Tilla schlich aus der Kammer, die neben Aurelia Priscas Zimmer lag und eilte mit bloßen Füßen den altbekannten Weg entlang, der sie in den aurelischen Garten führen würde. Mit dabei hatte sie eine zu kurz gewordene Tunika und ein Paar alter Sandalen. Beides waren Kleidungsstücke, die sie als Errinnerung an die schwere Zeit auf der Straße, aufbewahrt hatte. Leichtfüßig rannte sie auf den alten Baum zu, der ihr früher als Kletterbaum sowie als Rückzugsort gedient hatte. In dieser Nacht wollte sie sich von diesem Ort verabschieden, denn sie war zu alt und zu groß geworden. Der Baum war kein geheimnisvoller Baum mehr, der geheimnisvolle Geschichten vom Wind erzählt bekam. Er war nur noch der alte Baum.
Die stumme junge Frau zog sich am ersten Ast hinauf und kletterte immer weiter, bis zu dem Astloch. In eben jenen stopfte sie die alten Kleidungsstücke hinein. Behutsam bedeckte sie diese mit einem braunen Tuch, der farblich hervorragend zur Farbe der Äste passte. Mit einer leicht zitternden Hand strich sie ein letztes Mal über den Stoff und sah zwischen die Zweige hinauf zu den Sternen, bis sie den halbierten Mond fand. Ein kleines Lächeln bildete sich um ihre weichen Mundwinkel. Guter Mond, schweigend schaust du auf mich und uns alle nieder. Es ist sicher nicht alles gut, was du anschauen musst. Sehe ich dich nur halb, so denke ich, dass du großzügig ein Auge zu drückst. Danke, dass du über mich und uns alle wachst und hoffentlich weiter über alle wachen wirst. gebärdete sie ohne Flüstern. Ihre Hände sanken hinab und streichelten die Baumrinde. Wenige Sekunden nach diesem Gedicht begann sie den Abstieg und fühlte asbald den Rasen unter den Füßen. Mit einem Atemzug blies sie die Haare aus der Stirn und ging langsam, mit verschränkten Armen auf die Villa zu. Es war gar nicht so einfach den Mantel der Kindheit und Jugend abzustreifen, denn jetzt war sie eine erwachsen geworden junge Frau.