu haben, weil sie nun nicht wusste, wohin mit ihren Händen. "Ich… ja. Sicher", antwortete sie auf seine Frage. Natürlich würde sie sich wieder um den Garten kümmern. Es gab wenig andere Dinge, die sie hier tun konnte, in denen sie gut war und die ihr auch wirklich gefallen würden. Brix zu helfen machte ihr zwar Spaß, war aber nichts, was sie ständig machen konnte, nichts, was ihre Hauptaufgabe sein konnte. Mangels Alternativen streckte sie ihren Arm aus und strich sacht über den Kopf ihres Sohns. Sie sah Corvinus an, und erneut fragte sie sich, warum er da saß, am Tisch. Warum er ihr nicht gefolgt war. Warum er gerade jetzt, kaum dass sie sich wieder gesehen hatten, eine solche Frage stellte, so… alltäglich. Eine Frage, die genauso gut auch Brix mit ihr hätte klären können. "Du… was…" Siv verstummte und setzte dann erneut an, während Finn im Schlaf nach ihrem Finger griff und sich festklammerte daran. "Wie stellst du dir das vor? Ich meine…" Mit ihrer freien Hand machte sie eine hilflose Geste, dann löste sie sich von Finn und ging doch zu ihm hinüber, lehnte sich neben ihn an den Tisch. Eine ihrer Hände legte sich ebenfalls auf die Platte, neben die seine, und ihre Fingerspitzen berührten sacht die seinen. Nachdenklich starrte Siv auf das Muster, dass ihre Finger gemeinsam ergaben. "Du hast es ihr gesagt." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, wenn auch eine ruhige, ohne Vorwürfe. "Wie soll das werden?"

  • Dass Siv irritiert war, war nur allzu offensichtlich. Sie wusste mit unumstößlicher Sicherheit, was ich am liebsten getan hätte, doch stattdessen saß ich hier am Tisch und sah zu ihr auf. Sah, wie sie Finns kleinen Kopf in einer Geste des Überspielens streichelte und wie ihr Blick fragend von meinem Gesicht zu meiner Hand wanderte. Ich sah selbst darauf hinunter, als suchte ich dort das Objekt ihres Interesses zu ergründen, und als ich den Blick wieder hob, sah sie mich nachdenklich an. Ich schenkte ihr den Versuch eines Lächelns, bis sie zu sprechen begann und abbrach. Sie machte eine wedelnde Geste und kam schlussendlich zu mir, lehnte sich an den Tisch und legte wie versehentlich ihre Hand zu meiner. Ich seufzte leise, nahm meine Hand dann fort, um sie auf die ihre zu legen.


    "Ja. Sie hätte es über kurz oder lang ohnehin herausgefunden", erwiderte ich. "Ich hielt es für besser so. Was Celerina davon hielt, kannst du ja sehen." Ich zog eine kurze Grimasse und wies mit der freien Hand auf die Wange, auf der die Kratzer prangten. Hätte ich es ihr nicht gesagt - hätte sie es selbst herausgefunden und bestätigt gesehen - wäre die Situation vermutlich noch schlimmer als sie ohnehin schon war. Abwesend strich ich mit dem Daumen über Sivs Handrücken. "Wir haben uns arrangiert." Sofern man es so nennen mochte. Ich lehnte mich ein wenig zurück und fuhr mir mit der Hand abgespannt über die Augen und das Gesicht. Danach blickte ich zu Siv auf. "Ich habe nicht die geringste Ahnung", sagte ich. "Ich nehme an, sie wird dir aus dem Weg gehen." Dass bereits bei Sivs Ankunft das Gegenteil der Fall gewesen war und meine Frau Siv schikaniert hatte, ahnte ich schließlich nicht. Vielleicht war das nicht die Antwort auf die Frage, die Siv sich erhofft hatte, doch ging ich davon aus, dass sie auf Celerina hatte anspielen wollen statt auf sie und mich.

  • Im Stillen musste Siv ihm zustimmen. Ja, früher oder später hätte die Flavia es wohl herausgefunden. Allein schon dass er sie nun zurückholte, war merkwürdig genug, dass es ein Zeichen war. Und es verwunderte sie noch nicht einmal, als Corvinus kundtat, dass die Kratzer von seiner Frau stammten. Im Grunde war das die Art der Flavia, so wie Siv sie zumindest kennen gelernt hatte. Sie konnte sich noch allzu gut an die Ohrfeige erinnern, die sie ihr – im schwangeren Zustand noch dazu – verpasst hatte. Immer noch nachdenklich sah sie auf den Tisch, wo seine Hand nun auf ihrer lag. Sein Daumen fuhr sacht über ihren Handrücken, eine stetige Bewegung. Arrangiert hatten sie sich. Und Corvinus sprach noch weiter – und bewies mit seinen nächsten Worten, dass er ihre Frage nicht ganz richtig verstanden hatte. Oder besser, dass er sie nur teils beantwortete, ob nun bewusst oder nicht, konnte Siv nicht sagen. "Nein", antwortete sie schlicht. "Sie wird mich im Auge behalten. Ihre Worte." Womit sie verriet, dass sie die Flavia bereits getroffen hatte. Einen Moment verharrte sie regungslos. Dann hob sie ihre Hand leicht an, so dass sich nun ihre Finger mit seinen verschränkten. "Und wir?"

  • Ich kniff die Augen zusammen, als Siv deutlich machte, dass Celerina sie bereits in die Mangel genommen hatte. Die stete Bewegung meines Daumens verebbte, während ich sie nachdenklich ansah. Im Auge behalten wollte Celerina Siv also. Seltsamerweise stimmte mich das nur nachdenklich, nicht aber verärgert. Vermutlich war das ein gewitzter Hinweis meiner Frau an mich, mit dem Umweg über Siv, dass sie auch mich im Auge behalten wird. Ich brach den Blickkontakt zu Siv ab und betrachtete stattdessen nun auch unsere Hände. Es gab nichts, was ich darauf hätte erwidern können. Es war eine kuriose Situation, die schier unerträglich sein musste für Celerina - musste sie doch annehmen, dass sie bekommen hätte, was sie wollte, wenn Siv nicht gewesen wäre. Ich verstand das. Für mich war die jetzige Lage nun auch nicht eben einfach.


    Sivs Frage durchbrach meine Gedanken und lenkte sie zu sich zurück. Ich starrte immer noch auf dieselbe Stelle. Ihre Haut war heller als die meine, nordischer. Meine Mundwinkel zuckten, dann wagte ich erneut den Blick zu Siv, zu der ich ob ihrer Position aufsehen musste. Sie wollte wissen, was sein würde. Verständlich. Nur hatte ich keine Antwort darauf. Die hatte ich nicht einmal gehabt, als ich sie bei Uland aufgesucht hatte, denn dieser Entschluss war eine der sehr seltenen Bauchentscheidungen gewesen, die ich in meinem Leben bisher getroffen hatte - ohne nachzudenken, ohne eine Vorstellung zu haben. "Ich weiß es nicht", gab ich schließlich zu. Was hätte ich auch anderes sagen sollen? Für die meisten lag es wohl auf der Hand, dass ein Patron seiner ehemaligen Sklavin und ihrem Neugeborenen aushalf, ihnen ein Dach über dem Kopf, Essen und Arbeit bot. So ungewöhnlich war das schließlich nicht, gegenteilig, es war sogar alltäglich. Es würde nie so sein, dass man mich in Rom gemeinsam mit Siv sehen und ich Anstoß für die richtigen Gedanken ob unseres Verhältnisses zueinander geben würde. Nicht, solange ich blieb, wer und was ich war. Mich interessierte, welche Erwartungen Siv an dies hier hatte, doch wusste ich nicht, wie ich die Frage formulieren sollte, ohne dass sie abweisend klang. Ich hob einen Mundwinkel und versuchte mich an einem schiefen Lächeln. "Was denkst du?" spielte ich den Ball schließlich schlicht an sie zurück, mit der Betonung auf dem letzten Wort.

  • Corvinus sagte nichts darauf, dass seine Frau und Siv schon aufeinander getroffen waren. Und irgendwie… irritierte Siv das auch ein wenig. Sie hätte gedacht, dass er es kommentieren würde – gleich in welcher, aber dass er irgendetwas dazu sagen würde. Dass er wenigstens würde wissen wollen, was noch passiert war. Es gab ja nichts weiter zu erzählen, aber es hätte auch mehr geschehen können im Atrium, und wäre Siv nicht so zurückhaltend gewesen, hätte sie sich nicht so sehr auf Finn konzentriert, dann wäre vermutlich auch mehr geschehen. Aber Corvinus schien das nicht einmal zu interessieren. Sivs Blick wanderte kurz zu der Wiege, in der ihr Sohn friedlich schlief. Ihm hätte etwas passieren können. So wie die Flavia offenbar auf Corvinus losgegangen war, hätte sie doch genauso gut auf sie und Finn losgehen können. Was hätte sie davon abhalten sollen? Bei Hel, sie hatte ihrem eigenen Mann das Gesicht zerkratzt – was sollte sie daran hindern, auf eine ehemalige Sklavin loszugehen, die sie eine Hure nannte? Für einen Moment legte sich eine eisige Hand um Sivs Herz, bevor sie diesen Gedanken abschüttelte. Sie wusste nicht, was genau zwischen Corvinus und seiner Frau vorgefallen war, aber es musste ein Streit gewesen sein. Und sie würde der Flavia keinen Grund zum Streiten geben. Sie würde sie nicht provozieren, jedenfalls nahm sie sich das fest vor, schon gar nicht, wenn sie Finn bei sich hatte. Sie trug jetzt Verantwortung, für ihren Sohn. Sie konnte ihrem Temperament, das dieser Wochen ohnehin einen deutlichen Dämpfer erlitten hatte, nicht mehr einfach so nachgeben wie früher.


    Sie sah wieder zurück zu Corvinus, und wo er zuvor geschwiegen hatte, antwortete er nun auf ihrer nächsten Worte. Allerdings nicht sonderlich zufriedenstellend. Siv runzelte leicht die Stirn, als er ihr stattdessen die Frage mehr oder weniger zurückgab. Er hatte doch sie zurückgeholt. Er war es gewesen, der gewollt hatte, dass sie ging – und nun hatte er sie zurückgeholt. Was sie wollte, war doch klar, war schon immer klar gewesen. Es ging darum, was er wollte. Was er sich gedacht hatte. Irgendetwas musste er sich doch dabei gedacht haben – denn dass es nicht so weiter gehen konnte, wie es vor der Geburt gewesen war, war doch klar. "Was ich denke?" wiederholte sie, während sie ihre Hand nun zurückzog, bis der Kontakt gebrochen war. "Das gleiche wie früher. Ich will bei dir sein. Zeit mit dir verbringen, nur wir beide. Und er", fügte sie noch mit einem leichten Nicken in Richtung Finn hinzu. "Ich will nicht das, was vor der Geburt war." Als sie darum hatte kämpfen müssen, dass er überhaupt Zeit mit ihr verbrachte. Der Corvinus, der stets gezweifelt hatte. Der sie abgewehrt hatte, wenn sie zu ihm gekommen war. Der ihre Nähe nicht gewollt hatte, gleich aus welchen Gründen. Der sie dann, nach der Freilassung, überhaupt nicht mehr hatte sehen wollen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal wirklich beisammen gewesen waren – und sie meinte nicht nur das Bett, das sie miteinander geteilt hatten, sondern auch die ruhigen Stunden zusammen. Das war es, was sie wollte – dass er sich Zeit für sie nahm. Und sie wollte auch das Recht haben, einfach zu ihm kommen zu können, so wie früher, wo sie es einfach getan hatte, und nicht stets nur darauf zu warten, dass er zu ihr kam.

  • Sivs Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien sie nicht sonderlich zufrieden zu sein. Ich zuckte flüchtig mit den Mundwinkeln. Mir selbst gefiel das alles schließlich ebenso wenig wie ihr. Es war verzwickt. Sie entwand mir ihre Hand, und ich ließ die meine noch einen Moment dort auf dem Tisch liegen, während ich ihrer Gestik und den Worten folgte. Dabei schwieg ich und sah sie an, auch als sie verstummt war noch. Sie wollte nicht, was vor der Geburt gewesen war. Ich wusste sehr gut, was sie meinte, und im Grunde wollte ich das auch nicht. Es würde nur nie so werden, wie sie sich das vorstellte, das war mir klar, und auch für sie musste es deutlich sein. Ich schloss die Augen für einen Moment, dann seufzte ich und griff nach ihrem Handgelenk. Sanft zog ich sie zu mir, wartete, bis sie seitlich auf meinen Oberschenkeln Platz genommen hatte, und legte hernach einen Arm um ihre Taille. Die freie Hand hob ich, um ihr über die Wange zu streichen, dann ließ ich sie wieder sinken. "Das will ich auch nicht. Aber ich muss ein Mittelmaß finden, Siv. Ich brauche Celerina." Sicherlich war dies nicht das, was sie hören wollte, und doch war es die Wahrheit. Celerina war trotz all ihrer, meiner und unserer gemeinsamen Fehler meine Frau, und als solche achtete ich sie. Ich würde sie mit Respekt behandeln und nicht wie eine lästige Schmeißfliege, und abgesehen davon, dass unsere Ehe aufgrund unserer unterschiedlichen Persönlichkeiten und Erwartungen ein Desaster war, war sie dennoch - meistens! - eine römische matrona, wie man sie sich wünschte.


    Ich legte auch den anderen Arm um Sivs Gestalt, der - zumindest bekleidet - die kürzliche Schwangerschaft nicht mehr anzusehen war. Bei dem Gedanken daran, ob das auch ohne ihre tunica der Fall war, wurde ich mir ihrer Positionierung schlagartig bewusst. Ich schloss die Augen und tat, als bemerkte ich nichts. Ich wusste zwar, dass Siv diesen gewissen Reiz auf mich ausübte, aber dass er so unerbittlich zuschlug, war schwer zu ignorieren. Ich tat mein Möglichstes. "Es darf davon nichts nach außen dringen", fuhr ich fort, die leicht kratzige Stimme mit einem anschließenden Räuspern klärend. Den meisten mochte es vielleicht gleichgültig sein, was ein römischer Senator innerhalb seiner Ehe mit einer Geliebten trieb, doch befürchtete ich, dass das Ansehen der Familie dennoch darunter leiden mochte. Zumindest die Flavier würden sich vermutlich ungerecht behandelt fühlen, um Celerinas Willen, und allein schon das wollte ich vermeiden. Je weniger Personen daher davon wussten - nicht nur mutmaßten, desto besser war es.

  • Corvinus reagierte zunächst gar nicht, schloss dann die Augen und seufzte, bevor er nach ihr griff und sie zu sich zog. Nur zögernd gab Siv dem leichten Druck nach, Stück für Stück, bis sie sich schließlich seitlich auf seine Beine setzte. Dann erst sagte er etwas – und Siv musterte schweigend ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Natürlich brauchte er die Flavia. Sie wusste das. Nur wie dieses Mittelmaß aussehen sollte, das wusste sie nicht. Was die Wochen, Monate vor der Geburt gewesen war, war in jedem Fall kein Mittelmaß gewesen, ganz sicher nicht. Keines, das sie akzeptieren konnte, selbst wenn sie die Streits ausblendete und die Phasen, in denen er ihr komplett ausgewichen war.


    Erst, als Corvinus noch etwas sagte, die Stimme diesmal leicht rauer als noch zuvor, wandte Siv ihren Blick und sah ihn an, und sagte schließlich auch etwas. "Ich will mit dir nicht über das Forum gehen, oder die Märkte. Ich will nicht, dass uns jemand sieht. Dass das jemand weiß. Das wollte ich nie", antwortete sie, und diesmal klang ihre Stimme ein wenig aufgebracht, auch wenn sie sich wegen Finn bemühte, leise zu bleiben. "Und was Celerina macht, ist mir egal, wenn sie mich in Ruhe lässt. Dass du sie brauchst, weiß ich, dass es nicht leicht ist, weiß ich, das weiß ich seit du gesagt hast, du wirst sie heiraten!" Und sie hatte trotzdem bei ihm bleiben wollen. "Ich will nicht, was sie hat. Du bist was du bist, und ich… ich will gar nicht, was sie hat und tut, als Frau von dir, von einem Römer, einem Senator. Das kann ich gar nicht." Inzwischen hielt es Siv nicht mehr auf seinem Schoß, und sie stand wieder auf, während sie gestikulierte. Mit Corvinus irgendwo in einem Häuschen leben, ja, das könnte Siv sich gut vorstellen. Irgendwo weit weg von Rom. Aber dass das nicht möglich war, wusste sie nur zu gut, und sie war nicht der Typ Mensch, der Träumen nachhing, die unmöglich waren. Allerdings wollte sie das, was möglich war. "Ich will nicht den Senator, ich will dich! Zeit mit dir! Nicht den ganzen Tag, aber etwas Zeit, für uns, und dann… keine Streitereien, und nichts über die Flavia, oder darüber, dass das hier falsch ist oder dass ich nicht bei dir sein soll. Dass ich dich nicht wollen soll! Das du mich nicht willst." Das letzte kam verzögert, wie ein Nachsatz, und deutlich leiser.

  • Aufgewühlt antwortete sie auf meine Worte hin. Ich warf einen Blick zur Wiege hin, aber das Kind schlief in aller Seelenruhe weiter. Sivs Worte bescherten mir ein schlechtes Gewissen, und das brachte letztendlich auch die Ablenkung mit sich, die ich brauchte, um andere Dinge fort zu schieben. Die Art ihrer Formulierung traf mich, denn sie klang wie damals. Ich musterte sie ruhig. Es ging dort weiter, wo es aufgehört hatte. Siv sprang auf und begann zu gestikulieren, und ich sah sie nur an und ließ sie gewähren, bis sie wieder still stand und mich ansah.


    "Ich kann das nicht einfach ablegen, Siv", sagte ich matt. Und wie auch? Ich war Römer, war Senator. Wie hätte ich das vergessen sollen? Ich sah zu dem schmalen Fenster hin und strich erneut abwesend über Celerinas Kratzer. Ich musste einen Moment verstreichen lassen, ehe ich Siv wieder anschauen konnte. "Und wenn es so wäre, wäre ich dann zu dir gekommen?" fragte ich sie forschend. Ich war schließlich ihretwegen zu Uland gegangen, zu einem gewissen Teil damit auch um meinetwilen. Machte mich das nun egoistisch? Mein anschließendes, nachdenkliches Schweigen war nur kurz. "Ich kann dir nicht versprechen wie die Zukunft aussieht, Siv. Ich kann tun, was mir möglich ist. Aber ich muss Celerina den Vorzug geben." Das waren harte Worte, doch waren sie ehrlich. Es würde wohl auf eine Art Geduldsspiel hinauslaufen, in dem drei Fässer in gewissen Abständen einen Tropfen erhielten. Welcher dann welches Fass zum Überlaufen bringen würde, würde die Zeit zeigen - und keiner von uns würde etwas daran ändern können, es sei denn, Celerina gebar mir den ersehnten Erben.

  • Er konnte es nicht einfach ablegen, sagte er. Was? Was konnte er nicht ablegen? Die Streitereien? Den Gedanken, dass das, was sie beide hatten, falsch war? Siv konnte so nicht weiter machen, sie war es müde, um jedes bisschen kämpfen zu müssen, was sie von ihm bekam und nicht in einem Streit endete oder einer Diskussion wie dieser hier. Sie hatte schlicht keine Kraft mehr dafür, jetzt, wo Finn da war, noch viel weniger. Sie stieß sich ab von dem Tisch, an dem sie noch gelehnt hatte, und ging einen Schritt in den Raum hinein, auf die Wiege zu, blieb dann aber stehen und sah Corvinus wieder an. Er war zu ihr gekommen, das stimmte. Aber nach dem, was er gerade gesagt hatte, war Siv schleierhaft warum er das getan hatte. Wenn er nach wie vor dachte, dass das hier im Grunde falsch war, falsch auf eine Art, die er nicht beiseite schieben konnte – und so hörte es sich für Siv beinahe an –, dann wusste sie nicht, warum er gekommen war und sie zurückgeholt hatte. Und dann sagte er, dass er Celerina den Vorzug gab. Geben musste, aber das war das Gleiche. Siv blinzelte, und sie fühlte sich, als ob ein Eimer eisigen Wassers über ihr ausgekippt worden wäre. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Den Vorzug. Dass Celerina und sie gleichauf waren, wenn auch auf anderer Ebene, das hätte Siv noch begriffen. Das hätte sie auch akzeptiert. Aber das war es nicht, was Corvinus sagte. Er gab der Flavia den Vorzug. Was hieß das? Dass es so weiter ging wie zuvor? Dass es Tage, Wochen dauern würde, bis sie ihn das nächste Mal sah? Dass sie sich hier so einsam fühlen würde wie bei Uland, einsamer vielleicht sogar noch, weil sie sich – abgesehen von ihrem Kummer – bei Ulands Familie wohl und willkommen gefühlt hatte, weil es hier nur Brix gab und vielleicht noch Sophia und Niki, und alle drei nicht viel Zeit hatten? Nachdem Siv gerade erst wortreich erklärt hatte, dass sie all die Dinge, die Celerina hatte und die ihr zustanden als Corvinus’ Frau, gar nicht wollte, dass sie weder an seiner Seite in der Öffentlichkeit erscheinen wollte noch sonst etwas, konnte Siv gar nicht anders als diesen Satz, dass die Flavia stets den Vorzug haben würde, eben so zu interpretieren: dass Siv auch in den wenigen Stunden der Freizeit, die Corvinus haben mochte, das Nachsehen haben würde. Dass er diese nicht mit ihr verbringen würde, nicht einmal dann, wenn es ging – da Celerina den Vorzug hatte. Und Siv wusste nicht, ob sie das konnte. Sie konnte sich damit abfinden, in so vielen Bereichen seines Lebens völlig ausgeschlossen zu sein oder, wenn überhaupt, weit zurückzustehen hinter der Frau, die seine Ehefrau war. Aber sie konnte nicht damit leben, dass sie in jedem Bereich seines Lebens nur die Nummer zwei war. "Bei was?" fragte sie dennoch, in der Hoffnung, vielleicht etwas falsch verstanden zu haben, und schluckte mühsam gegen den Kloß an, der ihre Stimme rau werden ließ. "Bei was gibst du ihr den Vorzug? Bei allem? Ich kann nicht so leben, wie das vor der Geburt war, Marcus. Ich kann… nicht… so einsam sein. So… traurig." Siv kämpfte mit sich, mit den Worten und mit den Tränen, die aufsteigen wollten. Es fiel ihr nicht leicht, das zu sagen, aber diesmal musste es sein. Um Finns Willen. "Schon wegen ihm nicht. Ich will eine gute Mutter sein, und… ich bin nicht gut, für ihn, wenn es mir so geht. Und ich will auch nicht in allem hinter ihr zurückstehen."

  • "Das tust du nicht, Siv", erwiderte ich matt und seufzte. Es gab mindestens eine Sache, in der Celerina hintenan stand, und die betraf meine Zuneigung. Es hätte noch mehr Dinge gegeben, wenn...ja, wenn es nicht diesen Handel gegeben hätte, den Celerina mir abgerungen hatte.


    Wie Siv so dort stand und unglücklich war, meinetwegen, war für mich nicht eben leicht mitanzusehen. Nach einem weiteren Moment stand ich schließlich auf und ging auf sie zu. Vor ihr blieb ich stehen, betrachtete sie einen flüchtigen Augenblick lang, ehe ich eine Hand in ihren Nacken und die andere an ihren Rücken legte und sie stumm an mich heranzog. Ich schloss die Augen, sog ihren Duft ein und wollte nichts als Celerina vergessen in diesem Moment, aber sie war da, und ich konnte sie ebenso wenig verleugnen wie die Tatsache, dass ich ein Römer war. "Ich will nicht, dass du meinetwegen traurig bist. Ich würde so gern vieles vergessen, wenigstens für Momente, aber ich kann nicht vergessen, wer ich bin, Siv. Das wird ein Teil von mir bleiben, ganz gleich, wo ich bin und was ich tue", sagte ich leise, sie haltend. Dieses Gefühl an sich war beinahe berauschend, auch wenn die Situation denkbar schlecht war, da Siv unglücklich und ich selbst zwiegespalten war. "Das hat mir gefehlt. Sehr sogar." Untätiges Stehen, Siv an meiner Brust, der Raum erfüllt von ihrem Duft - mir wurde erst jetzt bewusst, wie sehr ich das vermisst hatte. Diese Erkenntnis nahm mir beinahe den Atem. Dass man so etwas empfinden konnte, machte mich schlicht sprachlos. Mühsam brachte ich dieses Gefühl unter Kontrolle, bevor ich überhaupt weitersprechen konnte. "Ich kann mich nicht der Pflicht entziehen, die ich habe." Ich meinte damit eines vor allem anderen, und doch auch jene Pflichten, die mir sonstig aufgebürdet waren und die ich nicht vernachlässigen konnte noch würde. Ich spielte hierbei auch auf Celerina an, auf die Erwartungen als Ehemann, die an mich gestellt wurden, und doch sprach ich dies nicht aus. Siv würde auch ohne explizite Erklärung wissen, was ich damit meinte.


    Meine Lippen fanden den Ansatz ihrer Stirn, ich kam nicht umhin, sie dort zu küssen. Mein Atem streifte über ihre helle Haut, die Augen hielt ich immer noch geschlossen. "Aber ich werde für dich da sein", knüpfte ich an meinen vorangegangenen Satz an.

  • Siv stand da, die Arme inzwischen verschränkt, und als Corvinus kam, ließ sie sich widerstandslos erneut in den Arm nehmen. Sie hörte, was er sagte. Und sie hörte, dass er auf ihre Frage nicht antwortete. Dass er ihr nicht sagte, bei was er seiner Frau den Vorzug geben würde. Oder dass es nicht so werden würde wie vor der Geburt. Er sprach nur davon, dass er nicht vergessen konnte, nicht einmal für Momente, und von der Pflicht, die er hatte. Siv atmete tief ein, während ihr Kopf an seiner Brust lag, und fast klang es wie ein Seufzen. Sie wusste doch, wer er war, und dass er nicht aus seiner Haut konnte. Sie wusste es. Sie wollte das auch gar nicht von ihm. Sie wollte doch nur, dass er sich Zeit für sie nehmen würde, regelmäßig – und dass er das tat, weil er es wollte. Sie wollte, dass es so war wie früher – nicht dass es einfach war, als sie noch seine Leibsklavin gewesen war, aber es war immerhin… irgendwie selbstverständlich gewesen. Sie hatte direkt neben seinem Gemach gewohnt, es war ein Leichtes gewesen, abends zu ihm zu gehen. Es war niemandem aufgefallen. Und sie hatten Zeit miteinander verbringen können, abends war die beste Gelegenheit dafür. Corvinus hatte häufig noch etwas gelesen, aber das hatte Siv nichts ausgemacht. Nur wenn es wieder Diskussionen gegeben hatte… Aber was war jetzt? Sie schlief nun hier, sie hatte darüber hinaus Finn. Wenn sie jetzt abends zu ihm ging, gar die Nacht bei ihm verbrachte, würde es jemandem auffallen. Wenn er zu ihr kam, noch mehr, erst recht dann, wenn er länger blieb. Und sie wollte einfach nicht ständig auf ihn warten müssen, schon gar nicht tagelang – aber genau das war es doch, was er ihr in Aussicht stellte, oder nicht? In jedem Fall versicherte er ihr nicht, dass das nicht passieren würde. Siv wusste beim besten Willen immer noch nicht, wie Corvinus sich das vorstellte, aber sie wusste, was sie nicht wollte.


    Siv presste die Lippen zusammen und fühlte sich hin und her gerissen. Sie liebte das hier. Sie wollte nicht mehr als das, seine Nähe zu spüren, von ihm gehalten zu werden, so wie jetzt, seinen Geruch einzuatmen und seine Berührung zu fühlen. Ihr hatte das auch gefehlt, so sehr. Aber tagelang auf das hier warten – und dann hatte er endlich Zeit für sie, und am Ende diskutierten sie nur doch jedes Mal wieder, weil er die Flavia nicht aus dem Kopf bekam und ein schlechtes Gewissen hatte? War es dann nicht besser, wenn sie… wenn sie nicht doch einfach… ging? Etwas in ihrer Brust krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, und in diesem Augenblick spürte sie seine Lippen auf ihrer Stirn. Ich werde für dich da sein. Sie wollte so gern daran glauben. Wollte glauben, dass er für sie da sein würde, wenn sie ihn brauchte, wenn sie ihn wollte, dass er sich nicht wieder zurückziehen von ihr, dass er sie nicht alleine lassen würde. Sie spürte die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut, spürte seinen Atem, der darüber strich, und langsam hob sie ihr Gesicht an, so dass sein Mund Stück für Stück nach unten wanderte, über ihre Haut, bis sich ihre Lippen schließlich fanden.

  • Ich ahnte nichts von Siv Gedanken. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, was sie dachte - dass konkrete Angaben so wichtig für sie gewesen wären. Ich stand nur dort und hielt sie, ohne sonst etwas zu tun. Der Kuss war süß und verheißungsvoll, und spätestens als er intensiver wurde, musste ich meine Gedanken in andere Bahnen lenken und mich entgegen meiner Wünsche zügeln. In jenem Moment hasste ich Celerina und ihre Winkelzüge. Trotz keimte in mir auf, wozu sollte ich ihre Wünsche achten, wenn sie nicht einmal imstande war, mir einen Erben zu gebären? Andererseits war sie nicht dumm - es wäre ihr ein Leichtes, weiterhin nicht schwanger zu werden, wenn sie dies hier erfuhr. Und obgleich ich nicht auf Iuppiter den Stein geschworen, sondern ihr lediglich ein Versprechen gegeben hatte, konnte ich es nicht brechen. Ich beendete den Kuss sanft und seufzte leise. "Ist er schon gewachsen?" fragte ich Siv aus zwei Gründen - um abzulenken und weil es mich tatsächlich interessierte - und nickte zu der Wiege hin. Ich hatte meinen Sohn bisher so selten gesehen, dass ich das nicht beurteilen konnte.

  • Und wieder tat er es. Siv war sich sicher, dass Corvinus dasselbe durch den Kopf ging wie ihr. Dass er dasselbe wollte wie sie. Und doch, anstatt den Kuss fortzuführen, anstatt sie zu berühren, zu liebkosen, löste er sich schließlich von ihr. Das Thema, das er nun als Ablenkung nutzte, war deutlich geschickter gewählt, und trotzdem wurde Siv das Gefühl nicht los, dass es nichts anderes war als eben das: Ablenkung. Sie sah kurz zu Finn hinüber und korrigierte sich dann. Vielleicht nicht nur Ablenkung, gestand sie ihm zu. Nicht nur. Aber auch. Sie wusste nur nicht so recht, warum. "Ja", antwortete sie leise, ihre Nase an seiner Wange, ihre Lippen an seinem Kinn, sacht über seine Haut streichend, als sie sie bewegte während sie sprach. Und wieder suchten ihre Lippen die seinen. Sie wollte ihn. Jetzt. Und ihr war sogar bewusst, dass das zu einem guten Teil daran lag, dass sie sich eben nicht Gedanken darüber machen wollte, wie das hier weiter gehen würde – und das würde sie, sobald sie zuließ, dass die Leidenschaft abflaute anstatt stärker zu werden. Sie würde sich wieder Gedanken machen. Sie würde mit ihm wieder darüber reden – oder alternativ nicht wissen, was sie sagen sollte. Aber sie wollte ihn auch, weil sie ihn einfach… wollte. Weil sie ihn liebte, weil sie ihn vermisst hatte, ebenso sehr wie das hier. Wochenlang hatten sie sich nicht gesehen, aber das letzte Mal, dass sie sich körperlich so nahe gewesen waren, war schon Monate her. Und im Gegensatz zu ihm hatte sie niemanden sonst gehabt.

  • Siv ließ sich nur kurz ablenken. Einerseits war das nur allzu willkommen, andererseits trieb sie mich damit schneller in die Enge, als es mir lieb gewesen wäre. Sie ging in die Offensive, und nicht zum ersten Mal fühlte ichmich seltsam machtlos dagegen, wie ein Floß auf dem weiten, offenen Meer. Das Kind schlief, Sivs Absicht war nur allzu deutlich - und mein Widerstand schmolz schneller als ich mich gedanklich dagegen stemmen konnte. Der nächste Kuss war nicht so zart, er schürte andere Gefühle, und mein Griff wurde ein klein wenig gröber. Ich zog Siv noch näher an mich heran, ausgehungert regelrecht, entschied mich nach wenigen Herzschlägen anders und schob sie beständig rückwärts, auf die Wand zwischen Bett und und Tür zu, an der sie kurz darauf sachte anstieß. Es war lange her, dass ich sie gehabt hatte, dass wir uns so nahe gewesen waren. Ich drückte sie an die Wand, nestelte bereits am Saum ihrer Kleidung, die ein lästiges Hindernis war und sonst nichts.


    Dann schlug das schlechte Gewissen zu. Ich stöhnte - und es klang frustriert. Ich legte den Kopf in den Nacken und verfluchte im Geiste mich selbst und das Zugeständnis, das ich ohne großartig nachzudenken gemacht hatte. Zeitgleich ließ ich Siv los, trat einen Schritt zurück und starrte sie enttäuscht an, ohne etwas zu sagen.

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