In einem Artikel von Gerhard Radke in "Aufstieg und Niedergang der römischen Welt" I, 2, 1972, bin ich auf, meiner Meinung nach, durchaus interessante Aspekte des Vestalendaseins gestoßen, die ich gerne vor allem den Vestalinnen simmenden Spielern des Forums nicht vorenthalten möchte:
" ... Die zahlreichen Felsenstürze innerhalb der griechischen Mythologie gehen auf eine entsprechende rituelle Maßnahme zurück. Diese hat soziologische und kultische Motive: Ein Mädchen, das den strengen Ehegesetzen des Stammes zuwiderhandelt, beschwört dadurch Unglück über die Gemeinde herauf; um das zu vermeiden, setzt man voraus, daß der Fremde mit dem das Mädchen verkehrte, ein Gott - Zeus naht Danae, Mars der Ilia - war, dem man die Geliebte überantwortet, indem man sie ohne gewaltsame Tötung aus der Welt der Menschen in die der Götter überführt. Das konnte durch Steinigung, durch Lebendigvergraben oder durch Felsensturz erreicht werden; der Felsensturz hatte den Vorteil, sich die Verwandlung der Ausgestoßenen in einen Vogel leichter vorstellen zu können. (vgl. den Sturz vom leukadischen Felsen mit der künstlichen Andeutung einer Vogelverwandlung bei Strab. 10, 452.) Sekundär konnte ein derartiges Mädchenopfer auch bevorstehendes Unheil fernhalten oder vorhandenes vertreiben; so entstand die Einrichtung, Mädchen bereitzuhalten, die gegebenenfalls für das Wohlergehen der Gemeinde geopfert werden konnten, auch wenn sie nur eine quasi stellvertretende Schuld besaßen: Die lokrischen Mädchen und ihr Opferdienst in Troia (Plut. ser. num. vind. 12; F. SCHWENN, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern, Gießen 1915, 47ff.) sind dafür das bekannteste Beispiel. In Rom ist so die Sonderstellung der Vestalen zu erklären (RADKE, Die Götter Altitaliens, 1965, 320ff.).
In der Captionsformel der Vestalin steht nichts vom Bewachen des Feuers, wohl aber heißt es, sacra faciat, quae ius siet sacerdotem Vestalem facere pro populo Romano Quiritibus (Gell. 1, 12, 14.); und deshalb sind sex Vestae sacerdotes institutae . . ., ut populus pro sua quaque parte haberet ministram sacrorum (Fest. 468, 5 L.). Die Vestalin wird optima lege bzw. uti quae optima lege fuit eingesetzt; das ist die Formel, die sonst beim magister populi, d.h. dem dictator, Anwendung findet (Fest. 216, 11ff. L.: optima lex . . . in magistro populi faciundo, qui vulgo dictator appellatur usw.): Wie dieser eine besondere Stellung gegenüber einer Reihe von iura - beispielsweise verliert vor ihm das ius provocationis ad populum seine Gültigkeit - einnimmt, tritt auch die Vestalin aus dem üblichen Rahmen heraus. Sie verlässt durch die capio die patria potestas sine emancipatione ac sine capitis minutione (Gell. 1, 12, 9. Paul. Fest. 61, 25ff. L. Gai. inst. 1, 130.); diese Sonderstellung besitzt sonst allein der flamen Dialis (Gai. inst. 1, 130. 3, 114.). Es kommt hinzu, dass die Liktoren aller Beamten vor den Vestalen ihre fasces senken (Sen. contr. 6,8), was sie sonst nur dann tun, wenn ihr magistratus zum populus Romanus spricht (Liv. 2, 7, 7. Val. Max. 8, 44.), wenn er einem magistratus mit höherem imperium begegnet (Plin. h. n. 7, 112. Cic. Brut. 22. Dion. Hal. ant. 8, 44.) und wenn er an einem funus teilnimmt (Tac. ann. 3, 2, 2.). Da die Vestalin weder als höherer magistratus noch als Repräsentantin des polpulus Romanus angesprochen werden kann, bleibt nur übrig, sie als eine - noch lebende - Tote zu verstehen. Wie sie als kultisch "Tote" noch in der Stadt "lebt", kann sie auch innerhalb ihrer Mauern nach ihrem natürlichen Tode bestattet werden; dieses Sonderrecht haben, weil sie außerhalb der Gesetze stehen, die römischen Kaiser und die Vestalen: imperatores et virgines Vestae, quia legibus non tenentur, in civitate habent sepulcra (Serv. (auct.) Aen. 11, 106.).
Wenn die Vestalin sine kapitis deminutione exierit de potestate parentis veluti morte eius (Gai. inst. 3, 114) (bz. morte sua), erfüllt sie die Bedingung, da der Tod allein in allen anderen Fällen die patria potestas sine emancipatione ac sine capitis minutione (s.o.) aufzulösen vermag. Die sacra, quae ius siet sacerdotem Vestalem facere pro populo Romano Quiritibus, werden gegebenenfalls durch ihren rituellen Tod an ihr selbst vollzogen.
Betrachten wir ferner die aedes Vestae: Sie ist nicht inauguriert (Gell 14, 7, 7. Serv. Aen. 7, 153.), ihr Rundbau hat nur eine relativ sehr geringe Größe, die Funde unter den Fundamenten lassen einen mundus vermuten. Auf Grund dieser Fakten hielte man - wäre man völlig unvoreingenommen - das Bauwerk für ein Grab wie die runde ἑÃÄί± º¿¹½ή in Mantinea, die als Grab der Stadtgründerin Antinoe galt (Paus. 8, 9, 5.). Dass niemand außer der Vestalin die aedes Vestae - eben dieses "Grab" - betreten durfte (Lucan. 1, 598. 9, 993f. Ov. fast. 6, 154. 450. Lact. inst. 3, 20, 4.), wird nur dann sinnvoll, wenn sie selbst eine Tote, die aedes der ihr zukommende Platz ist. Die Tage der Vestalia, an denen sich das "Grab" öffnet (CIL I² p. 266. 309. Fest. 296, 13f. L. Serv. auct. Aen. 3, 12.), fallen mit denen der attischen Plynteria, des "Untertauchfestes", zusammen (DEUBNER, Attische Feste, 1956, 22.); in beiden Fällen bleiben die anderen Tempel geschlossen. Die Übereinstimmung ist wahrscheinlich ursächlich begründet. In Rom bringt man bei der Reinigung des Tempels das stercus in den angiportus unter der rupes Tarpeia (Varro 1. 1. 6, 32. Fest. 310, 23. 466, 32ff. L.) und wirft schließlich die purgamina in den Tiber, der früher unter dem Felsen vorbeifloß. Das ist der Platz, an dem auch inzeste Vestalen hinabgestürzt werden (RADKE, Die Götter Altitaliens, 1965, 325f.). Man hat nicht widerlegen können, dass die Tracht der Vestalin - bis auf ihr suffibulum - die der römischen Braut sei (H. DRAGENDORFF, Die Amtstracht der Vestalinnen, Rhein. Mus. 51, 1896, 281ff.) - sie ist gewissermaßen auch eine "Gottesbraut" -, und hat sich vergeblich bemüht (WISSOWA, Religion und Kultus der Römer, ²1912, 158, 7. 509, 5. L. DEUBNER, Religion der Römer, b. CHANTEPIE DE LA SAUSAYE, A. BERTHOLET, E. LEHMANN, Lehrbuch der Religionsgeschichte II, Thübingen 1925, 450. TH. MOMMSEN, Römische Forschungen I, Berlin 1864, 80.), sie als Nachfolgerin der römischen Königin oder der Königstöchter oder als Haustochter des römischen Volkes oder als Partnerin des pontifex maximus zu erweisen; letzterem widerspricht allein schon die Regel, nach der die sponsa pontificis nicht Vestalin werden darf (Gell. 1, 12, 7.). Das ehrenvolle Geleit des obersten Kultbeamten jedoch bis zu dem Platze auf dem campus sceleratus, wo sie lebendig begraben - zur Bedeutungsgleichheit dieser Tötungsart mit dem Felsensturz s. o. -, oder auch zum Kapitol (Horat. c. 3, 30, 8f.), von dessen rupes Tarpeia sie hinabgestürzt werden soll, lassen erkennen, dass keine Bestrafung für wirklich begangenes Unrecht - der Nachweis des Inzests erfolgt jeweils nur formal -, sondern der Vollzug einer rituellen Handlung vorliegt, der ein für diesen Zweck bereitgehaltenes Mädchen unter fiktiver Motivation ausgesetzt wird.
Seit es im Dienst der Vesta Vestalen gibt, finden gerade diejenigen unter ihnen, die wegen Inzests "bestraft" werden mussten, von der sagenhaften Ilia an eine rühmliche Erwähnung in der Überlieferung. Immer aber wurde dann das Opfer - pro populo Romano Quiritibus - an ihnen vollzogen, wenn die res publica in Not war: Das gilt für die Tötung der Opimia i. J. 483 v. Chr., der Minucia i. J. 337 v. Chr., der Sextilia i. J. 273 v. Chr. und der Opimia i. J. 216 v. Chr. ..."