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Pass auf sie auf, hatte Elena gesagt. Bitte, pass auf sie auf.
Álvaro konnte sich noch gut an dieses Gespräch erinnern, das letzte, das er mit seiner Schwester geführt hatte vor seiner Abreise. Sie hatte ihm, anders als in den Wochen davor, nicht mehr viel erzählt. Das hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits zur Genüge getan gehabt, sehr intensiv und mehr als einmal, seit feststand, dass er nach Rom geschickt werden würde, um Decima Seiana als Leibwächter zu schützen. Davon, wie die Herrin war, davon, wie sie sich verändert hatte im Vergleich zu früher, als sie alle noch Kinder gewesen.
Elena und er waren als Sklaven geboren worden, Kinder einer Sklavin, die den Decimi treu ergeben war, nie mit ihrem Schicksal gehadert hatte… und die das zumindest an Elena auch weiter gegeben hatte. Er dagegen hatte durchaus Phasen gehabt in seinem Leben, in denen er aufmüpfig gewesen war, in denen er das Gefühl hatte spüren wollen, frei zu sein, eigene Entscheidungen zu treffen. Aber Elena, nur wenige Zeit nach Seiana geboren, war im Grunde von Anfang an als ihre Leibsklavin bestimmt gewesen – und war entsprechend mit ihr aufgewachsen, war weit mehr Spielkameradin, in vielem fast Schwester gewesen denn Sklavin. Da war es leichter, nicht mit dem Schicksal zu hadern. Er hingegen war recht früh herangezogen worden zu den typischen Sklavenarbeiten… bei drei Brüdern war ein weiterer Spielkamerad nicht notwendig. Natürlich hatte er sich da gewünscht, all dem entfliehen zu können. Aber diese gewissen Phasen hatte er hinter sich gelassen. Er war so zufrieden, wie man es mit einem Leben als Sklave sein konnte… zumal er wusste, dass es weit schlimmere Schicksale gab – sowohl als Sklave wie auch als Freier. Er hatte ein Dach über dem Kopf, Essen, Kleidung, er bekam Freizeit und die ein oder andere Belohnung – und obwohl er nicht wie Elena mit Seiana und ihren Brüdern direkt aufgewachsen war, hatte er doch Bildung bekommen, als die Herrschaften gemerkt hatten, dass er Potential hatte. Nein, da gab es viele Sklaven und noch mehr Freie, denen es weit schlechter ging als ihm.
Nur: jetzt sollte er nach Rom gehen. Und was ihn dort erwartete, wusste er nicht abzuschätzen. Seiana hatte sich verändert, den Worten seiner Schwester nach, war distanzierter geworden, kühler, zurückgezogener. Den Beschreibungen nach hätte Álvaro ja geglaubt, dass die Decima gerade jetzt niemanden mehr brauchte, der für sie da war, aber Elena hatte darauf bestanden, dass sie gerade jetzt jemanden brauchte. Und dieser jemand konnte nicht Elena sein, aus verschiedenen Gründen nicht – der offensichtlichste der, dass Seiana ihre ehemalige Leibsklavin nicht mehr um sich haben wollte. Álvaro hatte seine Schwester gefragt, ob sie nicht getroffen dadurch war, verletzt, beleidigt. Die beiden waren immerhin Freundinnen. Aber so absurd es ihm schien, Elena schien die Decima zu verstehen. Trug ihr in jedem Fall nichts nach. Aber Elena war ein von Grund auf fröhlicher, herzensguter Mensch. Álvaro hatte den Verdacht, dass sie nahezu alles verstehen und verzeihen würde. In jedem Fall wollte sie, dass er auf Seiana aufpasste, mehr noch: für sie da war, auch wenn sie das selbst nicht wollte, das hatte sie besonders betont. Und nachdem Seiana seiner Schwester und ihrem Geliebten, der inzwischen ihr Mann war, die Freiheit geschenkt hatte, war er mehr als bereit, ihrem Wunsch zu entsprechen – nicht nur weil er sich nach Jahren des pubertären Aufstands irgendwann doch zu einem guten Sklaven gemausert hatte, sondern vor allem aus persönlichen Gründen. Seine Schwester war glücklich… was Álvaro sehr viel bedeutete. Und daran hatte die Decima einen großen Anteil.
Nach ihrem ersten Gespräch, in dem Elena in diese Richtung vorgefühlt und festgestellt hatte, dass er nicht abgeneigt war, hatte er noch gedacht, das alles sei rein hypothetisch. Elena war freigelassen worden, aber er war immer noch Sklave. Er konnte nicht selbst entscheiden, wo er hinging. Aber irgendwie hatte seine Schwester es geschafft, die decimische Familie in Hispania davon zu überzeugen, dass es eine hervorragende Idee sei, ihn Seiana zum Geschenk zu machen, zur Hochzeit.
Oh, und diesen Britannier, ehemaliger Gladiator des tarraconensischen Ludus, den die Decimer dort frisch gekauft hatten, weil sie der Meinung waren, Leibwächter machten erst im Doppelpack so wirklich Sinn. Und mit dem war er nun unterwegs, von dem er noch keine Ahnung hatte, weswegen der Sklave oder gar Gladiator geworden war, oder wie er nach Hispania gekommen war, von dem er aber vermutete, dass es ganz sicher nicht mit einem: Ich ging im Walde so vor mich hin, und hatte absolut nichts Böses im Sinn… und dann haben mich böse Sklavenhäscher gefangen getan war.
Unterwegs also zu einer Decima, die er zwar von klein auf kannte, die sich aber offenbar doch ziemlich verändert hatte, und das nicht unbedingt zum Positiven. Mit einem ungehobelten, mürrischen, arroganten Britannier.
Álvaro hatte den Verdacht, dass eine… nun… interessante Zeit vor ihm lag.
CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA