cubiculum FN | Neues Leben

  • Ein dumpfes Stöhnen drang aus den Gemächern, die Nigrinas waren. So wenig sie ein Problem damit hatte, herum zu brüllen, wenn sie sich gerade aufregte – so sehr hatte sie eines damit, es zu tun, wenn sie Schmerzen hatte.
    Und im Augenblick hatte sie Schmerzen. Sie hatte gewusst, dass eine Geburt schmerzhaft werden würde, aber dass es so schmerzhaft werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Im Traum nicht. Zuerst war es nur ein Ziehen gewesen, das sie für die üblichen Vorwehen gehalten hatte – die immerhin kamen nun immer öfter, und da die Hebamme ihr gesagt hatte, was sie erwartete, ignorierte Nigrina diese schlicht. Sie motzte gelegentlich darüber, aber sie jammerte nicht – und sie ließ schon gar nicht zu, dass diese Unannehmlichkeiten tatsächlich ihr Leben beeinflussten oder gar beherrschten.
    Allerdings waren sie häufiger gekommen als bislang. Und sie waren stärker gewesen. Und länger. Und dann waren sie mit einem Sprung plötzlich stärker geworden, so stark, dass sie realisiert hatte, was nun anstand – und zu ihrem Leidwesen war diese beim Essen gekommen, und es hatte sie einiges an Selbstbeherrschung gekostet, sich nichts anmerken zu lassen. Oder es wenigstens zu versuchen. Vermutlich hatte sie das Gesicht verzogen, und sie hatte ganz sicher plötzlich angespannt gewirkt, aber sie hatte immerhin keinen Laut von sich gegeben. Wäre ja noch schöner. Sie hatte abgewartet und sich danach mit einer oberflächlichen Entschuldigung zurückgezogen – um nach der Hebamme schicken zu lassen, und sich in ihre Gemächer zurückzuziehen.


    Und dort war sie nun. Herumlaufend, stehend, sitzend, liegend, wieder herumlaufend, irgendwie musste man ja die Zeit totschlagen. Nachdem die Hebamme bestätigt hatte, dass nun wohl die Geburt bevorstand, hatte Nigrina den Parther losgeschickt, der ihrem Mann Bescheid sagen und sich dann vor ihrer Tür postieren sollte, um unerwünschte Besucher abzuwimmeln und zur Not als Botenjunge zu fungieren, wenn drinnen irgendetwas gebraucht wurde. Ein anderer Sklave war geschickt worden, um die Amme zu holen, die Nigrina ausgesucht hatte, das Kind nach dem ersten Stillen zu versorgen.
    Und dann hieß es: warten. Warten auf die nächste Wehe, warten auf die nächsten Schmerzen, die sich stückweise zu steigern begannen, warten auf das Ende in Form der Geburt. Nigrina scheuchte Sklavinnen herum. Nigrina scheuchte auch die Hebamme herum, oder jedenfalls versuchte sie es, auch wenn diese sich davon wenig beeindrucken ließ – sie war es gewöhnt, mit schwangeren oder gebärenden Frauen umzugehen, die von hohem Rang waren und sich entsprechend benahmen, denn natürlich hatte Nigrina nicht einfach irgendeine Hebamme ausgesucht. Die Flavia wiederum wusste, dass sie die Frau noch brauchen würde, was der Grund war, warum sie sich ihr gegenüber dann doch noch ein wenig besser verhielt als gegenüber ihren Sklavinnen.
    Aber sie brauchte Ablenkung. So lange die Ruhephasen noch ausreichend Zeit boten, tigerte sie also im Raum umher, ließ sich je nach Laune vorlesen, Musik vorspielen, etwas anderes vorlesen... Aber es dauerte. Und dauerte. Und dauerte. Und kontinuierlich wurde das Ziehen stärker, schmerzhafter, ihr Bauch verkrampfte sich mehr und mehr, bis Nigrina schließlich nur noch lag, aber immer noch dauerte es. Die Hebamme versicherte ihr, dass das ganz normal sei, vor allem bei der ersten Geburt, aber der Flavia war ziemlich egal, was normal war und was nicht. Sie wollte einfach nur, dass es schnell ging. Dass sie es hinter sich hatte. Sie hatte sich monatelang abgequält, um ihrem Mann ein Kind zu gebären, ganz wie es sich für eine Ehefrau gehörte, da konnte es doch nun am Schluss wenigstens schnell gehen!


    Allein, das Kind ließ sich Zeit. Stunden um Stunden vergingen, die Nacht brach herein, und der Körper der Flavia wurde immer häufiger von immer heftigeren Wehen geschüttelt. Nigrina biss in ein Stück Holz, aber selbst das konnte auf Dauer nicht mehr verhindern, dass sie anfing zu schreien. Und es dauerte immer noch. Erste Geburt, hörte sie zwischendurch die Hebamme wiederholen, da sei das normal. Irgendwann gesellte sich zu der Erste Geburt-Litanei der Schmale Hüften-Singsang. Nigrina hätte der Hebamme am liebsten einen Tritt in deren nicht ganz so schmale Hüften gegeben, aber sie war bei weitem nicht mehr in der Verfassung, sich wirklich zu rühren, geschweige denn aufzustehen und handgreiflich zu werden.
    Die Wehen gingen kontinuierlich weiter und schienen sich irgendwann auf einem gewissen Niveau einzupendeln, während die Nacht vorüber ging und draußen der nächste Tag anbrach. Erst, als die Sonne schon aufgegangen war, änderten sie sich wieder und bekamen nun eine völlig neue Qualität. Nigrina meinte, dass es ihren Unterleib beinahe zerriss bei den Wehen, die nun kamen, und zugleich hatte sie das Bedürfnis zu pressen – ohne dass sie gewusst hätte, wo sie die Kraft dafür nun noch hätte hernehmen sollen. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu schimpfen und zu fluchen, wie sie es fast die ganze Nacht lang gemacht hatte. Ihr fehlte im Grunde sogar die Kraft zu schreien, und so konnte man es beinahe schon als Wimmern bezeichnen, wenn ein neuer Schmerz über sie rollte.
    Nigrina bekam von ihrer Umgebung kaum noch etwas mit. Sie bemerkte nicht, wie die Hebamme ihre Erste Geburt- und Schmale Hüften-Sprüche irgendwann einstellte. Sie sah nicht, dass der Gesichtsausdruck der Frau ein wenig besorgt wurde und dann, irgendwann, wieder erleichtert, als endlich die Presswehen einsetzten. Und sie merkte nichts davon, dass die Hebamme erneut sorgenvoll dreinschaute, bevor sie sich zu etwas entschloss.
    Und sie hörte nicht, als die Frau ihr sagte, dass sie zu eng sei, dass sie drohte zu reißen, und dass die Hebamme deshalb würde schneiden müssen. Was, letztlich, wohl auch besser so war, dass Nigrina davon nichts hörte, obwohl die Hebamme auch erklärte, dass die Flavia ohnehin kaum mehr Kraft zu haben schien um noch weitere Presswehen durchzustehen, und dass sie zudem leichter und schneller verheilen würde, wenn es ein sauberer Schnitt war und kein Riss.


    Den neuen Schmerz, der nun kam, nahm Nigrina gar nicht wirklich war, weil er schlicht unterging in den anderen Schmerzen, den Presswehen, der Erschöpfung. Sie merkte nur, dass es irgendwann vorbei war. Endlich. So tiefgreifend müde wie noch nie zuvor in ihrem Leben sackte sie einfach nur zurück. Und dann zwang sie sich doch wieder dazu, die Augen aufzumachen, um nach dem Kind zu sehen. Sie wollte wissen, ob sich die ganze Quälerei wenigstens gelohnt hatte. Und noch bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie das Schreien, oder vielmehr ein fiepsiges Quäken zuerst, ehe es an Kraft gewann, als die kleinen Lungen sich mit Luft füllten. Ein Junge, hörte sie die Hebamme sagen, als diese ihr das Kind nun an die Brust legte, damit es die erste Milch von ihr bekam. Wäre Nigrina nicht so fertig gewesen, hätte sie nun wenigstens eine Hand zur Faust geballt und in einer Siegesgeste nach oben gereckt, so allerdings war es nur ein schwaches, nichtsdestotrotz aber triumphierendes Lächeln, das kurz über ihr Gesicht huschte. Ein Junge. War all die Plackerei doch etwas wert gewesen.
    Einen Arm, wie von der Hebamme so zurecht gelegt, so um das Kind gelegt, dass es nicht aus Versehen herunterfallen konnte, blieb Nigrina liegen wie sie war, ließ einfach nur geschehen, als die Hebamme und die Sklavinnen anfingen, sie zu versorgen. Sie kümmerten sich um die Nachgeburt – und hier wurde es noch einmal ein wenig unangenehm, aber nichts im Vergleich zu vorher –, sie versorgten die Wunde, wuschen sie und lagerten sie um, damit sie alles sauber machen konnten. Und dann, schließlich, als alles so präsentabel wie unter den Umständen möglich war, wurde der Parther losgeschickt, um dem Vater Bescheid zu geben.

  • Sextus hatte gewusst, dass so eine Geburt laut war und lange dauerte. Aber hätte sich sein holdes Weib nicht entschließen können, den Vorgang des Gebärens auf die Tagesstunden zu verschieben, vorzugsweise diejenigen, in denen er nicht im Haus, sondern auswärts war? Die Villa Aurelia war zwar groß, aber dermaßen groß, als dass man von dem Stöhnen, Keuchen und Schreien von Nigrina nichts mitbekam, dann doch nicht. Schon gar nicht während der Nachtstunden, in denen die ganze Nachbarschaft ruhig war – denn man wohnte glücklicherweise so, dass nicht zig Fuhrwerke des Nachts vorbeirumpelten aufgrund des Tagfahrverbotes.
    Kurzum, Sextus hätte es bevorzugt, in dieser Nacht ruhig schlafen zu können, um am nächsten Tag seinen Wahlkampf noch ein wenig voran zu treiben. Doch konnte er wohl kaum zu der Kreißenden gehen und dort alle Beteiligten bitten, etwas ruhiger zu sein. Und irgendwo ganz weit hinten in seinem Bewusstsein, wo bei anderen Menschen ein Gewissen saß, machte er sich ein klein wenig Sorgen um Nigrina. Aus rein praktischen Gründen, natürlich, wenn sie kurz vor der Wahl starb, würde die Senatorenschaft das noch als schlechtes Zeichen deuten und ihn ablehnen, weil die Aurelier offensichtlich verflucht waren oder etwas vergleichbares. Ganz abgesehen von der mühseligen Suche nach einer adäquaten Nachfolgerin. Sextus hatte nicht vor, unverheiratet in den Senatorenstand zu treten.
    So aber hatte er sich dann nur irgendwann in Wachs getränkte Wolle bringen lassen und sich etwas davon in die Ohren gestopft, um endlich schlafen zu können. Am nächsten Morgen war er zwar dennoch deutlich durchnächtigt, aber bei weitem nicht so schlimm, wie es hätte sein müssen. Und ein Wunder war geschehen, es schien auch überstanden zu sein. Zumindest hörte er momentan kein kreischendes Schreien mehr, sondern nur Ruhe. Beinahe gespenstische Ruhe. Er ließ sich von einem Sklaven beim Ankleiden helfen und versuchte beim Gang zum Frühstück in den Gesichtern der Sklaven, die ihm entgegenkamen, zu lesen. Doch nichts, sie wichen seinem Blick zwar wie üblich aus, aber nicht auf die beschämend-wissende Art, die ihn wirklich besorgt hätte werden lassen.
    Irgendwann – er hatte ein wenig Brot gegessen – kam der große Bursche, den seine Frau zum Gladiator ausbilden ließ. Er könne nun das Cubiculum seiner Frau betreten, wenn er es wünsche. Höflich. Freundlich. Sextus blickte ihn statt einer Antwort nur einmal taxierend an und ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihm vorbei. Er mochte den Burschen nicht besonders, fand aber keinen Grund, das Spielzeug seiner Frau kaputt zu machen.


    Die Tür zu Nigrinas Räumlichkeiten schien ihm seltsam ins Bewusstsein zu springen. Er hatte sich nie die Zeit genommen, das Ding zu betrachten, bemerkte aber jetzt, wo er sie öffnen wollte, die feine Maserung, die dunklen Flecken, wo Astlöcher waren, wie glatt sie abgeschliffen worden war. Seltsam, dass sein verstand sich auf solch eine Nichtigkeit für einen Moment lenkte, anstatt dass er einfach hindurch ging. Er schüttelte den lästigen gedanken beiseite und trat durch die Tür.


    Drinnen stank es. Das war das erste, was ihm auffiel. Man hatte zwar gelüftet und diese lächerlichen, kleinen Schüsseln mit Blütenblättern aufgestellt, aber man musste schon die Nase eines Gerbers haben, um den penetrant süßlichen Geruch von Blut nicht zu bemerken, der trotz allem in der Luft hing. Blut und etwas, das Sextus nicht kannte. Was er auch gar nicht kennen wollte, geschweige denn identifizieren.
    Das zweite, was ihm auffiel, war seine Frau. Sie sah aus wie ein Gespenst. Seine Amme hatte ihm als Kind Geschichten erzählt, um ihn zu erschrecken, wenn er nicht artig war. Von Manen und Lemuren, die die Lebenden heimsuchten oder warnten. Die waren auch allesamt blutleere Gestalten mit glasigem Blick, so wie seine Frau jetzt. Sie sah irgendwie fiebrig aus. Und ihr Bauch war zwar nicht mehr so prall und rund, sah dafür irgendwie verbeult aus. Mussten Frauen nach einer Geburt so unvorteilhaft aussehen?
    Die Hebamme sah wohl seinen leicht skeptischen Blick, und klärte ihn über ein paar Dinge auf. Er hatte sie nicht gefragt, und eigentlich interessierte es ihn auch nicht weiter, aber das Weib redete, und er war einen Moment zu langsam, als dass er sie stoppen konnte. Nigrina habe viel Blut verloren. Schwierige Geburt. Schmale Hüften. Anstrengend. Blablabla. Das Kind ein Junge. “Das einzige, Weib, das mich interessiert, ist, ob meine Frau überlebt.“
    Sextus fixierte die Hebamme, starrte sie regelrecht nieder. Er erhielt als Antwort nur ein recht unbefriedigendes Schulternzucken und einen blick, der nach ihm eine ganze Zeit lang stand hielt, ehe er beiseite ging. Sextus schnaubte.
    Sie hatte ihm das Kind gleich aufschwatzen wollen, aber er schickte sie einfach mit einer Handbewegung weg. Er trat neben die Wiege, in der sein Sohn lag. Eine dünne, aber weiche Decke war über ihn gelegt, und er schlief. Sextus zog die Decke soweit beiseite, dass er Sicherheit über das Geschlecht haben konnte, und winkte dann eine Sklavin herbei, dass diese das Kind wieder richtig einpackte. Es hieß immer, kleine Kinder hätten Ähnlichkeit mit ihrem Vater, um diesem zu zeigen, dass sie sein Fleisch und Blut waren. Wenn dem so war, hatte seine Frau zur Zeit der Zeugung dieses Kindes eine heftige Affäre mit einer Backpflaume gehabt. Er nahm das Kind nicht jetzt auf. Natürlich erkannte er es an, natürlich hatte seine Frau nicht wirklich eine Affäre mit einem Stück Trockenobst oder sonstwem gehabt. Er würde das Kind aufnehmen an dem Tag, wenn es seinen Namen bekommen würde, ganz offiziell und vor dem gesamten Haus. Aber erst einmal sollte dieses kleine Leben beweisen, dass es diese Mühe wert war, indem es diese Tage überlebte.


    Sextus hingegen trat ans Bett seiner Frau, setzte sich schweigend an den Rand. Er beobachtete sie, wie sie ihn beobachtete aus müden, glasigen Augen. Vorsichtig ergriff er ihre Hand und erwartete schon, hindurch zu fassen. Aber sie war da, und er patschte zweimal sanft mit seiner Hand darauf, ehe er sie wieder weg nahm. “Ein hübscher Junge“, log er glattzüngig, um seiner Frau anzuzeigen, dass er mit dem Ergebnis zufrieden war.

  • Noch während die Hebamme und die Sklavinnen um sie herum wuselten – noch während der Junge an ihrer Brust lag und trank –, wurde die Erschöpfung schier überwältigend. Aber dennoch wollte Schlaf nicht kommen, konnte ihr Körper sich nicht ausruhen. Nach wie vor wühlten Schmerzen durch ihren Unterleib, der sich einfach nur... roh und wund anfühlte. Ein dumpfes Pochen schien beständig zu klopfen, und dann war da noch dieses scharfe Aufflammen, wann immer sie sich, und sei es noch so vorsichtig, bewegte. Beides war ausreichend, um sie für den Moment im Hier und Jetzt zu halten, aber darum war sie sogar beinahe dankbar, denn: sie wollte wach sein, wenn Sextus kam. Und sie ging davon aus, dass er bald genug kommen würde, dass es sich gar nicht lohnte, jetzt einzuschlafen.
    Während sie in sich hinein lauschte und darauf wartete, dass diese unterschiedliche Arten von Schmerzen abebbten, hatte der Kleine irgendwann genug, ohne dass Nigrina hätte sagen können, wie lang er nun gebraucht hatte. Es war im Grunde auch egal, von jetzt an würde sich ohnehin die Amme um ihn kümmern, und Nigrina ihn – hoffentlich! – nur zu Gesicht bekommen, wenn er gerade satt und versorgt und zufrieden war.
    Eine Sklavin nahm das Kind fort und legte es in die Wiege, die im Moment noch hier in ihren Räumen stand. Und dann war wieder die Hebamme da und hielt ihr etwas an die Lippen, irgendwas, was sie trinken sollte, was den Schmerz linderte, gegen den Blutverlust half, die Heilung unterstützte, und waswusstendiegötter noch alles, Nigrina hörte der Frau ohnehin nicht wirklich zu, und noch weniger machte sie sich die Mühe, dem zu folgen, was sie denn hörte. Die Frau erledigte hier ihre Arbeit, das war das, was von ihr erwartet wurde – und Nigrina war sich so oder so sicher, dass sie das gut machte. Andernfalls hätte sie sie nicht ausgesucht. Von daher war es auch nicht so wichtig, fand sie, dass sie jetzt mitbekam, was sie erzählte. Und sie erzählte weiter. Irgendetwas von Blutverlust, irgendetwas von Schneiden, aber auch das begriff Nigrina nicht ganz. Sie wollte nur, dass das Zeug, das die Hebamme ihr gegeben hatte, schnell wirkte, schnell, schneller.


    Als die Tür dann schließlich aufging und Sextus hereinkam, war Nigrina immer noch wach. Was auch immer die Hebamme ihr eingeflößt hatte, es wirkte – langsam, aber es wirkte. Es vernebelte ihr aber auch irgendwie den Verstand. Oder vielleicht lag das auch nur daran, dass sie die Schmerzen nicht mehr ganz so stark spürte, die bisher stärker gewesen waren als die Erschöpfung. So oder so konnte sie sich nicht so recht zu einer Reaktion aufraffen, als er eintrat. Sie nickte ihm zu, aber so schwach, dass sie sich nicht sicher war, ob er das überhaupt bemerkt hatte – sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sich das nicht nur eingebildet hatte. Sie sah dabei zu, wie die Hebamme mit ihm sprach, und diesmal strengte sie sich dann doch an, aufzupassen. Sie hörte, wie die Frau ihm in etwa das Gleiche erzählte wie ihr. In etwa. Hatte die Frau das vorhin schon gesagt, dass sie viel Blut verloren hatte?
    Nigrina grübelte noch darüber nach, als Sextus' Stimme sie plötzlich wieder in die Gegenwart riss, genauer gesagt seine Frage. Genauer gesagt eine bestimmte Formulierung. Ob meine Frau überlebt. Überlebt, echote es in ihren Gedanken, und wäre sie nicht so verflixt fertig gewesen, sie wäre wütend aufgebraust und hätte mit irgendwelchen Sachen um sich geschmissen. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die bei einfach so bei einer Geburt starben. Tat sie nicht. Würde sie nicht. Sie weigerte sich einzugestehen, wie nah Pluto gewesen sein mochte in dieser Nacht, weigerte sich einzugestehen, dass es immer noch nicht ausgeschlossen war, dass er sie noch holte, weigerte sogar sich einzugestehen, dass er ihr überhaupt näher gewesen war, immer noch war, als normalerweise. Der Wunsch etwas kaputt zu machen war fort, stattdessen hätte sie nun am liebsten geheult – vor Wut, selbstverständlich –, weil Sextus diesen Gedanken in Betracht zog, weil die Hebamme so gar nichts darauf sagte, vor allem aber weil sie zu schwach war, zu fertig, um entsprechend zu kontern. Sie hasste es, so schwach zu sein. Und noch mehr hasste sie, dass Sextus sie so sah, ausgerechnet Sextus, der nie irgendeine Schwäche zeigte, der sich immer beherrschte, nie eine Angriffsfläche bot, immer stark war und kühl und kontrolliert – und charmant, wenn er denn wollte. Um keinen Preis wollte sie, dass ausgerechnet er sie so sah. So klein. So erbärmlich. So... so elend, dass er offenbar auf den Gedanken kam, ihr Überleben stünde zur Debatte.
    Allerdings war das nun etwas, was sie nicht verhindern konnte, und das wusste sie auch. Und so sehr sie es hasste, sie fand nicht die Energie in sich, nun wirklich wütend zu werden, oder sich auch nur annähernd adäquat darüber aufzuregen. Sie konnte einfach nicht, und irgendwo machte es das noch schlimmer, weil ihr das erst recht vor Augen führte, wie schwach sie wirklich war. Egal was war, sonst hatte sie immer als letzte Fluchtmöglichkeit ihr Temperament. Ein Wutausbruch, um alles rauszulassen, was sie störte – und um ihn als Schutzschild zu benutzen, wenn möglich. Dass sie das jetzt nicht konnte, ließ sie sich noch hilfloser fühlen als ohnehin schon.


    Sie war dankbar dafür, dass ihr Mann sich zuerst das Kind besah, bevor er sich ihr zuwandte, gab ihr das doch ein bisschen Zeit, um sich zu fangen, und als er sich dann schließlich zu ihr setzte, hatte sie sich wieder genug um Griff, um wenigstens nicht zu heulen. Sie wollte immer noch nicht, dass er sie so erlebte, aber vor ihm in Tränen auszubrechen, hätte dem Ganzen die Krone aufgesetzt.
    Einen Augenblick lang sahen sie sich nur wortlos an, er sie, sie ihn, bis Sextus das Schweigen brach. Und jetzt, plötzlich, war ihr nach lächeln zumute – auch wenn das genauso schwach ausfiel wie alles andere. Hübscher Junge, soso. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Das letzte Mal, als sie den Kleinen gesehen hatte, hatte er von der Geburt total zerknautscht ausgesehen, und sie glaubte nicht, dass sich das schon geändert hatte. Dass Sextus das trotzdem vor ihr behauptete, hieß, dass er zufrieden war, und das wiederum freute sie. „Danke“, antwortete sie – und log damit ebenso wie er, aber warum sollte sie das Offensichtliche erwähnen, wenn er so freundlich war darauf zu verzichten. „Ich sterb nicht“, murmelte sie dann plötzlich, weil ihr das irgendwie immer noch nachging, und in ihrer Stimme war eine Spur ihres üblichen Trotzes zu hören, den Sextus nur zu gut kennen dürfte. „Nicht wegen so was.“

  • Die ganze Situation fühlte sich falsch an. Sextus kam sich vor wie jemand, der versuchte, mit zwei Stöcken und einem Stein ein Haus zu errichten. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, was charmant gewesen wäre und was wohl konventionell opportun. Aber gleichzeitig fühlte er in sich einen vollkommenen Widerwillen, so zu tun, als wäre er endlos gerührt von der Tatsache, dass da nun ein Kind war, das höchstwahrscheinlich von ihm stammte, und seiner Frau solchen Nonsens zu erzählen, dass alles gut werden würde und er sie liebe. Abgesehen davon, dass seine Frau gerade geschwächt war, aber nicht dämlich.
    Und sie schien zu merken, dass Sextus sich nur um die Konvention bemühte und nahm ihm die Entscheidung über das geeignete Mittel dankenswerterweise ab. Wobei Sextus gleichzeitig durch ihre wenigen Worte vor Augen geführt wurde, wie affig er sich verhalten hatte. Viel zu offensichtlich, wenn eine Frau, die kaum die Augen aufhalten konnte, das so dermaßen durchschauen konnte. Die Anstrengungen des Wahlkampfes hatten ihn wohl in Bezug auf familiäre Einigkeit weich werden lassen. Das, plus die ganzen Schwierigkeiten, die durch Narcissas Tod erzeugt worden waren. Und die schlimmste Befürchtung, dass diese Verweichlichung erblich sein konnte, stand auch noch aus.
    Er hatte vor einiger Zeit von Ursus aus Mantua einen Brief erhalten, bei dem Sextus ehrlich nicht gewusst hatte, ob lachen oder heulen die adäquatere Reaktion dargestellt hätte. Ursus schrieb, er müsse sich zusammenreißen, um seine Trauer über Narcissas Tod nicht nach außen dringen zu lassen. Dass es ihm schwer falle und er nicht darüber nachdenken dürfe, weil die Trauer ihn sonst übermanne. Dass er sagte, dass er über Narcissas Tod bestürzt war, war ja durchaus politisch korrekt, aber wie er sich ausdrückte, ließ Sextus doch stark an der generellen Charakterfestigkeit seiner Anverwandten zweifeln. Es war ärgerlich, dass Narcissa tot war, besonders hinsichtlich des Verlöbnisses von Flora, und des verlorenen Prestigezuwachses durch ihre Auswahl zur Vestalin. Aber 'von Trauer übermannt' und dadurch des Kommandierens kaum fähig? Sextus hoffte redlich, dass dieser Wesenszug nicht Anzeichen beginnenden Schwachsinns war, der schlimmstenfalls in der Familie lag. Den Flaviern sagte man schon die eine oder andere Geisteskrankheit nach (allen voran Größenwahn), er mochte nicht daran denken, dass seine Kinder von zwei Seiten aus vorbelastet sein könnten und er sich am Ende mit lauter Schwachsinnigen rumschlagen musste.


    Doch Nigrinas kurze Worte nahmen es ihm ab, weiter darüber nachzugrübeln, und führten ihm die Irrationalität seines Handelns vor Augen. Und zum ersten Mal fühlte Sextus sowas wie ehrliche Zuneigung zu seiner Frau, die auf diesen Mummenschanz ebenfalls keinen Wert legte. Das machte die Sache weitaus einfacher, und nahm diesen extrinsischen Druck von ihnen.
    “Das ist gut zu wissen. Ich fürchte nämlich, dein Vater würde mich noch weit mehr über den Tisch ziehen als jetzt schon, wenn ich ihn um deine Schwester ersuchen müsste.“ Sextus wusste, dass es Nigrina ärgern würde. Aber wenn sie sich ärgerte, nahm sie sich danach meist mehr zusammen. Und er hatte ja auch recht, Flavius Aetius würde ihn weit mehr über den Tisch ziehen und die Dos entsprechend klein ausfallen lassen, gar Nigrinas Dos als Donatio zurückverlangen oder dergleichen, sollte die Notwendigkeit Sextus dazu zwingen, sich eine neue Frau zu suchen. Wobei bei Nigrinas Ableben und dank der gesicherten Verbindung zu den Flaviern durch das Kind – sofern es überlebte – und Priscas Vermählung mit Nigrinas Bruder – die allerdings noch kinderlos war – sich auch die Möglichkeit eröffnen mochte, dass er sich anderweitig umschaute. Vielleicht eine Claudia, wobei diese soweit er das im Blick hatte keine geeignete Partie derzeit in Rom hatten. Oder aber eine der anderen patrizischen Gentes, wie die Fosilier oder die Aemilier. Letztere wären aufgrund der Consulare in ihren Reihen besonders interessant.
    “Ich werde dich nun schlafen lassen und morgen wieder vorbeischauen“, meinte Sextus dann noch etwas versöhnlicher. Zwar sah er auch keinen Nutzen darin, DAS zu tun, aber auch das war wohl eine gesellschaftliche Konvention und würde seine Frau dazu bringen, sich nun auszuruhen. Sein Erscheinen oder Nichterscheinen hätte zwar vermutlich geringen bis keinen Einfluss auf ihren Gesundheitszustand, aber vermutlich würde es schon genügen, wenn er ihr ein wenig Klatsch vom Wahlhergang erzählte oder sie anderweitig mit Informationen versorgte, an die sie momentan nicht herankam, um ihre Laune etwas zu heben.

  • Um ihre Mundwinkel zuckte es kurz, als Sextus zu antworten begann – und dann, als er weitersprach, verdüsterte sich ihre Miene. „Untersteh dich!“ Es wäre ein Fauchen gewesen, wäre sie nicht so schwach gewesen, aber so blieb es bei einem Murmeln, dem sowohl die Kraft als auch die Schärfe fehlte. „Mir ist egal was du tust, wenn ich mal tot bin“ – obwohl sie nicht ausschloss, dass sie dann als Totengeist wiederkam, um ihn zu verfolgen... Nein, ihr war tatsächlich egal, wen er im Fall des Falles heiraten würde. Ihr war ja auch egal, wen er jetzt, während ihrer Ehe, sonst noch bestieg, so lange er seinen ehelichen Pflichten nachkam. Sie hatte nichts dagegen, dass er sich mit Sklavinnen vergnügte. Oder mit Lupae, oder Peregrinae. Im Grunde musste man ja Mitleid haben mit dem männlichen Geschlecht, dass der Trieb bei ihnen offenbar so dermaßen groß war, dass sie ihn regelmäßig auch an derlei Weibern ausleben mussten. Wer wusste schon, wer zuvor die Lupa gehabt hatte, oder wie viele... Nigrina zumindest wollte sich nicht wirklich die Finger schmutzig machen. Für sie war es eine Sache, sich von Sklavinnen verwöhnen zu lassen, die die eigenen waren und bei denen man wusste, wer sie in der Hand gehabt hatte, oder auch die ein oder andere Freundin oder Freundin einer Freundin zu verführen, die zum einen wenigstens annähernd an ihren Status heranreichten und daher einfach etwas Besseres waren, und was zum anderen auch noch nie dazu geführt hatte, dass sie mehr rührte als vielleicht mal einen Finger... Ganz davon abgesehen, dass sie das hier in Rom ohnehin eingestellt hatte. Etwas ganz anderes war es aber, fand sie, sich mit einer Fremden einzulassen, von der man nicht wusste, wer da vorher schon gewesen war, und die darüber hinaus schlicht und ergreifend in einer Klasse rangierte, der man besser gar nicht erst begegnete, geschweige denn Körperkontakt zuzulassen.
    Aber: das war Sextus' Sache, wenn er sich mit solchen Frauen einlassen wollte. Sie störte das nicht, ja, nicht einmal Plebejerinnen machten ihr wirklich etwas aus, sofern sie nicht aus einer wirklich angesehenen Familie stammten. Und genau das war der Knackpunkt: der Status. Was in ihren Augen gar nicht anging, war eine Gespielin im Bett ihres Mannes, die eine Konkurrenz für sie sein könnte. Und zumindest so weit sie das wusste, hatte Sextus bislang die Finger von solchen Frauen gelassen.
    „Aber solang ich am Leben bin, denkst du nicht mal dran wer meine Nachfolgerin werden könnt. Und schon gar nicht meine Schwester!“ fuhr sie fort. Immerhin, sie klang angemessen beleidigt, den Umständen entsprechend, fand sie. Und sie versuchte auch, ihn ein wenig anzufunkeln. Aber es war nicht nur ihre augenblickliche Schwäche, die verhinderte, dass sie wirklich effektiv eine Schnute ziehen konnte. Trotzdem sie durchaus beleidigt war darüber, dass ihr Mann über potentielle Nachfolgerinnen von ihr nachdachte, konnte sie nicht die Erleichterung verleugnen, die auch da war. Erleichterung darüber, dass er nicht weiter darauf herum ritt, sie könnte sterben. Dass er kein Wort darüber verlor, wie schlecht sie aussah. Dass er nicht mit Mitleid ankam, gleich ob nun echt oder geheuchelt. Sie wusste nicht, ob ihm überhaupt klar war, was er damit tat – aber Fakt war: indem er ihre Schwäche nun einfach überging, ließ er sie ihr Gesicht wahren, so gut es ging. Und DAS war etwas, was sie ihm hoch anrechnete.


    Sie atmete tief ein, und ihre Lider schlossen sich für einen Augenblick. Der Kräutersud, den die Hebamme ihr eingeflößt hatte, begann endlich wirklich zu wirken, und je mehr die Schmerzen gedämpft wurden, je mehr ihr Kopf sich benebelte von der starken Wirkung der Kräuter, desto mehr schlug die Erschöpfung zu. Im nächsten Moment flatterten sie schon wieder, als Nigrina sich bemühte, die Augen wieder aufzumachen, aber Sextus begann dennoch, sich zu verabschieden, und sie konnte nicht behaupten, dass sie dafür nicht auch dankbar gewesen wäre. Ihr Kopf schien in irgendeinem diffusen Zeug zu schwimmen, und sie hatte inzwischen deutlich Mühe, ihre Gedanken noch einigermaßen beisammen zu halten. „Mhm“, machte sie mit einem Seufzen, und obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, zu warten, bis ihr Mann wenigstens ihr Zimmer verlassen hatte, war sie eingeschlafen, noch bevor er die Tür erreichte.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!