Nur mit Hose und einem leichten Überkleid aus heller Seide saß Neriman auf den Ruinen eines verlassenen Hauses am Rande des Viertels, die Beine angezogen, mit den Händen umschlungen, das Kinn auf die Knie gelegt. Ein sanfter Luftzug spielte mit ihren langen, dunklen Haaren, die auf den Schultern von ihrem heruntergezogenen Tuch gehalten wurden. Ihr Blick ging zu den Sternen. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel und spendete kaum Licht, trotzdem war es nicht wirklich finster. Im Vergleich dazu war die Dunkelheit der Wüste undurchdringlicher, der Sternenhimmel klarer, die Nacht schwärzer. Vielleicht war es aber auch nur die Erinnerung, die alles zu einer vollkommenen Einheit verband.
Für Neriman stand fest, sie wollte hier weg, zurück zu ihrer Familie, ihrer vertrauten Umgebung, ihrem alten Leben. Solange sie auch hier war, diese Stadt würde niemals ihre Heimat werden. Die restliche Gruppe sah das anders. Ihnen ging es hier besser, die meisten fanden Arbeit, Freunde. Sogar ihre Cousine knüpfte zarte Bande zu einem ausländischen Händler. Kaum vorstellbar, dass jemand sich ihr widersetzen konnte, ohne von ihr davongejagt zu werden. Neriman schmunzelte bei dem Gedanken, hing aber bald wieder ihren eigenen Gedanken nach. Für sie gab es hier nichts mehr. Alle Hoffnungen zerschlagen, davongesegelt, in Luft aufgelöst. Der neue Glaube war nichts für sie. Wie konnte auch ein Gott, der selbst seinen eigenen Sohn unsäglich leiden ließ, die Güte besitzen, ihnen zu helfen. Gut, vielleicht half er durch die Hand des Mannes, der ihr die kleinen Steinchen in liebevoller Kleinarbeit fertigte, oder Thabit die Krücken, auf denen er selbständig in ein neues Leben gehen konnte. Mehr Hilfe bekamen sie nicht. Wie sollte ein Gott alleine das auch alles schaffen.
Ein Geräusch. Neriman zuckte erschrocken zusammen, rutschte von der Mauer und duckte sich hinter den Steinen. In Gedanken versunken, war sie unaufmerksam geworden. Die Gefahren, die hier lauerten, waren um einiges vielfacher als in der Wüste. Dort waren es nur die Stämme der Blemmyer, vor denen sie sich in acht nehmen mußte, oder wilde Tiere. Das kannte sie. Hier konnte ihr jeder gefährlich werden, und das zu jeder Zeit. Angestrengt horchte sie in die Dunkelheit. Ihr Herz raste, das Blut pochte in den Ohren. Schritte, die näher kamen. Ihre zitternden Finger tasteten zu dem Dolch in ihrem Stiefel. Neriman hielt den Atem an...
Stimmengemurmel - nur ein Liebespaar. Erleichtert richtete sie sich wieder auf, als die beiden um die nächste Ecke verschwanden. Nur langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie sollte vorsichtiger sein, und vor allem sollte sie allmählich zurück, bevor ihr Fehlen bemerkt wurde. Außerdem musste sie zusehen, ihre Reisekasse an einen sicheren Ort zu bekommen. Unter ihrem Kleid verborgen trug sie nämlich den Beutel mit dem Gegenwert ihres Schmuckes, den sie wenige Stunden zuvor versetzt hatte. Nur zwei Dinge wurden verschont: ihr Amulett und der Ring von Massa, den sie um den Hals trug. SEIN Ring - vielleicht der größte Schatz, den sie jemals besitzen würde. Ein Schatz, mit einer immer noch schmerzenden Erinnerung.
Es half nichts, sie konnte die Vergangenheit nicht zurückholen, nur nach vorne sehen. Und vorne, da war ihre Familie. Djadi wußte von ihren Plänen und wollte sie nicht alleine reisen lassen. Vor ein paar Tagen fand er tatsächlich eine Gruppe Händler, der sie sich anschließen konnte. Sie würde zwar nicht so schnell vorwärts kommen, aber um einiges sicherer. Djadi, der sie mittlerweile kannte - und sicher auch von ihren nächtlichen Ausflügen wußte - nahm ihr außerdem das Versprechen ab, die Gruppe nicht zu verlassen, bevor sie in ihrem Dorf ankamen. Nur widerwillig hatte sie zugestimmt. Ohne das wäre sie tatsächlich im ersten Ort, den sie erreichen würden, auf eigene Faust weitergezogen. Und um ihm zu zeigen, dass er sich auf sie verlassen konnte, mußte sie schleunigst ins Haus des Paulus zurück. Noch ein letzter Blick auf den Sternenhimmel, dann wandt sie sich zum Gehen.