Factum infectum fieri non potest

  • http://farm4.staticflickr.com/3033/2880644116_5a0df2852b.jpg

    Der Nebel, der durch die Wälder zog die sie ihr momentanes Zuhause nannten, verhieß nichts gutes. Wieder einmal. Alrik wagte es gar nicht seine kindlichen Augen von dem Schauspiel abzuwenden, dass sich unterhalb ihrer Position in den Hügeln abspielte.. ein Schauspiel bar jeder spätzeitlicher Romantik oder verklärender Gefühlsduselei: Nebel bedeutete Tod.
    Er nahm ihnen die Möglichkeit zum Jagen, denn wie wollte man sich möglichst leise an das wenige Wild heranpirschen, das sich hier noch herumtrieb, wenn man es bis auf armlänge kaum erkennen konnte? Er nahm ihnen auch die eigene Orientierung, denn egal wie und wo man sich befand, Nebel führte einen immer in die Irre und gefährliches Unterholz.. selbst gestandene Fährtenmeister wie Uodwin hockten sich im Nebel meist einfach nur hin und warteten bis er sich wieder verzogen hatte.. wenn sie überhaupt hinausgingen.
    Und nicht zuletzt: wer auch immer im Nebel die Wildpfade heraufkam, er konnte sich sicher sein, dass seine Zahl bis zuletzt unbekannt sein würde.
    Es waren Nebel gewesen, die den Ärger verschluckt und geschützt hatten, der drei ihrer Männer das Leben gekostet hatten. Alrik konnte die Wut über den Verlust der letzten noch immer im Blick seines Vaters erkennen, hatte sich dieser doch am vehementesten gegen den Ausfall von ihrem kleinen Hügel gewehrt. Gegangen waren sechs Männer, zurückgekommen waren vier.. einerseits ein herber Verlust in einer Zeit, in der speerfähige Arme nach dem Abzug der Römer nötiger waren denn je... andererseits eine Erleichterung, weil so drei hungrige Mäuler weniger zu stopfen waren. Alrik konnte sich nicht an eine Zeit erinnern in der er nicht dauernd Hunger litt, und sein Magen sich in müdem, aber stetem Protest in seiner Leere verkrampfte.. was auch daran liegen konnte, dass er überhaupt nicht genug Sommer angesammelt hatte um sich an allzu viel zu erinnern.
    Was er wusste, war: die Alten erzählten oft davon, dass sie einmal satt gewesen waren, was wohl ein Zustand war in dem man mehr zu Essen als Hunger hatte. Sein Vater auf jeden Fall wich Fragen darüber aus, wie er dem meisten auswich, was Alrik an Fragen über sein altes Leben in den Kopf kamen. Bisher hatte sich Alrik also nicht auch nur annähernd eröffnet, wie sich derartige Sattheit anfühlen würde.. und seine Lust, sich an Baumrinde, Gerbwurzeln und Eicheln satt zu essen hielt sich auch in argen Grenzen.
    Dabei wurden selbst die oft genug rationiert, damit die Mütter Milch genug bekamen um zumindest ein oder zwei der Kinder ihrer kleinen Gruppe durchzubringen. Sie waren dreissig Menschen, und Alrik war mit seinen sieben Lenzen (seine Mutter feierte jeden seiner Sommer, als wären sie kleine Wunder) das jüngste Kind.. in fast jedem Herbst neue geboren wurden. Auch seine Mutter war wieder schwanger, was seinen Vater mit stiller Hoffnung, Alrik mit Unverständnis und sie selbst mit nicht weniger als kaltem Schrecken erfüllt hatte. Man hatte ihm früh klargemacht, dass Kinder ein Geschenk der Götter waren, und der Verlust derselben eine Art Prüfung.. und er wollte partout nicht verstehen, warum jedes seiner Geschwisterchen, die ihm mit einer Mischung aus Teilnahmslosigkeit (Mutter) und unverbrüchlichem Stolz (Vater) angekündigt wurden, sich in eine Prüfung verwandeln musste. Die letzten zwei hatten nicht einmal die Geburt überstanden, und sein Vater hatte so große Sorge gehabt, dass Alriks Mutter es ihnen gleichtun würde, dass er sein Weib monatelang nicht angerührt hatte. Jetzt war wieder ein Geschwisterchen unterwegs, und Alrik hatte nach all den Enttäuschungen die Neuigkeit schon einfach abgenickt, so wie der alte Ratger es stets mit schlechten Nachrichten aus dem Westen tat. Was Alrik bei der ganzen Sache auch nicht verstand war, warum nur die Frauen geprüft wurden. Das ganze Geschrei und Gewimmer sowohl vor, bei und nach der Geburt war ja meilenweit zu hören.. einmal hätte die junge Lidwina sie beinahe alle ins Verderben gestürzt, als sie sich vor einer von Modoroks Schergen versteckt hatten und mittendrin ihre Wehen eingesetzt hatten. Die alte Nordtrug hätte die Frau in ihren Bemühungen, sie still zu halten beinahe erstickt.. und letztlich hatten die Götter sowohl Mutter als auch Kind zu Hel geschickt. Das war nun zwei Sommer her, so Alrik das richtig einschätzen konnte, und seit damals hatte sich wenig an seiner Verwirrung geändert.

    http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png "Vater.." , begann Alrik einen neuen Ansturm auf die Festung des Schweigens, die sein Vater war, und wandte sich schließlich doch von den nebelverhangenen und Waldbedeckten Tälern ab in denen sie sich seit Anbeginn seines Denkens versteckt hielten, "..warum werden nur Frauen von den Göttern geprüft?"
    Leif, Sohn des Landogar, machte sich nicht einmal die Mühe den Blick zu heben, oder gar den Kopf zu wenden... er blieb an den Baum gekauert, unter den Lumpen zusammengesunken die sie alle trugen, und starrte mit einer Mischung aus Resignation und Feindseligkeit ins nebelverhangene Nichts. "Vater?" , hakte Alrik nach, auch wenn er sich kaum eine Hoffnung darauf machte, dass sein Vater ein Gespräch mit ihm beginnen würde, das ihm erklärte wie die Welt funktionierte in der sie hier zu überleben versuchten. Einzig und allein wenn es in dem heimischen Blätterwerk, dass sie ihr Dach nannten, um alte Geschichten aus einem längst vergangenen Leben ging, da wurde sein Vater redselig... erzählte von großen Städten, größeren Legionen und noch größeren Männern die er erlebt hatte.. und versank bei einer naiven Frage Alriks, warum er all das eingetauscht habe gegen ihr Dasein in der grünen Hölle des freien Germaniens, augenblicklich wieder in Stille. Alrik hatte sich angewöhnt solche Fragen zu meiden, damit er seinem Vater überhaupt etwas mehr entlocken konnte als Tagtägliches. "Vater?"
    "Es wurden nicht nur die Frauen geprüft, Junge.", dröhnte schließlich die Stimme des alten Swidger, der vor einem Moment zu ihnen gestoßen war, weil ihn die Gemeinschaft des Lagers trübsinnig stimmte, "Frauen haben nur ihre eigene Art und Weise wie sie Prüfungen ausstehen müssen.. wir Männer leiden und bluten im Kampf, Frauen tun dies im Wochenbett. Die Götter haben es so bestimmt."
    "Warum haben sie das, Swidger?" , hakte Alrik nach, mehr um die Enttäuschung über das beharrliche Schweigen seines Vaters zu überdecken, denn aus wirklichem Interesse. Dass andere ihm Dinge erklärten war er schon gewohnt... er wollte sie aber aus dem Munde seines Vaters hören.
    "Ich bin kein Gode, Junge..", brummte der alte Mann missfällig, fuhr aber mit der Antwort fort, weil sie wohl Tage durch die Gegend würden wandern müssen um einen Goden zu finden, "..du findest es in der Natur. Tod und neues Leben geben sich gegenseitig die Hand, auch gerade in diesem einen Moment. Frauen schenken neues Leben, wir geben den Tod..."
    Ein verächtliches Schnauben von seiten seines Vaters ließ Alrik herumfahren, so erschrocken war er von der Möglichkeit, dass Leif etwas zu der sehr einfachen Kriegerphilosophie desalten Mannes zu sagen hatte, doch er verharrte unter seinen Lumpen unverändert mit dem Blick ins Nichts.
    "Aber wieso sterben dann die Kinder.. und auch die Frauen.., Swidger?" , klammerte Alrik sich an das Gespräch um nicht zurück in die Stille zu rutschen, die sein Vater um sich herum generierte wie ein Fluß den Nebel.
    "Ahh... weil die Götter es so bestimmt haben. Auch sie finden sich so wieder... Frigg als Wodans Ehefrau ist die Göttin der Mutterschaft, aber wir opfern ihr auch bei großen Schmerzen... und sowohl Odin als auch Donar bringen den Tod...", fuhr der alte Mann fort, wobei man ihm ansehen konnte wie unwohl er sich in der Rolle als Ersatz-Gode fühlte.
    "Mutter sagte, Donar wäre gar nicht so todbringend... und Wodan würde sich der Toten annehmen, wenn sie schon tot wären..." , plauderte Alrik von Zuhause, erntete dafür aber nur einen wütenden Blick des alten Mannes: "Ach, was weiß ich denn? Wenn deine Mutter das besser weiß, dann frag sie doch... und nicht mich. Jeder opfert den Göttern wegen einer anderen Sache... manchmal mehreren Göttern wegen derselben Sache, und manchmal einem einzigen Gott wegen gleich mehreren... fest steht, dass die Frauen in ihrem Leid ganz sicher nicht alleine sind..."
    "Aber sie sind die einzigen, die leiden... euch Männer habe ich noch nicht leiden gesehen." , wandte Alrik trotzig ein.
    "HAH!!! Was glaubst du wie Hlutwig und Thiodharti gestorben sind... oder Winimar? Die sind nicht einfach umgefallen und sind friedlich liegen geblieben...", blaffte der alte Mann ihn so barsch an, dass Alrik zwei Schritte zurückwich.
    "Im Kampf... aber trotzdem habe ich euch nicht leiden gesehen..." , beharrte Alrik, bereits mit Tränen des Schrecks in den Augen, auf seinem Standpunkt, dass Frauen die einzigen in ihrer Gruppe waren, die litten.
    "Das wirst du noch früh genug, Junge. Sobald du einen Speer halten kannst, wirst du das...", lachte der alte Mann bitter, und deutete hinunter ins Tal, "...und wenn dieser verdammte Nebel mit seinen Geistern sich nicht bald verzieht, wirst du noch viel früher lernen, dass kein Weib bei der Geburt so jämmerlich schreit wie ein Mann der stirbt."



    Bildquelle
    Reserviert.

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png [wrapIMG=right]http://farm1.staticflickr.com/58/173505492_49196e2c6d.jpg[/wrapIMG]

    Die ihm unbekannte Art des Schreiens blieb Alrik im folgenden vorerst erspart. Die hermundurische Sippe, die keine zwei Tage von ihnen entfernt ebenfalls im von steinernen Leiten, Mooren und Urwäldern geprägten Niemandsland siedelte, hatte anscheinend genug davon ihnen zuzusetzen... oder einfach besseres zu tun als mit einer kleinen Gruppe halbtoter Widersacher Zeit zu verschwenden. Wie lange sie jetzt schon in dem grünen Nichts ausharrten konnte Alrik nicht sagen... länger als er lebte, das war klar. Modorok war geschlagen worden, von Römern und germanischen Stämmen gleichermaßen... aber er war nicht besiegt. Es gab immernoch einige Stammesteile der Hermunduren, Chatten, Mattiaker und anderer kleiner Stämme die Modorok nur allzu willig zuhörten. Auch wenn es längst nicht mehr genug waren um eine ernsthafte Bedrohung für die anderen Stämme und vor allem für die Grenze, hinter denen das Reich der Römer sich befand... es waren genug um einen schwelenden Bürgerkrieg nicht erlöschen zu lassen... und zu wenig um aus dem Bürgerkrieg einen handfesten Stammeskrieg zu machen. Der Großteil der Stämme leckte sich die Wunden, weil es genug Sippen gab die in der Hochzeit des Krieges Söhne verloren hatten, und unwillig waren durch noch so schöne diplomatische Reize weitere Söhne gegen einen Gegner in die Schlacht zu schicken, den sie schon als geschlagen betrachteten.


    Das mündete darin, dass es vor allem kleine Gruppen wie die ihren waren die sich mit anderen Sippen anlegten die einigermaßen treu zu Modorok standen... mit wechselnden Bündnissen und vor allem sehr geringen Verlässlichkeiten. Das letzte gescheiterte Bündnis hatte zur Folge, dass ihre Gruppe Hals über Kopf das Dorf einer größeren Sippe verlassen musste... und sich nun schon seit Monaten auf einem Hügel im absoluten Nichts durch Jagen, Fischen und Sammeln durchschlug. Das funktionierte eher schlecht als recht, aber es funktionierte... und hoffentlich so lange, bis Alriks Vater und seine Leute ein neues, stärkeres Bündnis hervorzogen. Bis dahin war Leif oft tagelang unterwegs, und Alrik hatte sich zusammen mit seiner Mutter schon vor langer Zeit an die Angst gewöhnt, dass er nie wieder zurückkommen würde.
    In dieser Zeit half Alrik dabei alles mögliche Essbare im Wald zusammen zu sammeln, wenn sie Glück hatten gab es Beeren, Pilze und Weidwurzeln, normalerweise vor allem Eicheln, Kastanien, Baumrinde und Hartwurzeln... und wenn sie Pech hatten, vergriff man sich bei der Suche und bescherte der Gruppe eine Lebensmittelvergiftung die es in sich hatte. Niemand wusste mehr, wer den Pilz aufgenommen hatte, der die alte Liuthilta nach Hel schickte und Rigmar hatte ihr Kind verlieren lassen, aber die Blicke, die einige ihrer Leute Alrik in den folgenden Wochen zuwarfen hatte recht deutlich gemacht wen sie dafür verantwortlich machten.


    Seine Mutter hatte das natürlich mitbekommen und entsprechend reagiert in dem sie Alriks kindliche Sorgen mit Geschichten aus der Heimat verstreute. Ihr Bauch wurde runder und runder, und abends wenn sie gemeinsam beim Feuer saßen nahm Alrun ihren Sohn beiseite und erzählte ihm von ihrem Leben jenseits des Limes. Wo sein Vater sich in den Details ihrer glorreichen Familie verlor, von seinem Urgroßvater Wolfrik und den Kriegen mit den Chauken und anderen nordischen Stämmen erzählte, oder von seiner Zeit unter den römischen Großen und bei den Legionen, erzählte seine Mutter vor allem von den Städten der Römer, von den Bauwerken, und vom Reich der Römer generell... vom Kaiser (den sein Vater persönlich gesehen hatte!), den Senatoren (sein Vater wäre fast selber einer geworden!) und Rittern (sein Vater war einer gewesen!).
    Die Abende, in denen sein Vater sich durch die Wälder schlug um bei anderen Stämmen um Verbündete (oder auch nur gewisse Gaben) zu werben, flogen nur so dahin bei den Erzählungen... und irgendwann hatte Alrik genug gehört um zwischendurch Fragen einzuwerfen wie '...und dieser Duumvir Matianus, war das ein Freund oder ein Feind unserer Sippe?' oder '...war das damals auch ein Senator? Hat der sein Idilat schon gemacht?' oder '...zu der Zeit war auch Traianus Germanicus Sedulus Legatus Augusto Pri Protaere, oder?' . Besonders interessant fand Alrik, dass seine Mutter selbst schon einmal einer Stadt vorgestanden hatte... Confluentes, oder in der Rogio Germania dem Gomez zugearbeitet hatte. Sowas war hier nicht möglich... zwar hatten die Frauen durchaus zu sagen (in gewissen Belangen sogar sehr viel, nur in Kriegszeiten konnten die Männer uneingeschränkt bestimmen wo es lang ging), aber sie waren doch die meiste Zeit damit beschäftigt Kinder zu kriegen, diese großzuziehen und den Haushalt und die Gemeinschaft zu pflegen. Was wohl auch der Grund war, weshalb Alrik alleine war und keine Geschwister hatte.. seine Mutter war früher viel zu beschäftigt gewesen um Kinder zu kriegen, und so war Alrik eben auch erst geboren worden als seine Mutter und sein Vater sich hinter den Limes zurückgezogen hatten um zu kämpfen. Das war auch der Knackpunkt, dem Alrik stets auswich um keinen Streit zu provozieren: Warum seine Eltern trotz all der glorreichen Geschichten um das römische Reich ihre Familie und Freunde verlassen hatten, um hier im bewaldeten Nichts zu leben. Alrik war sich sicher: würden sie im römischen Reich leben, würden seine vier Geschwister jetzt allesamt noch leben und sie hätten zusammen einen Mordsspaß.
    Die Chance auf die Geschichten verzichten zu müssen wenn er solche Fragen stellte ließ Vala allerdings verstummen, und so erzählte seine Mutter Abend für Abend immer neue Geschichten aus dem Reich. Obwohl sie Germania (fast) nie verlassen hatte (sein Vater war quasi überall im Reich gewesen!), gab es nichts was sie ihm nicht erzählen konnte... die Acropolis von Athen schien sich förmlich aus den Nebelschwaden der Hügel zu erheben, als sie davon erzählte! Und er konnte den capitolinischen Hügel mit seinen großartigen Bauten sehen! Und die Menschen erst, in gleißend weisse Stoffe gehüllt, mit hoch erhobenem (stets mit Laub bekränzt) Kopf ehrwürdig die Welt beherrschend umhermarschierend.


    Eines Morgens, nachdem sein Vater sich ganze zwei Wochen vom Lager entfernt hatte, hockten er und seine Mutter im Schattenspiel der Bäume unter der aufsteigenden Morgensonne.. sie arbeitete an an einem Seil aus Flachsfasern, er schnitzte Pfeile für die Jagd.. da kläfften ihre zwei Hunde voller Vorfreude, und man konnte freudige Männerrufe aus der Ferne der Wachposten hören. Sofort sprang Vala auf und rannte in Richtung des Lärms, so wie er es immer tat... so sehr sein Vater ihn auch ignorierte (außer, er konnte von vergangenen Heldentaten und Ruhmtümern erzählen), Alrik freute sich jedes Mal darüber, dass Leif es zurück schaffte. Auch dieses Mal war die Aussicht seines Vaters mehr wert als jede Geschichte über das noch so schöne römische Reich, sein Vater war zurück und lebte...
    Alrik stolperte fast über eine Wurzel als er durch eine Kuhle lief, dem ausgetretenen Pfad folgend mit nassem Laub an seinen Füßen, bis er schwer atmend schließlich bei einem großen Felsen stehen blieb der ihren Wachen oftmals als Wind- und Regenschutz diente... und da stand er. Wie immer mit dem gleichgültigen, in Gedanken versunkenen Blick, der ihn gar nicht wahrzunehmen schien. "Vater!" , rief Alrik aus, erntete aber nur ein mattes Lächeln als Begrüßung, "VATER!" Leif wendete sich einer der Wachen zu und führte ein Gespräch fort, welches die beiden wohl vor Alriks Auftauchen geführt hatten, und wie so oft war es Gundraban, der Alrik in die Höhe nahm und ihn auf seine Schultern setzte.
    "Alrik, wenn du weiter so wächst, wird dies das letzte Mal sein, dass ich dich auf die Schultern nehme!", tönte der junge Mann, dem gerade sein erster Bart wuchs, "Du wirst noch ein richtiger Jötun, der die Welt mit seinen Schritten erzittern lässt!"
    "Mutter meint, ich wäre nur ein Strich in der Landschaft, kaum dicker als eine Weidenrute!" , beklagte Alrik sich mit deutlichem Nörgeln, immernoch seinen Vater anstarrend.
    "Na, dann bist du aber eine verdammt schwere Weidenrute! Ich würde sagen wir müssen dir deine Rationen kürzen, bevor ich mir noch den Rücke breche..." , versuchte Gundraban sich als Stimmungsmacher.
    "Wo wart ihr?" , wechselte Vala das Thema als der junge Mann ihn zurück in Richtung Lager trug, "Was habt ihr gemacht?"
    "Ööööhhhhh.. wir... wir... wir...", begann Gundraban, "..wir haben... wir haben einen Rich getroffen, von einer großen Sippe, die können uns helfen."
    "Wirklich?" , hakte Alrik nach, der genau diese Worte schon viel zu oft gehört hatte und danach doch weiterhin nur Eichelsud zu Essen bekam, alleine schon der Gedanke daran ließ seinen Magen vor Hunger knurren, "Wie habt ihr das geschafft?"

    http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer09.png "Sie haben dich verkauft, Alrik." , erklang es mit kratzender Stimme hinter ihnen, als Alrik sich erschrocken umwandte und Gundraban dasselbe tat schaute Alrik auf einmal wieder in die Richtung in der sie unterwegs gewesen waren und sah erst einmal gar nichts. Erst als er wieder über den Kopf Gundrabans hinaus blickte, sah er dass Lintrad hinter ihnen aufgetaucht war, der zwergenhafte Sohn des Hluteri.
    "Halt deinen verdammten Mund geschlossen, Lintrad.", kläffte Gundraban, der mit seinen fünfzehn Lenzen schon fast doppelt so groß war wie der Kleinwüchsige desselben Alters. Selbst Alrik hatte schon die Größe Lintrads hinter sich gelassen.
    "Wieso?" , warf dieser sichtlich unbeeindruckt ein, "Warum sollte man dem Jungen etwas vormachen? Du druckst herum als würdest du das erste Mal vor einem Bär stehen, Gundraban... wird das dem Jungen helfen? Nein. Also: Alrik, man hat dich verkauft... sprichwörtlich gesehen."
    "Lass das, Zwerg.", knurrte Gundraban ein weiteres Mal...
    "Ich verstehe nicht... wieso weißt du das? Du warst nicht mit dabei..." , jammerte Alrik mit verwirrtem und hilflosen Blick, "..wieso sollte Vater das tun? Und warum? Und was ist sprichwörtlich?"
    "Weil es vorher schon klar war, worauf das hinauflief." , gab Lintrad unbeeindruckt zur Antwort und begann weiter in Richtung ihres Lagers zu laufen, "Dein Vater musste es förmlich tun, um zu verhindern, dass wir hier irgendwann verhungern.. Heriman, der Rich der Sippe, hat viele Töchter und nur zwei Söhne. Seine Sippe besitzt genug um uns ohne Probleme durch den Winter zu bringen... und hat noch genug Männer um Modorok ernsthaft Probleme zu bereiten."
    "Und wieso ich? Wieso gerade ich? Ich bin doch noch viel zu jung... bin ich das nicht? Mutter meinte, man würde mit zwölf oder dreizehn Sommern verheiratet... ich habe noch nicht einmal acht gesehen!" , protestierte Alrik als Gundraban es nicht tat, "Warum sollte Vater so etwas tun? Remberaht führt unsere Gruppe, der hat auch einen Sohn..."
    "Dies sind harte Zeiten.. da ist man nicht wählerisch. Man setzt quasi auf die Zukunft" , antwortete Lintrad während er weiterhin gemächlich in Richtung Lager watschelte, Gundraban und Alrik neben sich wissend, und unterschlug dabei höflicherweise die allgegenwärtige Angst, dass Alrik gar nicht alt genug werden könnte um die Ehe zu vollziehen, "Remberahts Sohn ist schon verheiratet, außerdem ist er nicht so viel wert wie du... es macht mehr Sinn dich zu verheiraten, Alrik, als einen von uns."
    "Lintrad, das ist zu viel für den Jungen.", versuchte Gundraban sich noch einmal darin, Alriks Unschuld zu bewahren.
    "Ich verstehe das nicht..." , bestätigte Alrik danach dessen Angst, schließlich brummte ihm bereits der Schädel weil es für ihn einfach keinen Sinn machte. Natürlich wusste er wonach verheiratet wurde, seine Eltern und all die anderen in der Gruppe hatten sich nie die Mühe gemacht seine Vorstellungen von der Wirklichkeit mit irgendwelchen Sagen und Märchen zu verdrehen.. zumindest mit keinen die ihre aktuelle Situation beschrieben... aber das hier machte einfach keinen Sinn für ihn: "Wieso sollte ich unbedingt verheiratet werden? Gundraban ist auch noch nicht verheiratet! Oder du! Und ihr seid fast Männer!"
    "Hah!!" , lachte Lintrad bitter, "Das will ich sehen, wie mein alter Herr mich an die Tochter eines Richs verscherbelt... nein, Alrik, bei dir geht es um mehr als dafür zu sorgen, dass du genug Kinder zeugst um in ein paar Jahren eine eigene kleine Sippe um dich zu haben. Da hast du recht... du bist zu jung.. aber in dieser Sache geht es nicht darum Kinder zu zeugen."
    "Worum dann?" , fragte Alrik, dem der Kopf platzen wollte weil seine Gedanken kein schlüssiges Ziel fanden.
    "Lintrad, schweig...", versuchte Gundraban es ein letztes Mal..
    "Um Rom, Junge!!" , lachte Lintrad weiter, "Es geht dem alten Mann um Rom. Weder Gundraban, noch ich oder der Sohn Rehmberats haben Anspruch auf die Führung einer Sippe, die erstens im römischen Reich lebt und zweitens dort alles andere als ohne Einfluss ist."
    "Aber meine Eltern haben sich dafür entschieden hier zu leben, bei euch... sie haben den Duccii den Rücken zugekehrt um gegen Modorok zu kämpfen." , wandte Alrik ein, dem seine Eltern dies (und das Argument, dass sie hier zusammen sein könnten, was im Reich nicht ginge) immer wieder eingeimpft hatten.
    Lintrads Lachen verstummte, und dafür bildete sich eine Art Lächeln auf seinen Lippen, die Alrik nicht verstand: "Ja, sicher, das haben sie... aber gilt das auch für dich, wenn all dies einmal vorbei ist? Nein, tut es nicht... und Heriman setzt darauf, dass du danach nicht nur seine Tochter mit über den Limes nimmst, sondern seine ganze Sippe."


    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm1.staticflickr.com/150/424016120_10ed09475e.jpg

    Was auch immer sie hier taten, Alrik verstand es nicht. Erst waren sie knapp zwei Wochen lang durch's Nichts gewandert, hatten ihren sicheren Lagerplatz aufgegeben um der aufgehenden Sonne entgegenzuwandern, nur um schließlich auf einer für sein Empfinden atemberaubend großen Lichtung auf nicht gerade freundliche Zeitgenossen zu treffen.. und schließlich einen Tag später mit versammelter Mannschaft am Rande eines großen Moores zu stehen das den ersten Schnee des Jahres noch nicht verschluckt hatte. Alrik, zur Unbill seines Vaters an den Rockzipfel seiner Mutter geklammert, wandte immer wieder mal den Kopf um die zumeist ernst oder ängstlich dreinschauenden Menschen um sie herum zu mustern die ihm größtenteils unbekannt waren. Wie groß war diese Sippe eigentlich? Sehr groß, so wie er es einschätzte... fast einhundert Menschen ausschließlich derer, die Alrik mangels eigener Verwandtschaft seine Sippe nannte. Er konnte sich nicht daran erinnern jemals so viele Menschen gesehen zu haben..
    Seine Mutter war es zum wiederholten Male, die seinen Blick wieder auf das für ihn vollkommen uninteressante Geschehen vor ihm zu lenken, was sie einfach tat indem sie seinen Kopf packte und wieder in die richtige Richtung drehte. Uninteressant war das, was wenige Schritte vor ihnen vor sich ging vor allem deshalb, weil er nicht im geringsten verstand was da eigentlich vor sich ging. Der Rich der großen Sippe stand dort, ebenso jemand den sein Vater als Goden bezeichnet hatte... und eine junge Pärchen, dass auf den Knien mit hinter dem Rücken verbundenen Händen kauerte. Alrik wusste, dass die Frau lange geweint hatte, weil ihre Augen so aussehen wie die seiner Mutter wenn diese eben genau dasselbe getan hatte. Der Mann ließ die ganze Zeit den Kopf hängen, so dass man nicht viel erkannte. Seine Mutter weinte oft genug aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen... zum Beispiel wenn die Götter wieder eines seiner Geschwisterkinder zu sich nahmen bevor dieses seinen Namen bekamen (Alrik hatte seinen schon lange!). Oder wenn sich wieder eins ankündigte. Oder wenn sein Vater lange weg.. und noch mehr, wenn er länger weg war, als er ursprünglich angekündigt hatte. Was nicht selten vorkam.
    Auch verstand er nicht, warum der Gode die Gerechtigkeit Wodans anrief um in einer bestimmten Sache das Urteil des Richs teilzuhaben... irgendwas mit Friggs Tugend, der sich jedes treue Weib der Sippe annehmen sollte.. und Hel. Hel.. deren Name alleine schon Alrik einen kalten Schauer über den Rücken jagte und ihn instinktiv näher an seine Mutter rücken ließ, die recht teilnahmslos eine Hand auf seinen Kopf legte und ihm durch die Locken strich.
    "Was machen die da?" , fragte er zum gefühlt hundersten Male, doch wieder kam entweder keine Antwort oder nur eine zischende Aufforderung von hinten still zu sein. Wieder war es die alte Frau von vorhin, die ihn mit bösen Blick quasi auffressen wollte.. was Alrik noch ein Stück näher an seine Mutter rücken ließ, wenn das überhaupt möglich war.
    Irgendwann endete die lange Litanei des Goden, der zuletzt mit hoch erhobenen Händen die Moorgeister heranrief, die quasi schon die ganze Zeit über dem Gebilde hingen, das wie so vielen anderen auch Alrik unheimlich war, weil es weder wirklich Wasser war... noch wirklich Land. Der Gode blickte schließlich den Rich auffordernd an, der sich vernehmbar räusperte und mit lauter Stimme von Frevel zu reden... von Verstoß gegen die Sitten der Ahnen und von Verbrechen gegen die Sippe, die sie alle schützte und die sie alle zu schützen hatten. Als Obherr seiner Sippe stünde es ihm zu bei einem Verbrechen wie die beiden jungen Leute sie begangen hätte genau dies zu ahnden um der Einheit durch die Gesetze ihres Stammes Rechnung zu tragen und das Ansehen zu verteidigen, dass seine Sippe unter den anderen Sippen im Stamme genoss.
    Der Rich sagte.. nein, rief... all dies mit donnernder Stimme und deutlicher Anklage, aber er schaute dabei nicht das junge Pärchen an, sondern die anderen in seiner Sippe... und zu Alriks Verdacht oft seinen Vater.
    Gerade wollte er noch einmal am Rock seiner Mutter ziehen um endlich zu erfahren, was das nun eigentlich zu bedeuten hatte, da donnerte der Rich auch schon ein Urteil in die Luft, welches das am Boden kauernde Paar nach Helheim verbannte. Verwirrt bekam Alrik gerade noch mit, wie die eine oder der andere überrascht nach Luft schnappte, dann ging alles ganz schnell: die Frau brach schluchzend zusammen und legte sich laut wehklagend auf den Boden, während der Mann den ohnehin schon hängen Kopf noch weiter sinken ließ und weiterhin still blieb. Zwei Männer traten nach einem Kopfnicken des Richs aus der Menge und rafften jeweils Mann und Frau nach oben, um sie mit stoischer Miene ins Moor zu schleifen. Die Klage der Frau wurde noch lauter als sie das kalte Wasser des Moors zu spüren bekam.. und als die Männer einige Schritte weit im Moor schließlich zum stehen kamen (was gar nicht so einfach aussah, weil sie durch das Gestrampel der Frau immer wieder nach links und rechts traten auf der vergeblichen Suche nach festem Stand) musste der Rich schon brüllen um für alle hörbar die Frau und den Mann aus der Gemeinschaft ihrer Sippe und ihres Stammes zu verbannen und sie für ihre Taten nach Helheim zu verbannen. Ein weiteres Nicken, und das Wehklagen der Frau endete abrupt als ihr der sie festhaltende Mann ein Messer über die Kehle zog.
    Alrik realisierte einen Moment zu spät was da gerade vor sich ging, so perplex war er von den Unschuldsbeteuerungen der Frau, und so bekam er zwangsläufig noch mit, dass der Mann ebenso stumm und wortlos starb wie er während des Tribunals dagehockt hatte... den Blick, den der Totgeweihte dabei allerdings in den Augen trug würde er wohl sein Leben lang nicht vergessen... das war nicht der Blick eines Menschen.. das war der Blick eines Hundes, den man zu lange und zu oft geschlagen hatte. Jetzt verstand Alrik, wie Lebenswille aussah... weil jeder ihn in den Augen trug, jeder bis auf diesen einen Mann.
    Die Frau hingegen zeigte eindeutigen Willen, sich nicht so leicht in ihr Schicksal zu fügen. Hatte sie vorher noch kräftig um sich getreten um dem starren Griff des Mannes zu entrinnen, und lautstark ihre Unschuld beteuert verklang ihr Lebenshauch in einem obszön lauten Gurgeln.. der Mann zog das Messer nicht über ihre Kehle, sondern DURCH sie hindurch.
    Alrik hatte schon Menschen sterben sehen... der Tod war es nicht, der ihn hier derart schockte. Kranke, Alte, Verwundete... er hatte schon mehr als nur einmal in die Augen eines Sterbenden gesehen, wenn auch immer nur aus der Sicherheit des Rocks seiner Mutter hervor... aber das hier war anders. Der Kontrast zwischen den Sterbenden hätte eindringlicher nicht sein können.. und die Gewaltsamkeit ihres Todes nicht exemplarischer.


    Als das Werk verrichtet war, wateten die beiden Männer aus dem Moor heraus und taten ganz so, als würde sie die durchnässten und mit Blut beschmierten Kleider nicht stören... die Körper der Hingerichteten ließen sie einfach im Moor treiben, wo sie grotesk mit dem Gesicht nach unten sanken und mit den auf dem Rücken verbundenen Händen inmitten der Moorgeister einen unwirklichen Eindruck vermittelten. Schließlich zerstreute sich die versammelte Sippe, und auch Alriks Eltern machten sich mit den anderen auf um zur Siedlung zurück zu kehren die gute drei Wegstunden vom Moor entfernt lag. Es dauerte eine gute Stunde, bis Alriks Geist sich aus der Umklammerung der Bilder lösen konnte, die sich soeben in sein Gedächtnis gebrannt hatten, und begann wieder einmal seine Eltern mit Fragen nach dem soeben geschehenen zu beharken... die wieder einmal diese mit sturem Schweigen abblockten, so wie es immer geschah wenn Alrik unbequeme Fragen stellte. Und wie immer (öfter) holte Alrik sich dafür seine Antworten woanders. Er ließ sich zurückfallen, was seinen Eltern nicht einmal auffiel, und trat neben Gundraban und Lintrad die bisher recht stumm den Weg zurück beschritten hatten.
    "Gundraban! Lintrad!" , forderte Alrik die Aufmerksamkeit des kleinwüchsigen Mannes, den er bereits seit einem Jahr überragte, "Warum haben sie den Mann und die Frau zu Hel geschickt?"
    "Die beiden haben gegen die Gesetze des Stammes verbrochen... sie waren Ehebrecher. Sie war verheiratet... sie wurden erwischt, und mussten bestraft werden. So wird mit Ehebrechern umgegangen.", versuchte Gundraban an einer Erklärung und versuchte dabei nicht allzu betroffen dreinzuschauen. Es war ihm zunehmend wichtig auch als Mann erkannt zu werden und sich ebenso unnachgiebig zu zeigen wie die stärksten Männer ihrer kleinen Gruppe... zu denen auch Alriks Vater gehörte, der allen ein Vorbild für Unnachgiebigkeit, Aufrichtigkeit und Stärke war.

    http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer09.png "Ach, Papperlapapp..." , schnalzte Lintrad verächtlich mit der Zunge und warf dem größeren Jungmann einen vorwurfsvollen Blick zu, "...wieso dem Jungen nicht einfach reines Bier einschenken, Gundraban?"
    "Weil er noch ein Junge ist!", gab dieser mit halbherziger Empörung zurück, was Lintrad nur noch verächtlicher abwinken ließ: "Je schneller der Junge erkennt, wie die Welt um ihn herum funktioniert, desto größer ist seine Chance auch lange genug in dieser zu überleben.."
    "Das ist die Aufgabe von Leif, nicht deine, Lintrad!", versuchte Gundraban es mal wieder Alrik vor den Weisheiten des Zwergs zu bewahren.
    "Dazu sag ich lieber nichts..." , wich Lintrad dem Punkt aus, weil er sehr wohl wusste wie groß der Einfluss Leifs war... auf seinen Sohn, aber nicht zuletzt auch in der Sippe, die sein eigenes Überleben sicherte, "..aber dazu lass mich was sagen, Alrik: diese beiden Menschen sind nicht gestorben weil sie ein Verbrechen begangen haben."
    "Warum das?" , blickte Alrik den Zwerg mit fragendem Blick an, nicht wenig verwirrt darüber jetzt genau das Gegenteil von dem zu hören was er gerade eben noch gehört und auch gesehen hatte!
    "Jetzt bin ich auch gespannt, Lintrad... warum das?", gab Gundraban sich weitaus skeptischer.
    "Der Mann war ein Gefangener aus einem der kurzen Züge Herimans gegen die letzten Sippen, die Modorok immernoch folgen.. ein Mund der zu füttern war, und den man sich eigentlich nur für den richtigen Moment aufsparte um ihm schließlich den Schädel zu spalten und ihn den Göttern zu opfern... oder einem Sklavenhändler zu verkaufen. Anscheinend hatte der Mann doch etwas größeren politischeren Nutzen für Heriman als ihm ein römischer Händler eingebracht hätte." , begann der Zwerg mit einem verdrieslichen Lächeln zu dozieren, was bei Gundraban und Alrik nur auf Unverständnis stieß: "Das macht keinen Sinn, Lintrad."
    "Was war mit der Frau, Lintrad?"
    "Eine Hörige aus einer niederen Muntsippe, die ohnehin zuviele Töchter hat... ich bin mir sicher, Heriman hat sie fürstlich für den Verlust belohnt. Das Mädchen war ebenso unschuldig wie sie offensichtlich entbehrlich war. Noch ein Maul weniger zu stopfen.. und ein adäquates Geschenk an die Geister, würde ich sagen." , fuhr Lintrad unbeeindruckt fort, "Viel mehr brachte ihm das allerdings in dieser Welt ein.. heute konnte Heriman auf sehr eindrückliche Art und Weise klarstellen, wie er mit Wortbruch und Verstoß gegen die Traditionen seines Stammes umspringt... das war ein eindeutiges Zeichen in Richtung deines Vaters, Alrik... und auch in deine Richtung."
    "JETZT wird es wirklich bizarr, Lintrad.", versuchte Gundraban sich erneut darin den Reden des Zwergs einhalt zu gebieten, aber die Verwirrung und gleichzeitige Neugier in Alriks Blick ließ den Zwerg fortfahren: "Du wirst eine Tochter Herimans heiraten, Alrik, was als Wort zwischen seiner Sippe und unserer... beziehungsweise deiner gelten wird. Dass er sich eindeutige Hoffnungen hinsichtlich dieser Verbindung macht ist klar... und heute hat er sehr viel dafür springen lassen, klarzumachen, dass er auch alles dafür tun wird um diese Hoffnungen erfüllt zu sehen. Also, Alrik, sei gewarnt."
    "Das ist vollkommen absurd, Lintrad, kannst du nicht endlich mal dein elendes Maul halten? Verstehst du eigentlich was du da gerade redest? Du warnst einen nicht einmal neunjährigen Jungen davor EHEBRUCH zu begehen!", empörte Gundraban sich immer mehr, "Er wird noch Jahre brauchen bis er die Wärme einer... SEINER Frau wird spüren können!"
    "Was wirfst du mir da eigentlich für einen Quatsch vor? Ich warne Alrik nicht davor einer anderen Frau als seiner eigenen beizuwohnen, oder irgendwelche anderen Regeln zu brechen.." , witzelte Lintrad nun vergnügt, fischte sich eine Nuss aus einem kleinen Sack und zerbiss diese mit genüsslichem Blick bevor er Alrik in die Seite boxte und ihm schelmisch zuzwinkerte: "Ich warne Alrik davor, sich erwischen zu lassen."


    Bildquelle 1

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm7.staticflickr.com/6045/6367275423_7de511e442.jpg

    "So erklär ich euch im Angesicht der Götter und Sippen eurer Väter und Vätersväter zu Mann und Frau...", dröhnte die Stimme des Goden, der so nahe bei Alrik und dem Mädchen stehend schon seit geraumer Zeit beiden die Ohren klingeln ließ. Seit ebenso langer Zeit ließ Alrik das Prozedere mehr Schreckstarr als diszipliniert-gehorsam über sich ergehen, hörte nicht richtig zu und wünschte sich eigentlich einfach nur an einen ganz entfernten Ort. Weg von diesem Mädchen, die ebenso schreckstarr wie er neben ihm stand und das ihn bisher kein einziges Mal auch nur angesehen hatte! Nicht, dass Alrik sie bisher maßgeblich öfter angeblickt hatte... zwei mal hatte er bisher nur rübergeschielt um das blonde Geschöpft neben ihm verstohlen zu mustern, und was er sah mochte er nicht. 1. Sie war ein Mädchen 2. Sie war kein Junge 3. Sie war vom anderen Geschlecht. Das versprach höchst anstrengend zu werden, mal ganz davon abgesehen, dass Alrik immer noch nicht im geringsten verstand was hier überhaupt vor sich ging. Als er er sich während der Zeremonie hilfesuchend zu seinem Vater umgedreht hatte (dessen Zeugenschwur eine neue Höchstmarke an Lustlosigkeit gesetzt hatte), drehte dieser den Kopf seines Sohnes einfach wieder nach vorne.
    Das, die vielen Worte und die Tatsache, dass ihm immernoch niemand wirklich erklärt hatte was er hier überhaupt sollte (die Erklärungen Lintrads warteten seit Monaten auf Verizifierung durch seinen Vater, welche nie kam) ließ seinen Kopf gehörig schwirren... und er musste gehörig an sich halten, um nicht loszuweinen. Seine Mutter hatte es ihm nicht nur einmal eingeprägt, und ihm zur Übung mehrere Ohrfeigen verpasst, bis er seinen Drang loszuheulen selbst niederkämpfen konnte. Auch von ihr.. keine Hilfe.
    Umringt von den Menschen die er liebte fühlte er sich einfach nur verloren und allein.


    Plötzlich war Stille, und als Alrik deshalb aus seinen Gedanken aufschreckte, bemerkte er, dass der dicke Gode mit dem schwarzen langen Bart ihn herausforderungsvoll anblickte. Alrik verstand nicht, auch die beiden Godeshilven blickten ihn an... aber immernoch ging ihm nicht auf, was er jetzt tun sollte. Zögerlich wandte er den Kopf zu seinem Vater, der im Festornat eines seit Jahren heruntergekommenen Helden den Eindruck längst vergangener Tage zu erhalten versuchte, aber auch dieser blickte ihn nur stumm und herausfordernd an. Ebenso seine Mutter, und alle um ihn herum... vor allem aber Heriman, Rich der Sippe des Mädchens und sein künftiger Schwiegervater.
    "Du darfst die Braut nun küssen, Junge...", flüsterte irgendjemand ihm zu, aber wer genau war nicht auszumachen in dem menschlichen Wald aus starren Körpern und unfreundlichen Gesichtern um ihn herum. "Küss sie... das Mädchen, Junge", wiederholte jemand, und jetzt zum ersten Mal wandte Alrik seinen Kopf langsam zu dem Geschöpf, das dort die ganze Zeit neben ihm ausgeharrt hatte: mit für germanische Verhältnisse edlen Stoffen, Silber an Handgelenken und Hals und einem aus Frühlingsblumen geflochtenen Haarkranz machte sie im Vergleich zu Alrik einen absolut pompösen Eindruck... aber unter all dem Ornat blickte er auf ein ebenso eingeschüchtertes Gesicht wie er selbst wohl eins zur Schau trug. Godlindi, erinnerte er sich just in diesem Moment an ihrem Namen, war ein Pi mal Daumen ein bis drei Jahre älter als er selbst, und sie hatten sich bisher kein einziges Mal gesehen. Gelegenheit genug hatten sie gehabt, immerhin lagen die kleinen Siedlungen der Sippe nahe genug beieinander um innert eines Tages von einer zur anderen zu gelangen... aber sie hatten wohl beide die Pläne ihrer Väter so weit wie möglich von sich fortgeschoben und sich um Dinge gekümmert die ihnen eher lagen. Ihm fiel zum ersten Mal auf, dass sie strohblond war... und wohl das, was man als hässlich bezeichnete. Ihre Lippen waren klein und schmal, ihre Nase dafür groß und ihre Nasenlöcher noch größer.. und ihre Augen erinnerten ihn an die eines toten Fischs. Nein, Alrik mochte sie nicht. Ganz und gar nicht. Und er wollte sie auch nicht küssen.. da küsste er lieber das Maultier, das Gundraban einem römischen Händler abgenommen hatte.


    Unweigerlich machte er einen Schritt nach hinten, was sogleich ein ungläubiges Raunen und Tuscheln durch die nicht unbeträchtliche Menschenmenge fahren ließ, und als er noch einen Schritt zurückmachen wollte, weil sich der Widerwille dieses Geschöpf zu küssen sich immer mehr in einer Art Ekel in ihm niedergeschlug, packte sein Vater ihn sogleich grob bei den Schultern und schob ihn unnachgiebig auf Godlindi zu... die ebenso wenig begeistert schien wie er selbst. Kurz vor ihr blockierten dann seine Beine mit den ledernen Schuhen die schon zum siebten Mal ausgebessert worden waren, und mit aller Macht stemmte er sich gegen diesen Kuss: "Ich will nicht... Vater, lass mich. Ich will sie nicht küssen... ich will das nicht." Dieser Protest sorgte für zweierlei Dinge: einerseits wandte Godlindi sich ebenfalls um und versuchte sich in der Flucht, andererseits wurde Alrik von irgendwem umgerissen und so unvermittelt geschlagen, dass er nicht einmal sah von wem jetzt seine linke Gesichtshälfte in eine brennende Hölle verwandelt wurde.
    "KÜSS. DAS. MÄDCHEN.", zischte irgendeine Frau, und jetzt wo er sie hörte wusste Alrik auch, dass es eine Frau war die ihn geschlagen hatte. Wenn sein Vater ihn schlug, spürte Alrik eine ganze Weile erst einmal gar nichts mehr. Unvermittelt wurde er wieder umgerissen und in Richtung des Mädchens geschoben, das ebenso einfühlsam 'überzeugt' mit geröteten Augen und Schnott unter der Nase auf sein Kommen wartete.
    Natürlich war Alrik in einer Gesellschaft aufgewachsen, die das eigene Aussuchen von Heiratspartnern als vollkommenen Unsinn betrachtete... aber in seiner kindlichen Vorstellung (und von den verklärenden Erzählungen seiner Eltern aus einem längst vergangenen Leben jenseits des Rhenus) hatte es doch etwas anders ausgesehen.
    Als sein Vater ihm noch einmal möglichst unauffällig zwischen die Schulterblätter stieß, fiel sein Widerstand in sich zusammen und er bewegte seinen Kopf endlich in Richtung des Mädchens... die sich ein zaghaftes und sehr unechtes Lächeln abzwang.. sie hatte schiefe Zähne. Er schloss die Augen, warum wusste er auch nicht... wohl weil die Erwachsenen es auch ständig taten. Und um nicht zu sehen was er dort küsste, auch wenn Hässlichkeit ein Attribut war das in seinem Alter auf so ziemlich jedes Mädchen zutraf.
    Der letztendliche Kuss dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber für Alrik war es lange genug um sich danach ausgiebig den Mund abzuwischen... was seiner Braut wohl genauso ging. Den Erwachsenen war es egal: hörbar machte sich Erleichterung breit, es war als würden einige deutlich aufatmen. Was folgte war der Austausch von Geschenken zur gegenseitigen Gunst, und Alrik überreichte Godlindi eine in Haselholz geschnitzte Version einer Frigg, während seine Braut ihm einen schweren Speer aus Eibe mit metallener Spitze aus Bronze und einen ebenfalls mit Bronzeapplikationen umfassten Schild überreichte, der Alrik noch bis zur Brust ging. Der Witz von irgendjemandem, dass Alrik dort noch hineinwachsen würde, zündete nicht... zu angespannt war die Situation noch. Erst als Alrik die Hand seiner Frau nahm und über ein eigens errichtetes Feuer sprang entlud sich die Anspannung in lautem Jubel.


    Die Festlichkeiten danach zeigten Alrik, wie armselig er bisher gelebt hatte: es wurde mehr Essen aufgetischt als ihre gesamte Gruppe in einem Jahr zur Verfügung gehabt hatte. Man hatte sogar eigens ein Schwein geschlachtet! Sowieso: der Kontrast zwischen der Sippe Herimans und den Leuten die sein Vater anführte war überall erkennbar: an der ärmlichen Kleidung seiner Freunde und seiner Familie und der für seine Verhältnisse pompösen der Sippe seiner Frau. Die Geschenke die er und seine Leute der Sippe seines Schwiegervaters machen konnten, war ebenso wie sein Geschenk an seine Frau eher symbolischer Natur, während die Gegengeschenke klarmachten mit was für einer wohlhabenden und mächtigen Sippe sie sich hier eingelassen hatten.
    Fast den ganzen Abend über ging das Feiern vollkommen am Brautpaar vorbei, das am Ende einer herrschaftlich hergerichteten Tafel still nebeneinander saß und sich den Abend vorüber wünschte, während um sie herum die Leute ausgelassen und fröhlich feierten. Die Sippe Herimans, weil man eine tragfähige Bande zu einer römischen Sippe geschlossen hatte, die Leute unter Leif, weil sie die Jahre des Elends vorüber und an eine Zukunft ohne Modorok glaubten. Alrik verstand von all dem nichts.. und ließ das meiste der Festspeise und Tränke daher unberührt, genauso wie seine Frau.
    Da sie beide noch Kinder waren, legte niemand wirklich großen Wert darauf dem ersten Beischlaf der Brautleute beizuwohnen, und so waren es nur die Eltern die die Kinder in ihr gemeinsames Bett in einem nicht einmal symbolisch abgetrennten Bett im Haupthaus der Siedlung Herimans brachten, sie dort zum schlafen betteten und sich alsbald wieder zum Feiern verzogen. Nicht einmal dies konnte Leifs Gruppe sicher stellen: da seine Leute nichts besaßen, konnte Godlindi auch nicht in Alriks Bett überführt werden.. und so musste er unter dem Dach der Sippe seines Schwiegervaters schlafen.
    Dies ging ihm erst auf, als seine Eltern ihn verließen... es würde das erste Mal sein, dass er nicht bei seinen Eltern schlief.. nicht einmal unter dem selben Dach. Der Gedanke wirkte erst unwirklich, dann machte er ihm einfach nur noch Angst. Seine Frau hatte direkt nach dem Verschwinden der Eltern angefangen wimmernd zu weinen, und Alrik verstand wieder einmal nicht warum... erst als ihm die Angst über die Nacht alleine unter fremdem Dach in die Magengrube kroch, begriff er, dass seine Frau nicht die einzige war, die sich in den Schlaf weinen würde.


    Bildquelle 1

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm1.staticflickr.com/109/286745709_fe21025eb0.jpg

    Weißer Dampf bildete sich geisterhaft vor Alriks Gesicht sobald er ausatmete.. und jedes Mal versuchte Vala sich vorzustellen, woran ihn die kleine Wolke erinnerte, die ihm immer wieder ein neues Stück Wärme aus seinem Körper zu rauben schien. Wildeber. Auerochsen. Sogar einen Luchs meinte er einmal in seinem eigenen Atem erkannt zu haben.
    Und doch kehrte seine Gedanken immer wieder zur vermaledeiten Kälte zurück. Zum gefühlt tausendsten Male schlug er schon mit den Armen um sich, doch es half nicht: es blieb schneidend kalt. Und das obwohl er sich mit den ganzen Fellen und dicken Wollschichten fühlte wie ein bepelztes Untier auf zwei Beinen. Er hatte sicherlich die Felle von vier verschiedenen Tierarten am Körper, und würde etwaige Raubtiere alleine dadurch schon irritiert in die Flucht schlagen.
    Er konnte nicht einmal umherlaufen um durch die Bewegung ein wenig Wärme in seine Glieder zu bekommen: das würde ihn wahrscheinlich verraten. Was ihn wieder daran erinnerte, warum er hier im knietiefen Schnee stand und sich den Arsch abfror. Unweigerlich wanderte sein Blick nach oben, was er in den vergangenen Stunden oft genug vermieden hatte: der Himmel, wolkenverhangen, zeigte nach wie vor ein glühendes Rot.
    Sie wussten nicht warum der Himmel sich derart zeigte,.. welche Spielart der Götter nun für dieses Phänomen verantwortlich war. Die Goden hatten allerdings eine eindeutige Interpretation: es würde Kampf geben. Krieg.
    Die Aufregung nach dieser Kundgabe war groß gewesen, immerhin war es tiefster Winter.. und niemand war wahnsinnig genug mitten im Winter einen Kriegszug zu beginnen. Aber gegen ein derartig eindringliches Omen wie den blutroten Himmel ließ sich schlecht mit den althergebrachten Traditionen argumentieren: natürlich bekamen die Goden ihren Willen, und man bereitete sich bald darauf vor wieder einmal gegen Modorok und seine Getreuen zu ziehen, um die Gefahr für die Freiheit der Stämme ein für allemal zu bannen.
    Dass die meisten Stämme ihre Freiheit gar nicht mehr in Gefahr sahen, wie Lintrad oft genug lästerte, wurde großzügig übersehen... der Tod Modoroks war eine Herzensangelegenheit seines Vaters und einiger weniger anderer... was auch die sehr überschaubare Zahl an Sippen aus verschiedenen Stämmen zeigte, die überhaupt gewillt waren sich an der Beseitigung Modoroks zu beteiligen. Die meisten anderen pflegten den blutig erkämpften aber unvollendeten Frieden, und wollten nicht noch mehr Söhne in einem Feldzug verlieren, den sie als sinnlos betrachteten da Modorok ohnehin isoliert und nahezu geschlagen war.
    'Nahezu, aber eben nicht vollständig' würde Alriks Vater erwidern, der nicht müde wurde zu betonen wie gefährlich Modorok nach wie vor war... und zu ignorieren, wie alleine sie letztlich dabei waren. Lintrad hatte sich nicht nur einmal Schläge dafür eingefangen zu betonen, dass ihre irrsinnig geringe Zahl die immernoch aktiven Widersacher Modoroks zählenmäßig auf eine Stufe mit denjenigen stellte, die ebenso irrsinnig genug waren Modorok immernoch zu verteidigen.
    Alrik war es nie wirklich bewusst gewesen, dass sein Vater eine Wahl gehabt hatte... für ihn gab es nichts anderes als der konstante, Jahre andauernde Krieg.. auch wenn Lintrad mehr als nur einmal verzweifelt mit Palisadenpfählen um sich warf, wohl weil er hoffte der Sohn könnte den Vater überzeugen und damit dieser bizarren Widerstandsbewegung einer Führungsfigur zu berauben um endlich Ruhe zu bekommen.


    Und nun stand Alrik hier, im Nichts der Gebiete, in denen kein Stamm territoriale Vorrechte beanspruchen konnte (oder wollte), und wartete darauf, dass man ihn wieder abholte. Bevor er erfror... zwar schützten ihn die kahlen Bäume rundherum und die zerklüftete Landschaft vor dem Wind, der über ihm die Wolken durch's Rot trieb, aber nichtsdestotrotz war die Kälte schon lange in seine Knochen gekrochen. Genauso wie die Angst... und Langeweile. Bei all den Geschichten von mutigen und ruhmreichen Taten hätte Alrik im Leben nicht erwartet, dass Krieg so verdammt langweilig war.
    Bisher hatten sich die Männer ihrer kleinen Gemeinschaft für die zahllosen Scharmützel aus ihren jeweiligen Wohnort verzogen, waren in den Wäldern verschwunden und erst Tage später wieder aufgetaucht... oder eben auch nicht. Alrik hatte sich irgendwann einen Spaß daraus gemacht, die neuen Narben auf dem Körper seines Vaters zu zählen.. die Angst, er könne dies irgendwann nicht mehr tun können hatte er schon vor Jahren verdrängt.
    Doch dieses Mal war alles anders... dank dem blutroten Himmel zog wohl die größte Ansammlung bewaffneter Männer los, die Alrik jemals in seinem jungen Leben gesehen hatte. Weit über einhundert Mann hatte man dieses Mal gesammelt, vor allem deshalb weil die Goden auch Stämme und Sippen überzeugen konnten die sich sonst niemals beteiligt hätten. Was für Alrik vollkommen neu war: er war dabei. Er konnte sich noch sehr lebhaft daran erinnern wie seine Mutter gezetert, gewütet und geschrien hatte, aber sein Vater war unerbittlich gewesen: mit seinen zehn Jahren wäre Alrik sehr wohl in der Lage seinen eigenen Speer zu halten. So war Alrik dazu verdammt worden an seinem ersten Heerzug teilzunehmen.. auch wenn Leif seiner Frau versprechen musste, dass der Junge so weit weg von den Kampfhandlungen stand wie nur irgend möglich.


    Das tat Alrik nun auch.. die Schreie der Kämpfe aus dem Wald kamen nurmehr vollkommen gedämpft zu ihm herüber. Verfälscht, fremd und unwirklich klang all das was durch das Dickicht und den pfeifenden Wind zu ihm durchdrang, so weit hatte ihn sein Vater weggestellt. Eigentlich hatte er ihn eigentlich nur der Gruppe an älteren Männern mitgegeben, die die linke Flanke ihrer Meute schützen sollten... und Alrik stellte nunmal den äußersten linken Teil, der eigentlich nur eine Aufgabe hatte: schreien und weglaufen sobald sich ein Feind zeigte.
    Er klammerte sich mit tauben Fingern an den Speer, den man ihm beigegeben hatte, und versuchte an so ziemlich alles zu denken nur nicht an das was sich dort gerade im Wald abspielen mochte. Seine Gedanken wanderten durch so ziemlich jedes Thema, das sein kindlicher Kopf ergab... unter anderem an seine Frau, die er nach den drei Jahren ihrer Ehe nicht mehr ganz so doof fand wie noch am Anfang. Aber auch andere Mädchen ihrer Gemeinschaft bekamen zunehmend seine Aufmerksamkeit, auch wenn er sich noch nicht dazu durchringen konnte sie wirklich zu mögen.


    Während diese Gedanken ihn eine Weile lang beschäftigten, fiel ihm auf, dass die verzerrten Schreie weniger geworden waren... bis sie schließlich mit dem Wind ganz verschwanden verging allerdings noch eine Weile in der er aufpassen musste, dass ihm seine Finger nicht am Speer festfroren.
    Eine Weile der vollkommenen Stille folgte, die Alrik so ahnunglos wie in einer Mischung aus Angst und Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Hause schweben ließ, bevor er endlich das Knirschen von Schnee im verräterischen Rhythmus von menschlichen Schritten hörte. Die Kämpfe vorbei und seine Abholung durch einen der alten Männer, wahrscheinlich Rodrik, wähnend sprang Alrikeinige Male auf und rief in den Wald hinein um auf sich aufmerksam zu machen: "Ich bin hier! Hier bin ich..." Die Wärme tat gut, in den durchgefrorenen Gliedern seines Körpers fühlte es sich an als würden Flammen unter seiner Haut in alle Richtungen rasen, so dass er einfach dabei blieb auf und ab zu springen... bis zu dem Moment, an dem ein menschlicher Kopf hinter einem Baum auftauchte. Alrik winkte dem Mann damit er bloß nicht übersehen wurde: "Hier bin ich. Ist es vorbei, können wir jetzt nach Hause?"
    Der Mann rutschte die Schneewehe zu ihm eher herab, als dass er sie ging.. und als Alrik ihn näher betrachtete merkte er auch warum: er war verletzt. Der braune Stoff seiner Hose hatte sich dunkelrot verfärbt, ebenso wie Teile seines blonden Barts... das Gesicht war verzerrt zu einer Maske, der offensichtlich einige Zähne fehlten. Er kannte den Mann nicht, aber das hatte nichts zu heißen: in der großen Truppe waren einige dabei die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte.
    Erst der Blick des Mannes ließ ihn zweifeln, ob er überhaupt zu ihrer Truppe gehörte, denn Alrik konnte den Ausdruck ganz und garnicht deuten. Erst wenig später würde er wissen, dass er den Blick nie wieder würde sehen wollen... und es doch noch einige Male tun würde.


    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm8.staticflickr.com/7278/8159260173_894d02e17c.jpg

    Eine dünne Spur kleiner Blutstropfen zog sich durch den Schnee als Alrik verzweifelt versuchte seinem Gegner zu entkommen. Schon nach wenigen Schritten brannten seine noch dünnen Muskeln wie Feuer, doch das war nichts im Vergleich zu dem Schmerz der in seinem Gesicht wütete. Seine Lippe war gleich mehrfach aufgeplatzt, ebenso wie seine Nase blutete sein linke Braue.. und das, nachdem der Kerl ein einziges Mal zugeschlagen hatte.
    Alrik hatte es kommen sehen.. selbst wenn er einen wutverzerrten Blick vorher noch nie in seinem kurzen Leben zu sehen bekommen hatte, wusste er doch genau was er zu bedeuten hatte. Und dennoch hatte er sich nicht vom Fleck gerührt als der Kerl auf ihn zutaumelte... endlose Sekunden, die der Mann sich durch den tiefen Schnee auf ihn zukämpfte und dabei schnaubend und ächzend eine Litanei unverständlicher Laute von sich gab. Alrik blieb stehen. Vor Schreck, vor Angst, er würde es nicht sagen können.. er tat es einfach, blickte dem drohenden Unheil entgegen und zuckte nicht einmal als er im Schatten des Mannes verschwand und dessen Hand sich drohend hob.. einzige Reaktion eine sich an den Beinen nach unten ausbreitende Wärme, die sich dampfend auf seiner dunkler werdenden Hose zeigte.


    Erst als er rücklings im Schnee lag und seine linke Gesichtshälfte nicht mehr existierte kehrte er zurück in die Welt des Hier und Jetzt... und begann davonzukriechen. Erst folgte der Mann ihm nicht, warum auch immer, Alrik blickte nicht zurück. Wahrscheinlich war er sich seines Opfers einfach nur sicher.. ein grunzender Laut war wohl ein Lachen, das der Kehle des Mannes entwich als Alrik sich vor ihm durch den Schnee zog. Erst als der Junge sich aufraffte und davon zu stolpern begann nahm er die Verfolgung auf.
    Alriks Flucht war so verzweifelt wie kurz: als er den Mann näherkommen spürte, wandte sich von dem Wildpfad ab, den er hergekommen war und krabbelte eine leichte Anhöhe herauf.. nur um auf der anderen Seite ins Straucheln zu kommen und einige Schritte tief hinab zu purzeln. Unten aufgeschlagen fand Alrik seine Orientierung erst nicht wieder... da waren nur Schnee, Dreck, Bäume und seine Gliedmaßen... und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Als er sich wieder soweit sortiert hatte, dass er aufstehen konnte empfing ihn eine Ohrfeige aus dem Nichts die ihn sofort zurück in den Schnee beförderte. Mit einem lauten Knirschen und einem Feuerwerk vor seinen Augen brach Alriks Kiefer, doch sein Häscher ließ ihm keine Ruhe. Ein Tritt in die Magengrube ließ ihn jaut aufjaulen und sich schließlich vor die Füße des Mannes erbrechen, der erbarmungslos gleich noch einmal zutrat. Und noch einmal... und noch einmal... Alrik vermochte nicht mehr zu tun als sich im Schnee zusammenzukrümmen und die Litanei an Schlägen und Tritten auf sich niedergehen zu lassen. In den Liedern die zuhause gesungen wurden, durchlebten die Helden vor dem Tod immer Momente der Klarheit, in denen sie noch einmal durchlebten was sie in ihrem Leben geleistet hatte.. und was noch fehlte. Alrik allerdings durchlebte garkeinen solchen Moment.. er litt einfach nur still wimmernd und jaulend unter den Schlägen seines Häschers, bis dieser ihm grob in die Haare griff und ihn die Höhe zerrte.
    Der Sohn Leifs war so geschunden, dass es ihn keine Sekunde auf den Beinen hielt und er sofort wieder nach hinten kippte, wo er an einem Baum nach unten rutschte. Wo vorher noch Schmerz gewesen war, war jetzt nurnoch ein taubes Nichts, als hätte der Mann jegliches Gefühl aus dem Jungen herausgeprügelt. Schon fast müde vom Leiden wandte Alrik den Blick schwach nach oben, wo sein Peiniger über ihm thronte wie Thor über den Sjorden, und ihn mit einem Blick musterte der wenig mehr ausdrückte als kalte Wut. Alriks blutende Lippen bewegten sich, doch kein Laut wollte ihnen entweichen, und so blieb die Frage nach dem Warum unbeantwortet, als der Mann seinen Speer in beide Hände nahm und ihn auf der Brust des Jungen ansetzte. Und da war er auf einmal, der Moment der Klarheit: der Mann hob die Hände mit dem Speer hinter den Kopf, und als er nach unten schnellte ruckte Alriks schwacher Körper in einer letzten Aufbäumung des Lebenswillen zur Seite.


    Der Speer verfehlte ihn nicht, sondern drang mit einer Leichtigkeit in Alriks Körper ein, die ihn verblüffen würde... würde seine linke Seite nicht vor grellem Schmerz explodieren. Die Wucht des Stoßes war so groß, dass Alrik nahezu aufgespießt wurde: die Spitze durchschlug ihn mit Leichtigkeit, drang hinten aus ihm heraus und pfählte den Jungen quasi an den Grund. Als der Schmerz über ihn hinwegwusch und der Schock dessen Platz einnahm blickte Alrik fassungslos auf das lange Stück Holz, dass dort aus seinem Körper raste wo Bauch und Brust sich vereinten.. dann wanderte sein Blick zu dem Mann, der ihn schon fast belustigt abwartend anzublicken schien, wohl darauf wartend, dass der Junge starb. Aber Alrik starb nicht. Fast automatisch griff er an den Speer, reflexartig darauf bedacht seinen Körper von diesem Ding zu befreien, doch er war so stark an den Grund geheftet, dass der Speer nicht einmal wackelte. Nach wenigen Momenten des Verharrens schien der Mann die Geduld zu verlieren, doch gerade als er zum Speer greifen wollte ruckte sein Kopf zur Seite.. und dann geschah alles ganz langsam: Schrecken breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus, ein Schrei entwich dessen Kehle und aus dem Nichts stürzte sich ein graues Schemen auf den Mann. In einem Wirbel aus Schnee und Dreck vereinten sich Mann und Monster und fielen nahe Alrik auf den Grund um sich einige Sekunden lang wild miteinander zu messen.. doch relativ schnell war klar, dass der ohnehin schon verletzte Mann keine Chance gegen einen ausgewachsenen Wolf haben würde. Im wilden Geifern und Grollen des Tieres mischte sich das Knacken von Knochen, und immer mehr Blut färbte den umgebenden Schnee und Dreck so rot wie den Himmel. Als der Wolf schließlich den Hals erreichte und das Leben des Mannes in einer Fontäne aus Blut aus ihm herausriss ruckte der Blick des Mannes, noch einmal zu Alrik.. und sein vormaliges Opfer sah in seinem Schänder den ersten Lebenswillen eines Menschen in seinen Augen erlöschen.


    Erst Momente später, als der Mann schon lange tot war, ließ der Wolf von seinem Opfer ab und hob die blutverschmierte Fratze und blickte den immernoch mit dem Speer im Leib am Boden liegenden Jungen an. Einen Moment lang blickten Mensch und Tier sich stumm an, und fast war es als würde Alrik Stimmen hören... doch dann, endlich, verengte sich sein Sichtfeld und die lang erwartete Schwärze umfing ihn.


    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm9.staticflickr.com/8232/8501927327_741ba67bb7.jpg

    Schwärze. Tiefe, düstere Schwärze. Nichts anderes würde Alrik heranziehen, um das zu beschreiben was ihm in der Zeit sein Leben war, nachdem er zum ersten Mal wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Und selbst das war weit hergeholt, denn der erste klare Gedanke nach den Geschehnissen im Wald würde Wochen verstreichen gesehen haben... oder eben nicht. Der kindliche Geist, der immernoch seinen Körper bewohnte hatte der Erfahrung nicht genug um das, was ihm widerfahren war und weiterhin widerfuhr von dem trennen zu können was sich in ihm abspielte. Erst war es nur die dumpfe Schwärze gewesen, die ihn umfing und gelegentlich ins Hier-und-Jetzt spuckte, nur um ihn nach einer kurzen Weile wieder herabzuziehen und ihn zu umfangen wie die klebrige Masse stinkenden Pechs, in welcher er ein Tier hatte verenden sehen... welches wusste er nicht mehr. Auch nicht mehr wo. Oder wann. Nur das hilflose Geschrei blieb war ihm in Erinnerung geblieben, und die Panik in den Augen des Wesens das sich mit jedem verzweifelten Versuch der Grube zu entkommen doch nur tiefer in die schwarze Masse trieb. Der einzige Unterschied zwischen ihm und dem Tier war, dass das Tier immer die Welt Midgards vor Augen hatte als es rüberglitt in die Welt Hels... oder wo auch immer Tiere hingingen, wenn sie starben. Für Alrik gab es nur die absolute, bedingungslose Schwärze und das düstere Nichts, in das er ab und an wieder auftauchte... und das er nach einer Weile zu fürchten begann. Es war fast wie ein Traum, nur dass er nicht mehr aufzuwachen schien. Träume mehr, in die er auftauchte wenn er sich der Schwärze zu entziehen versuchte.. und diese ihn eine Zeit lang entließ.
    Einmal, als er der tiefen Düsternis entrann und sich im weißen, eisgekleideten Wald wiederfand, war da nur er... und der Wolf. Doch war er dieses Mal nicht an den Boden geheftet durch den Speer des Fremden, sondern stand dem Tier gegenüber... welches ihn selbst reglos beobachtete. Sie tauschten Blicke, als wäre nicht ganz klar wer jetzt eigentlich in wessen Territorium eingedrungen war, als wäre nicht sicher, wer hier fremd und wer hier heimisch war. Wie er auf die Idee kam mit dem Tier zu sprechen wusste Alrik nicht, aber er tat es. Seine Lippen bewegten sich, Laute entwichen... und doch schien es, als hätte er noch zu lernen wie das eigentlich ging. Sprechen. Der Wolf reagierte, indem er sich eben nicht regte. Die bernsteinfarbenen Augen hielten den Jungen fixiert, selbst wenn dieser sich nicht rührte. Stumm standen sie einander gegenüber, für nur einen Moment und eine Ewigkeit.. Alrik stand stumm da, losgelöst von jeglicher Gefühlsregung, wie ein in Holz geschlagenes Abbild seiner selbst. Wieder versuchte er mit dem Wolf zu sprechen, wieder reagierte das Tier nicht... aber die Welt tat es, indem sie Alrik ein Stück aus seiner Starre ausbrechen ließ und ihm ein Gefühl zurückgab, von dem er nicht wusste, dass er es vorher jemals besessen hatte: Angst.
    Schlich sich die Angst normalerweise aus den Knochen wie die Kälte in sie hineinkroch, erwischte es ihn dieses Mal mit einem Donnerschlag: seine Eingeweide zogen sich zusammen, die Welt bekam eine andere Farbe und alles in ihm was zuvor stumm gewesen schrie auf einmal nach Flucht. Panischer, kopfloser, heilsbringender Flucht. Und doch dauerte es eine halbe Ewigkeit bis sich die Angst so tief in ihn eingegraben hatte, dass seine hölzernen Glieder ihm gehorchten. Ein Schritt zurück war alles um ihn versinken, wieder hinabgleiten zu lassen in die düstere Schwärze die sich zwischen seine Träume reihte und doch so voll war von allem. Gerüche waren da, jeder hatte eine eigene Farbe, einen eigenen Klang, ein eigenes Gefühl. Jede Sinneswahrnehmung schien sich zu verdrehen und mit anderen zusammen zu tun, nur um das auf den Kopf zu stellen was Alrik selbst für die Erinnerung an sein Selbst, an die Welt dieses Selbst gehalten hatte.
    Als die Schwärze ihn erneut ausspuckte war da nur Dunkelheit... aber eine, die sich von der Schwärze so unterschied wie Kälte sich von Wärme. Alles schien richtig... selbst der Schmerz, der in Alrik explodierte sobald er die traumbeseelten Augen öffnete schien richtig zu sein, wie eine Auffrischung seiner Erinnerungen an das vergessene Jetzt. Wo Alrik in den Träumen zuvor nur Wille war, war hier alles Reflex: sein Körper versuchte sich zu krümmen, nur ob des erneut wie eine grelle Flamme auflodernden Schmerzes innezuhalten wie ein geschlagenes Tier: kein Schmerz mehr. Keine Bewegung. Bitte nicht. Bitte lasst das vorübergehen!
    Seine Augen waren verklebt von den Tränen mit denen er keine Erinnerung teilte, seine Lippen hart und spröde, und der Gestank erst. Jede unweigerliche Bewegung war ebenso schmerzhaft wie willkommen... selbst das Beugen seines kleinen Fingers, der über Wolle und Fell kratzte war ein Hochgefühl und erniedrigender Schmerz zugleich. Er war hier. Er war jetzt. Mutter!
    Seine Lippen bewegten sich, er spürte Luft entweichen, doch der Laut der mit ihr floh klang in seinen Ohren wie der Laut eines Kranichs... oder der einer Maus. Und doch änderte sich etwas... Laute drangen an sein Ohr, brüllendes Geraschel, stilles Fallen, und die Düsternis wich für einen Moment einem Schemen, das er mit seinen Augen nicht genau erkennen konnte. Es war die Hoffnung, dass dies Schemen doch das war wonach er sich sehnte, und er wollte Schreien. Ihren Namen. Mutter! Nur bei ihm bleiben... ihn hier halten, nicht zurücksinken lassen in die traumlose Schwärze, wo niemand anderes zu warten schien als Hel persönlich. Mutter, lass mich nicht zurück.
    Irgendjemand sprach, mit einer Stimme die ihm so neu war wie altbekannt, denn immernoch war alles durcheinander. Erkennen, mehr wollte er nicht, einfach nur erkennen, dass sie bei ihm war. Das Schemen wanderte, Klänge schritten durch ihn durch und der kleine Finger suchte nach einem Ausweg aus Wolle und Stoff, aber die Hand wollte nicht folgen. Und schließlich kam sie zu ihm. Die Berührung, wohl auf seiner Stirn, schickte ihn sofort zurück in die Schwärze, die ihn erneut umfing wie die höhnischen Tatzen eines Luchs, der ein Kaninchen nur zur eigenen Freude immer wieder entkommen lässt.
    Als er neben riesigen Menschen auf einem winzigen Pferd ritt, hatte ihn die Schwärze ein weiteres Mal freigegeben. Große Hünen, in Eisen, Gold und Purpur gekleidet mit Gesichtern aus reinem Silber umgaben ihn bei diesem Ritt durch eine Steppe höchsten Grases, wie er sie noch nie gesehen hatte. Die Hufe stießen so stark in den Boden, dass die Welt um Alrik herum zu beben schien. Wohin es ging wusste er nicht, wer sie waren ebenso wenig... und doch kannte er ihre Namen. Sedulus. Subdolus. Lucidus. Agrippa. Meridius. Commodus. Corvus. Maximus. Livianus. Balbus. Crassus. Manus. Anton. Felix. Alles Namen, die immer wieder in Erzählungen seines Vaters aufgetaucht waren, und nun ritt er inmitten dieser Giganten. Es stank nach Pferd, nach Schweiß, Leder... und Metall. Und irgendwie wusste er, dass es in eine Schlacht ging, denn sie ritten immer schneller. Die silbernen Mienen stur nach vorne gerichtet rissen sie Alrik einfach mit sich... riesige Schwerter wurden gezogen, die Welt bebte, und als er schon erwartete, dass sich die Pferde bald überschlagen würden, täten sie noch einen Schritt schneller, krachten sie mit einem Mordsgetöse auf einen unsichtbaren Feind. Pferde schrien, Metall knirschte, die Welt explodierte in einer riesigen Fontäne aus Blut... und die Schwärze hatte ihn zurück.
    Die nächste Episode brachte ihn zurück zum Wolf... allerdings nicht im Wald, sondern in der Hütte seiner Eltern, die so war wie er sie vorgefunden hatte, als er sie verließ um mit seinem Vater in die Schlacht zu ziehen. Der Wolf hing seltsam in der Ecke und starrte ihn aus hohlen Augenhöhlen an. Kein Bernstein, kein durchdringender Blick... nur die düstere Schwärze seiner Augenhöhlen schien ein Loch in Alrik zu starren.
    Und wieder Schwärze und Schmerz. Die Episoden wechselten sich nun schneller ab... mal waren da wieder die gigantischen Römer aus den Erzählungen seines Vaters, abgelöst von geiferndem Schmerz, mal Hel persönlich die mit Tyr um etwas zu würfeln schien... und das Leiden.. dann wieder der Wolf... und immer wieder, in unendlich herbeigesehnten Momenten seine Mutter. Dann wieder Schmerz. Greller, beißender Schmerz der ihn ausfüllte wie kochendes Wasser den Tiegel. Selten sein Vater, drohend über ihm thronend und ihn mit einem Blick der Enttäuschung bedenkend, der wohl selbst Felsen vor Scham hätte im Boden versinken lassen. Auch Lintrad, oder Gundraban. Und dieses Mädchen. Und immer wieder diese vermaledeite Schwärze, das in krassen Kontrast zum Schmerz stand, der ihn immer wieder erwartete wenn ihm etwas widerfuhr, das er bekannt und vertraut glaubte.


    Und dann war sie wieder da. Mutter. Mit sorgenvollem Blick saß sie neben ihm, und hielt seine Hand... von Fell und Wolle befreit. Alrik genoss die Berührung, und klammerte sich an sie... und seine Hand gehorchte sogar. Allein diese eine Berührung ließ ihn vor Wohlgefallen erschauern, das Gefühl festhalten, an das er sich nicht einmal mehr wirklich erinnern konnte. Und doch wieder die Schwärze fürchtend, die ihm diesen Moment nehmen könnte. Und tatsächlich, da war sie wieder, riss ihn hinab zu sich um ihn wieder in der Leere darben zu lassen... doch dieses Mal hatte sie an Macht eingebüßt. Er fiel nicht, sondern er glitt hinab... wie das Tier in der Pechgrube.. und bevor er ganz versank, konnte er seine Mutter noch hören, die ihm versprach, dass er wieder gesund würde. Ganz, ganz sicher... wieder gesund. Irgendwie irritierte Alrik das. Er war doch nicht einmal krank gewesen.


    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm4.staticflickr.com/3269/3050432465_ec39bd43e8.jpg

    Gründlich getäuscht hatte man sich, wenn man dachte eine derartige Verwundung, wie Alrik sie erlitten hatte, überleben zu können ohne gleichsam für ganze Monate ans Bett gefesselt zu sein. Zu diesen Leuten gehörte Alrik dann auch, der immer wieder auf's neue erkennen durfte, dass sein Los noch lange nicht vorbei war, nur weil die Goden ein Wunder erklärt hatten da er das Loch in seinem Bauch tatsächlich überlebte. Nein, er war noch lange nicht aus dem schlimmsten raus. Da der Bauch quasi bei jeder Bewegung des Oberkörpers in Mitleidenschaft gezogen wurde war auch jeder Versuch desselben nichts weiter als das neuerliche Eröffnen von gellendem Schmerz in seiner Körpermitte. Nicht einmal vor Schmerz krümmen konnte er sich, weil das alles nurnoch schlimmer machte... und dann diese Rückenschmerzen, die ihm das Gefühl gaben seine seit Ewigkeiten geradeliegende Rückseite bestünde nurnoch aus ineinandergeflochtenen Schmerz. Kurzum: Man konnte Alrik nicht soviel einflößen wie er in dieser langen Zeit wieder ausheulte. In all dieser Zeit, in der er hilflos niederlag und der Schmerz zu einem gehässigen Compagnon wurde, der jede noch so kleine Regung nutzte um den Jungen immer wieder auf's neue zu strafen, klammerte Alrik sich verzweifelt an die Momente, in denen die Frauen ihres Dorfs sich gegenseitig die Klinke in die Hand drückten und den Jungen von seiner Agonie abzulenken versuchten. Über den Tag hinaus war es meist nur eine an der Zahl, aber je später der Tag wurde, desto größer wurden die Gruppen der Frauen, die neben seinem Lager hockten, Wolle zu Fäden verwoben und dabei das komplette Repertoire an Geschichten und Liedern abarbeiteten, die die freien Völker herzugeben hatten. Natürlich kannte Alrik schon viele davon, allerdings sog er sie dennoch in sich auf wie ein trockener Schwamm. In den stetig wiederkehrenden Unachtsamkeiten, die ihm immer wieder vor Auge führten wie schwer es eigentlich war sich NICHT zu bewegen, blitzte der Schmerz grell auf und schüttelte ihn durch wie ein Sturm das Laub der Bäume... was letztlich die Pein nurnoch verstärkte, und ihn oft genug dankbar in die düstere Umarmung der Ohnmacht stürzen ließ. Wenn er wieder zu sich kam, waren sie immernoch da... Elfridu die Schöne, Gisilberta die Gemeine, Williotrud die Picklige, Salrveig die Dicke, Asbirge die Leise und all die anderen Weiber ihrer Gemeinschaft... und natürlich seine Mutter.
    Mit jedem Tag der verging und an welchem die Frauen bei ihm zusammen saßen, ihr Garn sponnen und die Geschichten weitererzählten die wohl viel älter waren als sie selbst und dem Jungen ein Reich sponnen indem der Schmerz zumindest zeitweilig nicht mehr drohte. Hünen verwüsteten ganze Wälder, Zwerge bildeten ganze Königreiche unter der Erde, Helden obsiegten und starben (immer!), und Frauen... hatten letztlich wohl noch ambivalentere Rollen als die Männer. So zum Beispiel Gudrun, Tochter des Giuki, die mit Feuer und Schwert den Tod ihrer Sippe rächte und gleichsam ein ganzes Königreich in Schutt in Asche legte. Natürlich nicht, ohne am Ende selbst das Zeitliche zu segnen:


    Mit dem Dolch gab sie Blut den Decken zu trinken
    Mit mordlustger Hand; sie löste die Hunde;
    Vor die Saalthür warf sie, das Gesinde weckend,
    Die brennende Brandfackel die Brüder zu rächen.


    Alles Volk in der Veste dem Feuer gab sie,
    Die Högnis Schlächter und Gunnars aus dem Schwarzwald kehrten.
    Die alten Säle sanken, die Schatzkammern rauchten,
    Der Budlungen Bau; da brannten die Schildmägde
    Um die Jugend betrogen jäh in heißer Glut.


    Nicht ferner verfolg ichs; keine Frau wird nun
    Die Brünne mehr tragen und die Brüder rächen.
    Volkskönge drei hat die edle Frau
    In den Tod gesandt eh sie selber erlag.


    Je mehr Helden beiderlei Geschlechts starben, desto lebendiger fühlte Alrik sich. Auch wenn der Schmerz sich penetrant und beharrlich zeigte: nach einem Mondwechsel ging es ihm merklich besser, und so schien es fast, als würden die Weiber ihrer Gemeinschaft mit jedem wollenen Faden, den sie während der Erzählungen sponnen, den Nornen gleich den Lebensfaden des Jungen fortspinnen. Irgendwann konnte er sich, ächzend und vor Schmerz kaum die Luft haltend, aufraffen um zumindest den Wunden Rücken zu entlasten und ENDLICH das nach allem möglichen stinkende Bettlager wechseln zu lassen, und doch war er noch nicht so weit die ersten Schritte aus der Hütte heraus zu tun. So blieb ihm noch ein ganzer Wechsel, in der er das Bett hüten musste und die Anwesenheit der Weiber genoss... ihr Geschnatter miterlebte, ebenso wie die tieferen und ernsteren Gespräche, die er vorher nie mitbekommen hatte. Als Kind, natürlich, immerhin blieb man selbst in ernsten Zeiten wie diesen mindestens bis zum siebten Lebensjahr in der Obhut der Weiber, doch nun mit beinahe elf Wintern hatte Alrik das Gefühl mit vollkommen neuem Geist das mitzubekommen, was die Frauen bewegte. Vieles davon verstand er nicht (Mondblut, Bauchkrämpfe, dies und das...), und anderes interessierte ihn nicht (halte den Faden so, und nicht so, und dann die Nadel hierhin), und bei anderen Dingen musste er sich die Ohren zuhalten, weil ihn bei aller kindlichen Neugier nicht interessierte wie nun Brunnar in der Hose gebaut war, aber doch klammerte er sich an die Weiber mit ihrer Anwesenheit... und dies vielleicht vor allem deshalb, weil die Besuche der Männer meist nur aus den jüngeren bestanden... selten aber aus den Älteren, zu welchen er aufzuschauen pflegte. Sein Vater hatte sich, seitdem man ihm mitgeteilt hatte, dass er die schlimme Verwundung überleben würde, nicht ein einziges Mal sehen lassen. Alrik tat so, als würde er das nicht mitbekommen... aber jedes Mal wenn die Tür knirschend aufflog und schwerere Schritte zu hören war raffte er sich aller Schmerzen zum Trotz auf, um dem männlichen Besuch entgegenzublicken... und mit enttäuschtem Gesichtsausdruck zurück zu sinken, wenn es dann doch wieder nicht sein Vater gewesen war.


    Als er anfing zu quengeln, wann er denn endlich wieder aufstehen dürfte um draußen herumzulaufen (die Schmerzen waren nach monatelangem Kampf endlich soweit gewichen, als dass er sich mit zusammengebissenen Zähnen in der Hütte bewegen konnte) und endlich wieder mit den anderen zusammen zu sein, nahmen die Besuche der Heilkundigen aus dem Nachbardorf zu, denn sie schien die einzige zu sein, die ihm wirklich begrifflich machen konnte, dass es noch nicht wieder an der Zeit war draußen herumzutoben.
    So blieb ihm nichts anderes, als weiterhin die Frauen mit Fragen zu beharken (immerhin tat dies mittlerweile nicht mehr weh), was diese mit nahezu stoischer Geduld über sich ergehen ließen. Und irgendwann begann er einfach selbst Geschichten zu erfinden, aus dem kindlichen Glauben heraus sich irgendwie bei den Frauen revanchieren zu müssen. Meist ging es dabei nur um eine mit Fantasie aufgepeppte Realität, aber was blieb ihm auch anderes übrig, war er doch in diese Hütte eingesperrt wie ein Tier in seine Höhle, dessen Eingang durch die Anweisungen der Heilerin versperrt worden war?
    "...und so heftete Siguolwin, der Riese, den tapferen Aik mit seinem zehn Fuß langen Speer an den sagenumwobenen Berg Rusendal..", erzählte Alrik dabei mit stets weit übertriebener Betonung den amüsierten Frauen, "..doch Aik starb nicht, nein, Wodan selbst hatte den Nornen einen Silberfaden gegeben, welcher nun das Leben des Helden hielt! So hielt er aus, mit dem Speer an den Fels gefesselt, und wartete doch auf den tötlichen Schlag des Riesen! Und just in dem Moment, indem der Riese den Helden mit seinem Sax in zwei Teile schlagen wollte erschien Wanris, der Bergwolf und treue Freund des Aik, und er ZERFETZTE DEN RIESEN IN DER LUFT!!! Was lacht ihr denn so? Das ist wirklich passiert! Ganz ehrlich... und Wanris sah so aus wie dieses Fell da...", deutete Alrik mit größtmöglicher Empörung auf das Wolfsfell, das ihn seit Monaten von der anderen Seite der Hütte anstarrte, "...genau so. Nur ZEHNMAL größer. Oder gar achtmal! Jaha!"
    Das Lachen der Frauen erstarb nach und nach, als sie dem Deuten des Jungen mit ihren Blicken folgten und das Wolfsfell erblickten, und eine nach der anderen schauten sie betreten auf ihr Spinnwerk... was Alrik, so kindlich sein Geist noch war, dennoch misstrauisch machte: "Was habt ihr denn?"
    "Das da...", sprach Gisilberta die Gemeine, die schon in den Wochen zuvor kaum eine Gelegenheit ausgelassen hatte Alriks wachsender Unruhe Dämpfer zu versetzen und immer wieder gemeine Sachen sagte (weshalb sie logischerweise diesen Beinamen bekommen hatte), "...ist dein Wanris."


    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm5.staticflickr.com/4041/4328949358_9f1d4a3ccb.jpg

    Hatte Alrik die Wochen und gar Monate der Schmerzen, die ihm seine persönliche erste Niederlage im Kampf beigebracht hatte, als die Hölle seines bisherigen Lebens verbucht, so brachte er nicht lange, um diese Auffassung deutlich nach hinten zu korrigieren.
    Zuerst war da der Tod seines offenkundigen Lebensretters, des Wolfs, den er Wanris getauft hatte. Er hatte nicht lange gebraucht zum heraus zu finden, dass es niemand anderes gewesen als sein eigener Vater, der beim Anblick seines aufgespießten Sohns den Wolf nicht einfach nur vertrieben hatte, sondern ihn gleich ins Jenseits der Wölfe schickte. Es war auch nicht Leif, Sohn des Landogar gewesen, der Alrik aus seiner in jeglicher Hinsicht ohnmächtigen Lage befreit hatte, sondern Tuoswyn, der dann auch gleich mal eben feststellte, dass der Junge eben noch nicht in Valhalla war, sondern noch am Silberfaden hing. Das wunderte Alrik dann auch kein Stück mehr... aber dass Leif dann auch noch die Unverfrorenheit hatte, das Tier umzubringen, das offensichtlich den Typen umgebracht hatte, der seinem eigenen Sohn nach dem Leben trachtete.. nein, das wollte Alrik nicht in den Kopf.
    So war er auch mit der rechtschaffenen Wut des in jeder Hinsicht Enttäuschten zu seinem Vater marschiert, und hatte ihm vor den Augen aller anderen eine riesige Szene gemacht... wohl die größte seines Lebens. Was hatte er ihm nicht alles vorgeworfen? Allein gelassen war er da im Wald.. der Wolf der einzige, der ihm geholfen hätte.. sein Vater, der es nicht vermocht hatte seinen eigenen Sohn zu schützen.. und dann der Mord an seinem Lebensretter durch jenen, der dieser eben nicht war.
    Gift und Galle hatte Alrik mit seiner krächzigen Stimme gespuckt, und seinen Vater mit den schlimmsten Beschuldigungen eingedeckt, die sein kindlicher Geist aus dem rumorenden Loch der Enttäuschung herauszuholen wusste, und irgendwie fühlte er sich gut dabei... erleichtert. Und doch begann er zu weinen.. mit jeder Anschuldigung, jedem Vorwurf und jedem Fluch den er in das weiterhin ausdruckslos anstarrende Gesicht seines Vaters spuckte verquoll sein Blick mehr und mehr, bis er schließlich aus dem Schleier an Tränen kaum mehr erkennen konnte als das Schemen welches das Ziel seiner tiefen Enttäuschung war.
    Und so wie die Tränen ihm die Ernsthaftigkeit des Aufbegehrens gegen den Vater raubten, so raubten sie ihm auch die Möglichkeit der Reaktion des Älteren auszuweichen. Es war kein Wort, das ihn traf... so wie sein Vater (der laut Bekundung der Mutter in einem früheren Leben nicht auf den Mund gefallen war) selten mehr Worte als nötig gegenüber seinem Nachwuchs verlor, so ließ er auch jetzt Taten denn Worte sprechen.
    Es war die flache Rückhand, die Alrik so heftig im Gesicht traf, dass er zurückflog und für einen Moment die Besinnung verlor. Er hätte ja damit rechnen können, immerhin war es nicht das erste Mal, dass er geschlagen wurde.. und doch war es vor allem Fassungslosigkeit, die aus seinem Blick sprach als er denselben wieder zu seinem Vater heben konnte. War er zuvor noch unbekümmert in die eigenen Tränen hineingestolpert, die ja vor allem der Wut entsprangen waren, also rechte Tränen, und nun bebten seine Lippen weil er eben in diesem Moment nicht weinen konnte.. weinen durfte, wie ein unbilliges Mädchen dem man eine Maulschelle verpasst hatte. Zu dem salzigen Schmack seiner Tränen mischte sich auch der metallene des eigenen Blutes, und die Erkenntnis, dass er sich im Sturz auf die eigene Zunge gebissen hatte fachte nur den Trotz an, den er gegenüber seinem Vater empfand. Und doch war das hier mehr als der simple Trotz, den er schon das eine oder andere Mal gezeigt hatte wenn sein Vater sich wieder in Ignoranz gegenüber seinem eigenen Spross bewies. Das hier war... schlimmer. Der Blick der Enttäuschung, den sein Vater ihm zuwarf vermochte nicht mehr das zu treffen was er schon etliche Male zuvor erreicht hatte, und der Scham, die sich schon fast gewohnheitsmäßig in einer solchen Situation in ihm breitmachte.. und ihn ebenso gewöhnlich den Blick senken ließ. Nein, dieses Mal hielt er dem Blick des Vaters stand.. auch wenn er sich dabei vor Angst beinahe in die Hosen machte. Dass der eine oder andere Anwesende hörbar die Luft zwischen den Zähnen einsog bekam er dabei nicht mit, denn seine Welt bestand nur aus dem enttäuschten Blick seines Vaters und seiner eigenen gerechten Wut gegen diesen.
    Dieses Schauspiel schien sich noch eine halbe Ewigkeit hinzuziehen, bis Alrik aus den in seiner Gefühlswelt willkürlich vorbeisausenden Fetzen an Mut genug zusammen hatte, um sich von seinem Hosenboden wieder emporzuheben und den Vater nun aus einer nicht mehr ganz so großen Entfernung trotzig anzustarren. Dummerweise hatte der Mut nicht dafür gereicht nicht auch noch zusammen zu zucken, als die zweite Ohrfeige sich klar ankündigte, doch selbst das Zucken hatte nicht gereicht um ihm vor dem zu schützen, was noch kam. Es klatschte nicht nur laut, das Gesicht des Jungen explodierte förmlich vor Schmerz. Hatte er sich vorher noch zum Ziel gesetzt nicht zusammen zu zucken oder sich zu Boden schleudern zu lassen, war dies jetzt wohl ein Versagen auf ganzer Länge: seine Beine klappten unter ihm zusammen und er landete mit dem Gesicht voran im Morast. Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, war es das Lachen der anderen, das ihm den Rest gab.. und ihm noch im Schlamm die verhasste Scham emporkriechen ließ. Zu all den Szenarien, in denen er sich todesmutig gegen den Übermächtigen Vater wehren wollte, gesellte sich dummerweise die Angst vor einer noch umfassenderen Demütigung, als sie ohnehin schon eingetreten war.. und dass Leif zu dieser imstande war, war kaum anzuzweifeln. Was also blieb? Nicht viel in dem noch alles andere als männlichen Geiste Alriks, und so ließ er den Brocken Schlamm, der sich in seiner Faust gesammelt hatte wieder fallen, wandte sich mit dreckverschmierten Gesicht zu seinem Vater um und spuckte ihm mit einer Mischung aus Dreck, Blut und Speichel einen letzten Fluch ins Gesicht um sich vor der drohenden dritten Maulschelle per Flucht in Sicherheit zu bringen.
    Das Ende war eindringlicher denn je... eine stundenlange Gefühlsodyssee durch den nahen Wald bis ihm die noch nicht zur Gänze verwundete Seite schmerzte und sein Kopf keine Tränen mehr hergeben wollte.. die Rückkehr ins Dorf wurde dann durch das stetig wachsende Gefühl der Scham bis über den Sonnenuntergang hinausgezögert.. und als er dann endlich wieder an der Pallisade ankam, war das, was ihn erwartete nichts anderes als ein Haufen weiterer Vorwürfe.. garniert von einer abschließenden Ohrfeige seiner Mutter, die all das verbalisierte, was sein Vater ihm zuvor an den Kopf geworfen hatte.


    War der persönliche Tiefpunkt nach seiner Verwundung und wundersamen Genesung bereits erreicht, kam danach alles noch viel, viel schlimmer.
    Erst die Auseinandersetzung mit seinem Vater, dann die Erkenntnis, dass der Mann, der ihn hatte umbringen wollen es auch explizit auf ihn abgesehen hatte, gar zu einem eigentlich befreundeten Stamm gehörte hatte (weil er offensichtlich bestochen worden war, was Alrik sich von Lintrad dreimal erklären lassen musste, bevor er es wirklich verstand).. und dann eines Tages, mitten in Winter die Bekanntgabe seines Vaters, dass er mit Alrik zusammen zur Ortruna wollte. Allein die Bekanntgabe ließ jedes Gespräch in der großen Morgenrunde ersterben, Alrik blieb glatt ein Bissen im Halse stecken und sein Eheweib brach in Tränen aus. Betretene Blicke allerortens, und selbst seine Mutter (die doch bescheid gewusst haben musste!) war sichtlich um Fassung bemüht. Dass Heriman einen deutlich unangetanen Eindruck vermittelte wunderte Alrik dagegen garnicht mehr. Dass kein Widerspruch kundgetan wurde deutete einerseits auf den Stand seines Vaters in ihrer Gemeinschaft hin, andererseits darauf, dass Alrik wohl wahrhaftig der letzte war, den man (im genauen: sein Vater) über diese Unternehmung aufzuklären dachte. Doch der Zorn, der sich seit einiger Zeit immer selbstverständlicher einstellte wenn es um Auseinandersetzungen mit seinem Vater ging, hatte gegen die schon jetzt aufkeimende Angst nicht den Hauch einer Chance. Die einzige Frage, die sich wirklich hätte stellen können war die, warum es zu Ortruna ging, und nicht zu Runhild, der man noch größere Macht zusprach. Die Fahrt zu einer Seherin war ohnehin schon immer ein riskantes Unternehmen, doch zu DIESER Seherin war es quasi ein Helfahrtskommando. Allerdings musste man für die Antwort nicht lange nachdenken, schließlich munkelte man, dass Leif mit der Seherin verwandt war (was irgendwo seltsam war, immerhin schienen Seherinnen immer ohne Sippenbande zu sein).. und Leif tat sein möglichstes, um diese Gerüchte nicht zu bekräftigen. Dass er Runhild mied war hingegen kein Wunder, immer mied jeder mit gesundem Menschenverstand die Seherinnen. Und Ortruna war.. nun, nicht unbedingt die begabteste (das hatte Runhild gepachtet), aber zumindest eine der fähigsten Seherinnen mit direktem Draht nach Asgard. Das Problem an Ortruna war, dass sie ihre Behausung mitten im Land der Hermundures hatte.. an einem der unwirtlichsten Orte, die Midgard aufzuweisen hatte. Wenn man alle Gerüchte um Ortruna zusammenfasste, ließ es so so zusammenfassen: eine Fahrt dorthin war eine Helfahrt, nichts anderes. Diejenigen, die nicht schon auf dem Weg dran glaubten würden dort ebenso nichts anderes als den Tod vorfinden, und die wenigen die von dort zurückkamen hatten meist nicht weniger aufzubieten als Schauergeschichten die selbst gestandene Krieger vor Angst verstummen ließen. Und dahin wollte sein Vater ihn nun schleppen. Das war definitiv eine Nummer zu groß für Alriks rebellischen Geist, und eine Nummer zu groß um dagegen protestieren zu können.
    So trat dann auch der Tag ein, an dem sie dick in Pelze und Felle gepackt aufbrachen, jeder mit einem Mindestsatz an Ausrüstung, das meiste davon Gerät zum Jagen oder Fischen. Schon zu Beginn der Reise konnte sein Vater es sich offensichtlich nicht verkneifen Alrik metaphorisch in die Magengrube zu treten, indem er ihm einen Speer in die Hand drückte der ihm seltsam bekannt vorkam. Er brauchte nicht lange um zu realisieren, dass das der Speer war der ihm beinahe das Leben gekostet hatte, doch sein Vater hatte sich schon zur Verabschiedung seiner Mutter zugewandt um empfänglich für giftige Frotzeleien Alriks zu sein. Seine eigene Verabschiedung von seiner Mutter war herzlich, aber irgendwo unangenehm (weil Alrun nicht verhehlen konnte, dass sie das hier Tatsache für einen Abschied auf ewig hielt), und die von seinem Weib auch alles andere als erbaulich (weil die mittlerweile ganz froh zu sein schien, dass er fortging). Als sie dann in den Schnee losstapften und nicht zurückblickten (Schwäche!) war Alrik, als würde er sein bisheriges Leben hinter sich lassen... und das war noch nicht allzu lang. Früher hätte er das alles für ein fürchterlich aufregendes Abenteuer gehalten, doch mittlerweile, nach dem Tanz auf dem Silberfaden, drängten sich die Gefahren viel unmittelbarer in die eigene Aufmerksamkeit. So waren die sechs Tage, die sie sich von Gehöft zu Gehöft arbeiteten und das Gastrecht der dortigen sippen in Anspruch nehmen konnten schneller um als ihnen lieb war, und der unwirtliche Part ihrer Reise begann. Schnell fielen sie in den Trott des Überlebenskampfs zurück, der noch vor wenig mehr als einem Jahr ihren Alltag bestimmt hatte. Das Trockenfleisch war ebenso rationiert wie die wenigen Früchte, die sie mit sich genommen hatten, und doch war klar, dass sie tagtäglich jagen mussten. Der Ärger über seinen Vater war ebenso schnell gefroren wie sein Atem, der sich bei jedem Schritt dampfend durch das dünne Tuch vor Mund und Nase abzeichnete und dünne Eiskristalle auf diesem bildete, und so verschwand sein Groll auch am achten Tage, als er wieder durch väterliche Autorität angehalten wurde die dicke Eisschicht auf einem zugefrorenen Bach aufzuhacken um darunter nach mageren Fischen zu angeln. Als der vierte Schneesturm über sie hinwegfegte und Alrik sich morgens aus einer dünnen Schneedecke ackern durfte waren auch die letzten kritischen Gedanken verschwunden... und dabei stand der schwerste Teil ihrer Reise noch aus. Am zehnten Tag knurrte sein Bauch so laut, dass er das Gefühl hatte er müsse jeden Moment hungriges Getier angelockt haben... wobei ihm wieder der Wolf einfiel... Wanris. Auf die halbverstummte Frage, warum er denn seinen Lebensretter umgebracht hätte bekam er, natürlich, keine Antwort, was den gefrorenen Klumpen an Trotz und Wut wieder zu etwas regerem Leben animierte. Und doch kam er nicht gegen den allgegenwärtigen Frost an, der sie im Winter Midgards umfing, der sie jeden Abend um ein lächerlich kleines Feuer kauern und jeden Schritt zunehmend schwerer werden ließ. Die Felle, in die sie gepackt waren hielten die Kälte nicht draußen, oder gar die Wärme drinnen... sie ließen den Winter nur weniger kalt erscheinen als er in Wirklichkeit war. Dass sie sich auch noch abseits der bekannten Pfade bewegten, um anderen Menschen mit potentiell unbequemen Fragen und Gesinnungen auszuweichen, verlangsamte ihre Reise um ein weiteres... Alrik kannte die Gegend nicht, die sich mit schneeverkrusteten Bäumen und eisglitzernden Felsen um sie herum in immer höher werdenden Hügeln auftürmte, doch für ihn war es keine Frage, dass sie im Sommer weniger als die Hälfte der Zeit benötigt hätten.
    Als sie schließlich die ersten Felsen mit primitivem Werkzeug zu bezwingen hatten und sich für den Fall eines Sturzes mit Seilen aneinander banden konnte Alrik es sich dann doch nicht verkneifen seinem Vater einen bissigen Satz zu verpassen, indem er ihn darauf hinwies, dass er seinen Tod auch einfacher hätte haben können. Jeden Tag erreichte Alrik neue persönliche Höhenrekorde, so hohe Berge und Hügel hatte er noch nie gesehen. Dem fünften Schneesturm waren sie an einer fast senkrechten Wand aus Dreck, Bäumen und Steinen so hilflos ausgesetzt, dass Alrik seinem Vater so nahe kam wie noch nie. Eng aneinandergekauert harrten Sie des Endes (welchen auch immer), den Geruch des Schnees ebenso in den Nasen wie das der verschiedenen Tiere, das ihnen nach ihrem Ableben zu ihrem Überleben verhelfen sollte. Auch wenn er seinen Vater für diese Wahnsinnsreise hasste: dieser eine Momente, in der ihn sein Vater an sich klammerte als gäbe es kein Morgen mehr, gab ihm doch mehr als er sich je hätte von ihm wünschen können. Der Schneesturm hatte nach wenigen Stunden das Nachsehen mit den Menschen und Thor entlohnte sie dafür mit einer atemberaubenden Aussicht über eine gigantisch ausladende Hügellandschaft aus Schnee und Eis. So und nicht anders musste Nifelheim aussehen, die Heimstatt der Eisriesen. Als sie den Aufstieg auf den Berg hinter sich gebracht hatten, durften sie sich gleich darauf eine ganze Nacht lang vor Männern verstecken die einen seltsamen Dialekt sprachen.. und wohl einen deutlich einfacheren Weg den Berg hinauf gewählt hatten, aber offensichtlich auf der Suche nach ihnen waren, soviel hatte selbst Alrik aus den belauschten Gesprächen gehört. Und wieder war es einer dieser Momente, in denen ihr Überleben am silbernen Faden hing, in denen sich Vater und Sohn so nahe kamen wie Alrik es aus seinem ganzen Leben noch nicht kannte.. und sie doch liebte. Mit Schnee und Eis bedeckt lagen sie in der Nähe der Lagerstätte der vier Männer und lauschten.. auch weil das Feuer der Männer mögliche Raubtiere abschreckte und sie ohne diesen Schutz (der sie zweifelsohne verraten hätte) eben diesen zum Opfer gefallen wären. Es war eine erst erschreckende Erkenntnis, dass diese Männer (laut Bekundung seines Vaters ihre ehrlosen Todfeinde) viele Lieder sangen die auch Alrik schon oft an der abendlichen Lagerstatt zitiert hatte (um die erdrückende Stille zwischen ihm und seinem Vater zu überbrücken), und sich auf diesselbe zotige Art unterhielten wie Baldogast und Sigwin es gerne taten. Die Sorgen austauschten über dieses und jenes schwangere Weib, ob Frigg ihr hold wäre und sie durch die Geburt kommen ließ.. oder eben diese und jene endlich mal die Schenkel für ihn breitmachen würde.
    Alles was sein Vater am kommenden Tag aus dieser Erkenntnis machte, war, dass sie weiterhin den festen Wegen fernzubleiben hätten und sie offensichtlich schon vor Tagen entdeckt worden waren (freilich Alriks Schuld). Alrik machte das nichts aus, irgendwie sehnte er bei aller Kaltschnäuzigkeit seines Vaters den nächsten Schneesturm herbei. Dass ihre herumkraxeln zwischen den Felsen und Bäumen, oft genug auf allen Vieren, ihr Fortkommen nur noch mehr verzögerte war für ihn dabei halb so schlimm. Auch wenn es ihm so garnicht in den Kram passen wollte.. die Zweisamkeit mit seinem Vater hatte doch seinen Reiz für ihn, wenn sie sich des nächtens am Feuer zusammenkauerten und wortlos in den Schlaf dämmerten. Dass sich die Angst vor Entdeckung durch sowohl Tier als auch Mensch nie ganz abstreifen ließ, machte die Momente der Zweisamkeit für Alrik nur umso kostbarer.. selbst wenn sein Vater sich immernoch nicht überwinden konnte mit dem Sohn mehr als ein nötiges Wort zu reden.
    So war es schon fast Enttäuschung, die Alrik verspürte als sie wieder einmal auf der Kuppe eines hohen Hügels angelangt waren und sein Vater schwer schnaufend gen Südosten zeigte, wo sich in zwei bis drei Tagen Entfernung ein einsamer Berg von den umliegenden Hügeln abzuheben schien. Dass es ihr eigentliches Ziel war, war für Alrik nach all den Sagen und Gerüchten um die alte Ortruna unmissverständlich: von dem Grün-Grau-Weiß der umliegenden Hügel hob sich der Berg in einem toten Braun-Grau ab. Keine Frage, sie waren so gut wie da. Und was Alrik der stete Tanz mit dem Tod in ihrer winterlichen Wanderung nicht vermochte hatte, die stete Sorge vor Entdeckung durch ihre Häscher oder den Riss durch Bären, Luchse und Wölfe, brachte der alleine Anblick des toten Bergs mit sich: die Angst vor dem, was da vor ihnen lag. Worauf sie sich die letzten Tage hingearbeitet und -gequält hatten. Das, weshalb sie sich überhaupt diesen Gefahren ausgesetzt hatten. Die Seherin.


    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm4.staticflickr.com/3541/3347881471_1c7ee904d7.jpg

    Es waren letztlich noch vier Tage, in welchen sie durch den Schnee stapften und sich langsam auf den unheimlichen Berg zukämpften. Die Anstrengung dieser letzten Etappe hielt Alrik davon ab sich zuviele Gedanken um das zu machen, was ihnen da bevorstand, doch die Tatsache, dass sie sich in diesen vier Tagen nicht mehr verstecken mussten weil sie keiner Menschenseele und damit auch nicht ihren Häschern über den Weg liefen war kaum zu übersehen.
    Richtig unheimlich wurde es allerdings ganz am Schluss, als schon am Fuße des Berges keine Tiere mehr zu beobachten waren... und selbst der Wind eine ganze Spur leiser zu pfeifen schien. Das war so in etwa der Moment, in dem Alrik's Kopfkino, angefeuert durch die Erinnerung an die Erzählungen zuhause, anfing sich von der Realität zu lösen und ihm Spukbilder vorzugaukeln. Schon der erste tote Baum, der sich ihnen zeigte besaß für Alrik nicht weniger als tiefes Unheil. Mit jedem Schritt, den sie weiter auf den Berg hinaufschritten verließ das Leben die Gegend, und als sie den letzten verkrüppelten Nadelbaum mit etwas Grün erreichten, versagten Alriks Beine zum ersten Mal ihren Dienst. Es war nicht die Kälte, die ihn niedersinken ließ, und auch nicht die Strapazen der vergangenen Wochen.. es war einfach die schiere Angst, die sich Alrik hier zum ersten Mal in vollem Umfang bemächtigte, und ihn wimmernd das aussprechen ließ was er eigentlich schon lange hätte sagen wollen: "Vater... ich hab Angst... bitte, lass uns umkehren." Der Blick, den er dafür von seinem Vater erntete sprach Bände, doch glaubte Alrik auch eine Spur dessen zu entdecken, was selbst in ihm vorging. Es war dann auch keine Antwort, die ihn erwartete, sein Vater machte einfach kehrt und zerrte den Sohn zurück auf die Beine und schubste ihn ein Stück voran um fortan hinter ihm herzugehen... was den Schlussteil ihrer Reise nurnoch schlimmer für Alrik machte. Die Bäume und Felsen der Gegend besaßen menschliche Züge, dessen war Alrik sich sicher, und bestätigten somit die Gerüchte von den verfluchten Bittstellern, welche von der Seherin zur Strafe für ihre Vergehen verwandelt wurden. Schreckliche Züge, erfüllt von den letzten Gefühlen derjenigen, die hier an Ort und Stelle aus ihrem menschlichen Leben schieden und fortan als abgestorbene Geschöpfe ihr Dasein fristen mussten.. sogar von Hel aus ihrem Reich ausgeschlossen. Eine Prognose, die selbst Alrik in seinem noch kindlichen Geiste klar war und keineswegs dazu führte diese Etappe leichter zu bewältigen.
    Der Befangenheit in Angst war es dann auch zu verdanken, dass ihm relativ spät auffiel, dass sie sich keineswegs den Berg hinaufbewegten, sondern etwa auf halber Strecke verharrten und um den Berg herumwanderten bis sie schließlich eine größere Felsformation entdeckten, die einem klaren Geiste wie eine willkürlich zusammengewürfelte und unscheinbare Ansammlung von mehr oder minder großen Felsen erscheinen musste.. für Alrik allerdings nicht weniger darstellte als die aufgehäuften Köpfe von toten Riesen. Dass sein Vater, nach einem Moment des Zögern, genau auf diese unheilvolle Formation zuhielt ließ Alrik erneut in die Knie gehen, was dazu führte dass er noch grober als zuvor von seinem Vater emporgerissen und vorangestoßen wurde. Jede Einbuchtung in den Felsen schien ihm wie die toten Augen der Riesen, die ihn vorwurfsvoll anstarrten und jeden seiner zaghaften Schritte verfolgten.
    Es war der Eingang zu einer Höhle, der sie zwischen den Felsköpfen erwartete, und auch wenn sich sein Magen zu einem festen Klumpen aus Eis und Angst zusammengezogen hatte, ließ ihn die schiere Größe der Höhle in Staunen erstarren. Er hatte ja schon einige gesehen (und in seiner Kindheit schon in einigen gehaust), aber diese hier war einfach gigantisch. Ihr halbes Dorf würde in ihr Platz finden, ohne jeden Zweifel. Das hieß, wäre die Höhle nicht mit Wasser gefüllt. So standen sie hier am Rande eines unterirdischen Sees, der von hunderten Lichtern in unheimliche Farben getaucht wurde. Wo die Lichter herkamen konnte Alrik nicht ausmachen, es war ohne jeden Zweifel Magie am Werk. Es war das Staunen über die Höhle in ihren Farben, die dafür sorgte, dass die Angst in ihm sich zurückzog wie ein lauerndes Tier, durch das Staunen um die sicher geglaubte Beute gebracht und auf den richtigen Moment wartend seine Bahnen ziehend. Das Staunen war es auch, das dafür sorgte, dass Alrik sich überraschend auf einem kleinen Kahn wiederfand, in welchem sein Vater sie beide durch das stille Wasser schob, jedes Eintauchen des Stabs ein gellend lauter Krach in der Höhle die ansonsten nur vom Atem der beiden Menschen und hier und da einem fallenden Tropfen erfüllt war. Je weiter sie sich in der Höhle in den Berg hineinbegaben, desto klarer wurden die Dimensionen derselben. Immer wenn Alrik glaubte, sie wären am Ende angelangt, ging es doch nur um eine Kurve oder durch eine Spalte im Fels, immer tiefer in den Berg hinein.
    Es war einige Zeit danach, als Alrik fast schon geglaubt hatte, sie würden jeden Moment am anderen Ende des Berges hinauskommen, dass die Angst ihren Moment gekommen sah und Alrik ansprang wie ein verhungerndes Tier. Ein Schrei zerriss die Stille der Höhle und es war vorbei mit dem Erstaunen. Mit schreckgeweiteten Augen klammerte sich Alrik an seinen Vater, der dadurch ins Straucheln geriet und fast mit seinem Sohn ins Wasser stürzte, doch konnte er sich noch an dem Stab festhalten und das bedrohlich schwankende Boot wieder stabilisieren. Die Ohrfeige die dann für Alrik kam spürte dieser kaum, denn ein erneuter Schrei gellte durch die Höhle, unbestimmbar in seinem Ursprung. Da sein Vater sich kaum als Stütze eignete kauerte der Junge sich so tief wie irgend möglich in den kleinen Nachen und hielt sich die Ohren zu, doch die Schreie drangen unerbittlich zu ihm durch und ließen den zuvor dem Staunen gewichenen Schrecken mit brennender Eiseskälte in ihm lodern. Die Augen so fest zugepresst, dass sie zu tränen begannen sah er sich hilflos dem Stakkato an Geschrei und Gestöhne ausgesetzt, das unweigerlich von den Geistern der draußen Erstarrten stammen musste. Als der Nachen schließlich mit einem Rumpeln auf Grund stieß, war Alrik es der am lautesten von allen schrie... er schrie seine ganze Angst heraus, die sich in einem nie enden wollenden Kreischen des Jungen entlud und letztlich nur durch eine erneute Ohrfeige seines Vaters unterbrochen wurde.
    Grob in die Höhe gezerrt fand der Junge sich auf festem Grund wieder, doch ging er sofort in die Knie und kauerte sich am Boden zusammen, da die nun übermächtige Angst den Jungen in ihren Klauen hielt wie ein Riese es mit einem Kaninchen tun musste. Sein Vater, aus irgendeinem Grunde nicht zu den ohnehin schon sonst so spärlichen Worten imstande, raffte den Jungen irgendwann einfach in die Höhe und trug ihn weiter in die Höhle hinein. Erst als die Klänge der Gemarterten verklungen waren wagte Alrik es die Hände von den Ohren zu nehmen und die Augen zu öffnen. Dunkelheit umfing ihn nahezu zur Gänze, nur hier und da sorgte ein kleines Licht für genug Sicht um nicht gegen die nächste Wand zu laufen... es roch muffig, nach Moos und verrottendem Holz. Nach wenigen Momenten in dem engen, stark zerklüfteten Gang in welchem es ständig irgendwelche Richtungswechsel gab, mal hoch, mal runterging, erreichten sie eine weitere, weitaus kleinere Höhle, in welcher sein Vater ihn zu Alriks Verdruss wieder absetzte. Als der Junge sich umblickte erkannte er eine ganz einfache Höhle die von einem in der Mitte brennenden Feuer erhellt wurde. Als sie sich dem Feuer näherten konnte Alrik eine Lagerstatt erkennen, dort ein Fass, hier eine kleine Kiste... und weiter hinten glaubte er sogar Hühner gackern zu hören.. es roch auch viel frischer als in dem Gang zuvor. Am Feuer saß eine Gestalt, die vom wechselnden Licht des Feuers undeutlich zu erkennen war, und die sich offensichtlich Zeit damit ließ sie zu bemerken. Alles in allem eine schon fast urtümliche Erscheinung, die Alrik nach dem Schrecken der vergangenen Stunden mit Innigkeit umarmte und sie kaum loslassen wollte, aus Angst es könnte wieder so schreckliche Momente geben, wenngleich er sich weiterhin hinter seinem Vater versteckte.
    "Leif, Sohn des Landogar...", erhob die Gestalt ihre Stimme und erwies sich damit unzweifelhaft als... überraschenderweise ziemlich junge... Frau, "...du hast dir Zeit gelassen auf deinem Weg hierher." Sein Vater murrte nur als Antwort, zog den Sack hervor den er auf ihrer Reise ungeöffnet mit sich herumgeschleppt hatte und warf ihn zur Gestalt neben das Feuer, welche mit zarten Fingern über den groben Stoff strich. Als Alrik den Kopf hervorstreckte um die Seherin, zumindest glaubte er sie wäre es gewesen, zu mustern erkannte er, dass die junge Frau nackt war. Das, was er zuvor für Kleidung gehalten hatte war die offensichtlich bemalte Haut der Frau, was das Weib wieder etwas unheimlicher erscheinen ließ. "Vergiss die Sorgen der deinen, deshalb bist du nicht hergekommen, Leif.", gurrte die junge Frau mit einem Blick auf seinen Vater, den Leif nicht verstand, doch sein Vater nickte nur. Die Frau lachte leise, was sie noch einen ganzen Tacken unheimlicher erscheinen ließ, immerhin hatte grundloses Lachen immer etwas merkwürdiges an sich.
    "Die Antwort auf die deine ist allerdings schwerer als du glauben magst..", fuhr die Seherin fort, "..der Junge ist nicht mein zu deuten. Aber du bist es... Leif... du bist es. Willst du also deine Antwort bekommen, auch wenn ich sie nicht für den Jungen fällen kann?" Alrik verstand, natürlich, kein einziges Wort, aber sein Vater wusste wohl nur zu genau wovon die Frau sprach, denn er nickte mit entschlossenem Gesichtsausdruck und blieb so wortlos wie zuvor. Das Lachen der Frau wurde lauter, und als sie sich erhob wusste Alrik nicht wohin er blicken sollte. Natürlich war sie nackt, aber Alrik hatte vor einigen Monden feststellen dürfen, dass ihn weibliche Nacktheit nicht mehr so kalt ließ wie zuvor. Die Frau war schön, so er das unter der dicken Kruste ihrer Bemalung erkennen konnte, und hatte die zwanzig Sommer sicherlich noch nicht gesehen. Sie griff hinter sich und zog etwas hervor, das Alrik nicht erkennen konnte, doch als sie es ins Feuer warf verwandelte sich die Höhle in ein Inferno. Das Feuer stob gen Höhlendecke, Schatten wuchsen zu Ungeheuern heran und die vorher urige Stille wurde durch die heimkehrenden Unlaute verdrängt. Alrik wich schon fast instinktiv zurück und stolperte am Ende gegen die Höhlenwand. Alles was ihn davon abhielt zu fliehen war der Anblick seines Vaters, der weiterhin an der Feuerstelle war und mit der Seherin seltsame Blicke austauschte. Das was jetzt kam irritierte Vala und nährte seinen neuen Schrecken, als er sah wie die Seherin zu seinem Vater trat und ihn zu sich herabzog. Natürlich hatte er schon Menschen gesehen die sich liebten, immerhin gab es in den Langhäusern ihrer Gemeinschaft keine Privatssphäre, und jedes Kind wusste woher die Kinder kamen, weil man ständig mitbekam wie neue gezeugt wurden. Doch das jetzt hier... das war eine Nummer zu groß für Alrik, und der Akt zwischen seinem Vater und der Seherin war so wild als würden zwei Raubtiere übereinander herfallen. Das weiterhin wütend lodernde Feuer und die tanzenden Schatten bildeten zusammen mit den Unlauten der Verdammten eine Kakophonie des Schreckens, welchem Alrik sich dieses Mal ohne den Rückzugsort seines Vaters ausgesetzt sah, da dieser mittendrin war... je länger das wilde Liebesspiel dauerte, desto stärker schienen sich die Schatten an der Höhlenwand zu verformen, bis Alrik schließlich klare Gestalten zu erkennen glaubte: Fenris, der die Welt verschlang, eine Schlange die diese umschloss, Teiwaz, den blinden Baldur... und immer wieder Fenris, den Wolf. Als dieser schließlich zu gigantischen Ausmaßen heranwuchs wurde das Gebrüll in der Höhle immer lauter, bis Alrik nicht mehr konnte und sich die Hände erneut auf die Ohren presste und die Augen vor dem verschloss was sich im unheilvollen Spektakel abspielte, und doch half es nichts: die Angst in ihm wütete schlimmer als jemals zuvor, und erst als er in ohnmächtig zur Seite kippte kam die lang erhoffte Erlösung für seinen gepeinigten Geist.


    Als Alrik zu sich kam, sah er, dass er am Rand des unterirdischen Sees lag, gleich am Eingang der geköpften Riesen. Es war mucksmäuschenstill, und das stete Geräusch seines Atems wurde nur vom gelegentlich erklingenden Fallen eines Tropfens unterbrochen. Das schummrige Licht war immernoch da, und irgendwie wirkte alles so deplatziert... als wäre das, was er zuvor gesehen hatte nur ein Traum. Als Alrik sich aufrichtete bemerkte er den Nachen, der wenige Schritte von ihm entfernt auf dem Ufer des Sees lag, doch von seinem Vater war keine Spur zu entdecken. "VATER?", rief Alrik in die Höhle hinein, deren Geister sein Wort wieder ausspuckten als wäre es eine verdorbene Mahlzeit: VATER VATER VATER [SIZE=6]VATER[/SIZE]
    Er wartete einige Momente, doch sein Vater zeigte sich nicht, tauchte nicht aus dem Höhleneingang aus, noch plötzlich aus dem Wasser. Alrik rief noch einmal... raffte sich auf, um noch einmal zu rufen, doch niemand als die Geister der Höhle antworteten ihm. Wieder hockte er sich hin, darauf hoffend, dass sein Vater sich zeigte, doch er wurde enttäuscht. Als ihm der Hosenboden weh tat vom sitzen raffte Alrik sich erneut auf, und wurde sich zum ersten Mal dessen gewahr was da neben ihm am Nachen gelegen hatte: seine Ausrüstung, die er von seinem Vater zu Beginn ihrer Reise bekommen hatte, lag dort säuberlich hingelegt mit einem kleinen Stück des Proviants, der ihnen geblieben war.
    Als ihm der fast schon logische Gedanke kam, schrie Alrik noch einmal nach seinem Vater... und noch einmal umso lauter... und noch einmal.... und die Geister der Höhle verhöhnten ihn jedes Mal umso mehr.
    Erst als Alrik den Mut fasste die Höhle zu verlassen wurde die bittere Vermutung zur Gewissheit. Draußen, es schien längst wieder Tag zu sein (war es der gleiche, oder schon der nächste?) schien die Sonne als dumpfweißer Ball hinter verhangenem Himmel auf den toten Berg, und die Spuren im Schnee waren eindeutig. Zwei führten zur Höhle hin... eine von ihr weg.
    Irgendwie wusste Alrik, dass er sich nicht an die Hoffnung klammern konnte, dass sein Vater einfach nur jagen gegangen war, denn bisher hatte er Alrik immer mitgenommen. Die Wahrheit brannte wie bittere Galle in seinem Schlund und mochte nicht ausgesprochen werden, doch konnte er nicht anders: "Ich bin allein."



    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm9.staticflickr.com/8328/8092866778_d59d57d00e.jpg

    Er war sicherlich schon Wochen durch die Gegend geirrt, als der Hunger Alrik zum ersten Mal dazu trieb sich an Aas zu vergreifen.
    Er hatte sich nicht lange damit aufgehalten Ausschau nach seinem Vater zu halten, oder dessen Spur im Schnee nachzuverfolgen, sondern war einfach in die Richtung aufgebrochen die er für diejenige hielt in welcher die Heimat lag. Frischer Schnee war gefallen, was die Suche nach den Spuren seines Vaters ohnehin obsolet gemacht hätte, aber es ging dem Jungen erst einmal nur darum so schnell wie möglich fortzukommen von dem mit unheilvollen und düsteren Erinnerungen gefüllten Berg. Es hatte drei ganze Tage gedauert bis er endlich eine Hügelkuppe überquerte die den Berg auf Dauer aus seinem Sichtfeld ausschloss, und noch einmal vier bis er den braunen, toten Berg auch nichtmehr am Horizont erblicken konnte. Dass er nicht halb so schnell vorankam wie mit seinem Vater war ihm alleine schon dadurch klargeworden... und dass er sich bereits nach drei Tagen im Eis verlaufen hatte wurde klar, als er die nächste Wegmarke einfach nicht finden konnte. Zwei Tage später gingen ihm die Vorräte aus.
    Das stellte per se kein Problem dar, immerhin wurden sie in der Wildnis schon früh darauf abgerichtet zu jagen und sich das anzueignen, was Midgard ihnen zur Verfügung stellte. Aber das hier war Winter und somit die Zeit in der selbst gestandene Jäger jeden Tag auf wortwörtlich Herz und Nieren geprüft wurden. Das ging Alrik auf, als er sich vergebens versuchte mit einem Stein durch die dicke Eisschicht auf einem See zu arbeiten versuchte. An anderer Stelle war ein Durchkommen, allerdings musste er sich derart lange hinhocken und auf einen Fang warten, dass er später nicht umhin kam ein Feuer anzuzünden um sich aufzuwärmen.. auch auf die Gefahr hin, dass er entdeckt wurde. Am nächsten Tag stand Eichhörnchen auf dem Speiseplan.. wobei Alrik sich erst die Zeit ließ, das Vieh zu verfolgen bis es dessen Winterfutter aufgespürt hatte um dann den Lagermeister selbst zu braten. Dann gab es wiederrum nichts... und dann, als ein mickriger Fisch ihn nicht sättigen konnte, fing er an die Rinde von jungen Bäumen zu kauen während er sich dick in Felle und Pelze eingemummt durch das Eis arbeitete. Das Magenknurren wurde bald zu seinem steten Begleiter und es mutete schon fast als Hohn des Schicksals an, dass seine Jagdausbeute jeden Tag geringer wurde. Es war, als hätten die Nornen sich mit den Eisriesen zusammengetan um den Jungen tagein, tagaus zu prüfen. Nicht, dass Alrik Hunger nicht gewohnt war... immerhin hatten sie vor ihrer Einkehr in das Dorf des Herimann nicht selten gehungert und waren oft genug dem Wild hinterhergezogen wie die Vorväter aus den Geschichten der alten Giutendra. Das hier war allerdings etwas anderes.. und Alrik spürte wie ihn jeden Tag ein wenig der Kraft verließ, mit welcher er sich durch den Schnee zu schleppen imstande war. Bald schon zündete er jeden Abend ein Feuer an, einerseits um sich warm zu halten, andererseits weil er den Sorgen und Ängsten seines Vaters auf der Hinreise entsprechend sogar darauf HOFFTE entdeckt zu werden. Aber es kam niemand. Die Stille der winterlichen Nacht war so unheimlich, dass der Junge bald begann sich abends am Feuer selbst Geschichten zu erzählen.. wobei sich eine Melange aus den Erzählungen seiner Eltern aus dem Reich und denen seiner germanischen Heimat ergab, bis Odin sich selbst Europa packte und sie auf Thule absetzte, oder Thor die Titanen erschlug.
    Eines Tages fing er nicht ein mickriges Vieh, und selbst die Wurzeln die er aus dem harten Boden schlug mochten ihn nicht zu sättigen. Sein Bauch hatte schon einige Zeit aufgehört zu knurren und war mehr in ein stumpfes Schweigen verfallen das mehr schmerzte als jeder laute Protest.. und dann stolperte er über das Aas. Eigentlich hatte er es ja eigentlich auf die Krähen abgesehen, die ihn überhaupt erst hergelotst hatten, aber er war nicht schnell genug um sich eine von ihnen zu packen. Seinen Bogen konnte er schon seit Tagen nichtmehr derart spannen, dass der Pfeil weiter flog als dass es einem Tier gefährlich werden konnte. Die Krähen wichen mit ihrem blechernen Gekreisch und bedachten den Jungen aus für ihn unüberbrückbarer Entfernung der kahlen Baumkronen mit ihren Schmähungen.. und der Junge stand ratlos vor einem halb abgenagten Gerippe, das irgendwann mal ein Hase gewesen sein könnte... oder irgendwas anderes in der Art, so genau war das nicht mehr zu erkennen.
    Irgendwann brachte er es einfach über sich, der Hunger siegte über den Verstand, auch wenn er sich zumindest abnötigte zu warten bis er die Reste mit vor Frost tauben Fingern über das Feuer gehalten hatte, dass er sich in einer Windkuhle entzündet hatte. Alle Warnungen seiner Sippe in den Wind schlagend füllte der Junge sich den Bauch mit verdorrtem, halb verbranntem Fleisch... um kaum eine Stunde später mit Magenkrämpfen zusammenzubrechen und mit dem Leid des Unschuldigen alles wieder in den Schnee zu erbrechen. Sein ganzer Körper, so entkräftet und abgemagert er auch sein konnte, wehrte sich hier mit aller Macht gegen etwas, das ihm der Hunger hineingezwungen hatte, und in einer Mischung aus Würgen und heillosem Gewimmer brach der Junge im Schnee zusammen. Das Blut rauschte in seinen Ohren, nein, es brüllte ihn förmlich an und die Welt mischte sich mit einem Stakkato aus allen möglichen Klängen die so auf diese Art und Weise nicht in den Wald gehörten.. mal ganz davon abgesehen, dass diese gerade anfing sich in besorgniserregendem Tempo zu drehen. Als noch Farben hinzukamen, die er schon fast schmecken konnte (eine gelungene Abwechslung zur bitteren Galle, die ihm immernoch Gesicht und Haare verschmierte), fragte sich der Junge schon, ob Hels Welt nicht eigentlich ein wenig düsterer hätte sein müssen.
    Und dann war sie da... Hel. In Form eines Mädchens, dessen Gesicht plötzlich in der sich immernoch recht turbulent drehenden Welt auftauchte. Hatte man sie ihm nicht immer als ältere Frau beschrieben? Und wieso machte er sich gerade jetzt Gedanken darum? Und dann wieder... sie war hübsch. Er streckte die Hand aus, doch wusste er weder wo diese sich gerade befand noch in welche Richtung sie sich bewegte. Alles tat weh, alles war falsch, alles drehte sich... und dann, als die Welt in sich zusammenfiel und ihn in einem Strudel in die Finsternis zog, war ihm klar wen er hier vor sich hatte: "Mutter.."


    Bildquelle

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png

    http://farm2.staticflickr.com/1161/1471598643_66e72ff9fe.jpg

    Stille war es, die Alrik umgab als er erwachte... oder zumindest glaubte zu erwachen. Orientierungs- und ahnungslos wie er war wandte er den Kopf, konnte aber nur undeutliche Schemen ausmachen die sich nur elend langsam in halbwegs bekannte Formen wandelten. Das erste bekannte was er ausmachte war der längliche First eines Langhauses, an welchem er seinen Blick entlanghangelte als er sich aufrichtete bis er die immernoch vor sich hinglühende Feuerstelle fand, um welche herum die vertraute Silhouetten schlafender Menschen auszumachen war. Ein Schnauben rechts neben ihm machte ihn darauf aufmerksam, dass er eben nicht an dieser Feuerstelle lag sondern beim Vieh, das gemächliche geräusch mahlender Kiefer ließen auf Rindviecher direkt neben ihm schließen. Wo auch immer er war, man hatte ihn an den Rand verfrachtet.. was ihn wieder daran erinnerte, dass er nicht zuhause war.
    Mit dieser Erkenntnis kam dann auch all das zurück was ihm in den letzten Monaten widerfahren war.. vom Aufbruch aus ihrem Dorf über den langen Marsch durch die Wildnis bis hin zur Seherin (eine Erinnerung, die ihn vor Schmerz aufstöhnen und zurück auf seine Lagerstatt sinken ließ).. und dann die versuchte Reise zurück nachdem sein Vater ihn... ja... was hatte er ihn eigentlich? Nein.. zu viele Erinnerungen, zu wenig Antworten. Schon fast zwangsläufig stiegem ihm Tränen in die Augen, die Brust begann zu beben und das erste Schluchzen brach sich Bahn bevor.
    "Ssssssccccchhhhhh...", machte es unverkennbar und doch geflüstert neben ihm, und plötzlich tauchte da ein Schemen auf, das von der Feuerstelle zu ihm rüberkrabbelte. Die Schlafenden dazwischen nahmen dies offensichtlich nicht wahr und wenn nur durch ein verschlafenes Grunzen und eine Drehung auf die Seite. Mit tränenverschleierten Augen blickte er dem Schemen entgegen und in der Dunkelheit konnte er nicht ausmachen wer oder was das nun war, selbst als das Schemen nahe genug an ihn herangekrochen war um sich im knirschenden Stroh niederzulassen und ihm eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. "Ssssscccccchhhhh...", machte sie wieder, sie, die sie sich nur durch den Ton ihrer Stimme preisgab und diese eine Berührung ausreichen ließ um Alrik verstummen und sich beruhigen zu lassen. Dass sie es nicht dabei beließ sondern Alriks Stirn und sein Gesicht zu streicheln begann war für ihn, der er vollkommen verunsichert und allein in einem Haus lag dessen Bewohner er nicht kannte, in einer Gegend in welcher er sich verlaufen hatte und einer Zeit, die ihn beinahe umgebracht hätte, reine und göttergleiche Wohltat.
    Diese Zuneigung, die ihm unverhofft hier im absoluten Nichts zuteil wurde, lullte ihn sehr effektiv vollkommen ein, bis er die zweitausend Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, vollkommen vergaß und sich nur allzu willig vom Schlaf gefangen nehmen ließ, zurückgesannt mit den für ihn geflüsterten und doch engelsgleich klingen Worten: "Alles wird gut. Alles wird wieder gut."


    Das darauf folgende Erwachen kam ungleich unsanfter, hart wurde er zur Seite und damit aus dem Schlaf gestoßen. "Aufwachen. Sofort.", grollte eine dunkle, aber nicht unbedingt feindselig klingende Stimme und als Alrik erschreckt die Augen aufschlug blickte er im dünnen Licht des Morgens in ein bärtiges Gesicht, das er noch nie zuvor gesehen hatte, "Wir müssen mit dir reden."
    Der Mann, ein klarer Hüne der aus Alriks Perspektive fast bis zur Decke des Langhauses reichte, wandte sich ab und trat wortlos an die Feuerstelle wo die schlafenden Gestalten der Nacht sich offensichtlich in eine Gruppe Menschen verwandelt hatte die zusammensaß und... frühstückte. Was auch sonst?
    Alrik rappelte sich auf, griff sich seinen nahebei liegenden Kittel und hüllte sich in seinen Mantel (der immernoch charakteristisch seiner Reise nach Rauch und erbrochenem stank) und wankte langsam und mit unsicherem Blick zu der Gruppe, die offensichtlich aus vier erwachsenen Männern, sechs Frauen und einem Haufen Kindern unterschiedlichen Alters, die ihn entweder vollkommen ignorierten oder mit unverhohlener Neugier musterten. Ein Blick auf den Haferbrei und das Brot, dass die Menschen zu sich nahmen reichte aus um seinen Magen wieder ins Reich der lebenden zurückzuholen und lauthals vor sich hinknurren zu lassen, ein Geräusch, das nicht nur die Kinder in lautes Kichern ausbrechen ließ.
    "Hierher, Junge, setz dich.", befahl der Hüne und Alrik ließ sich inmitten der Menschen nieder. Als ihm daraufhin von einer der älteren Frauen eine Schale mit grobem Haferschleim in die Hand drückte riss Alrik diese so schnell an sich, dass er fast den Inhalt über sich entleerte, allerdings war sein Hunger so groß, dass er nicht einen Klecks verschüttete und anstelle dessen den Inhalt sofort mit großem Hunger in sich hineinschauffelte. Die ältere Frau lächelte in sich hinein, füllte die Schale ein weiteres Mal und sah mit unbewegtem Lächeln zu wie Alrik auch diese Portion ohne innezuhalten in sich hineinschaufelte. Auch ein drittes Mal tat er dies, bis der Hüne sich räusperte und Alrik verschreckt innehielt, die Schüssel dabei ängstlich an sich pressend als hätte er Angst man würde ihm diese Wohltat gleich wieder entreißen.
    "Verdandi hat eine seltsame Art, dich für Skuld zu erhalten, junger Unbekannter.", begann der Mann mit seiner tiefen Stimme und bedachte Alrik dabei mit einem seltsamen Blick, den dieser nicht deuten konnte, "Du kannst von Glück sagen, dass Hulda dich gefunden hat. Eigentlich sollte ich sie prügeln dafür, dass sie sich beim Kaninchenjagen soweit von uns entfernt hat, aber dieses Mal... nun, hätte sie es nicht, du wärst jetzt bei Hel."
    Alrik, dem das durchaus klar war, dass das verdorbene Fleisch des Aas ihn beinahe ins Reich der Toten geschickt hatte, folgte mit dem Blick dem Nicken des Mannes hin und blieb dabei auf einem Mädchen hängen, das ihn schon die ganze Zeit mit großen Augen angestarrt hatte und das ihm irgendwie unheimlich vorkam, so wie sie still dahockte und ihn anstarrte, aber immerhin war es wohl am großen Mann zu sprechen, weshalb Alrik nur ein heiser-verschlucktes 'Danke.' hervorbrachte, bevor er sich eilig wieder dem offensichtlichen Anführer dieser Sippe zuwandte.
    "Ich will garnicht erst zu der Frage kommen, warum du dich an einem Aas vergreifst, das wir ausgelegt haben um Wölfe und anderes Getier in unsere Fallen zu locken, dass das wohl das dümmste war was du machen konntest ist dir wohl selbst klar.", fuhr der Hüne in belehrendem Tonfall fort, griff sich ein Stück trockenes Brot und zerbiss es mit langsamem Kauen, winkte bei Alriks schwachem 'Ich hatte Hunger... so großen Hunger.'-Einwand nur ab und fuhr ungerührt fort: "Was mich aber viel mehr interessiert ist, was machst du hier zu dieser Zeit alleine in der Wildnis? Wo ist deine Sippe? Wer ist dein Muntherr?"
    Dass dies die alles entscheidende Frage war, wurde alleine schon dadurch klar dass selbst die Kinder nun zu Essen aufhörten und ihn samt und sonders mit fragendem Starren bedachten. Alrik selbst stellten sich gleich mehrere Fragen... sollte er es ihnen erzählen? Vielleicht gehörten sie zu den Menschen die seinen Vater und ihn durch die Wildnis verfolgt hatten? Er kannte sie nicht, warum sollte er ihnen etwas erzählen?
    Weil sie im Gegensatz zu seinem Vater etwas für ihn getan hatten. war die grell und heiß brennende Erkenntnis, die Alrik augenblicklich wieder die Tränen in die Augen schießen ließen: "Ich... ich... ich wurde verstoßen."
    Die Reaktion der Sippe bestand erst einmal in garkeiner Reaktion, dass die Erwachsenen besorgte Blicke austauschten und die Kinder die Hände vor die vor Schreck offenen Münder schlugen entging Alrik in diesem Moment völlig, denn viel zu sehr hatte er gegen diese brutale und lange vor sich hingeschobene Erkenntnis anzukämpfen: sein Vater hatte ihn alleine gelassen und das nicht nur zufällig. Was für einen Grund konnte es noch dafür geben? Keinen.
    Was auch immer die Seherin seinem Vater erzählt hatte, in ihrer seltsamen Art der Wahrsage, es hatte gereicht um seinen Vater seinen EINZIGEN verdammten Sohn alleine in der winterlichen Wildnis zu lassen. Dass die Verzweiflung und die Trauer über diesen Vertrauensbruch, diese für seinen kindlichen Geist einfach vollkommen unverständliche Ungeheuerlichkeit in Wut verwandelte, registrierte Alrik erst als seine Hände zu schmerzen begannen... weil er sie zu Fäusten zusammenpresste.
    "Nun..", begann der Hüne, der offensichtlich nicht wusste, was er sonst sagen sollte, "..das ist hart. Warum hat man dich verstoßen, und wo sind deine Leute?"
    "Ich... ich weiß es nicht.", presste Alrik in seiner hilflosen Mischung aus Wut und heilloser Verzweiflung zwischen den Zähnen hervor, "..er war... er ist einfach gegangen. Er hat mich allein gelassen."
    "Er? Wer ist er?", hakte der Hüne nach, wurde aber von einer der Frauen unterbrochen, die um die Gruppe herum zu Alrik eilte und ihn in den Arm nahm. Fast fühlte sich Alrik an die nächtliche Begegnung erinnert, aber diese Frau roch anders. Nichtsdestotrotz warf Alrik sich in diese Umarmung, weil ihm nichts anderes übrig blieb und ihm in diesem Zustand jede Form von Zuwendung willkommen war. Alles, was diese Gedanken verschwinden ließ... diese Bilder... dieses Wissen.
    "Naja, wir müssen das ja nicht jetzt besprechen.", gab der Hüne schließlich bekannt, und klopfte sich auf die Oberschenkel, "Du wirst erst einmal bei uns bleiben können, doch sobald das letzte Eis geschmolzen ist, werden wir eine Entscheidung treffen müssen wie wir weiter mit dir vorgehen."
    Alrik, immernoch in die Umarmung der Frau gepresst, brachte es gerade einmal fertig zu nicken, doch seine Dankbarkeit kannte keine Grenzen: alles, nur nicht wieder da rausgeschickt zu werden. Alles, nur nicht wieder in die Wildnis, in der er alleine mit sich und seinen Gedanken... und letztlich dem Tod.. war.
    Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte und die Frau ihm mütterlich die Nase putzte wurde ihm die Sippe des Mannes vorgestellt, der sich selbst als Wighart, Sohn des Meginold, erwies.. doch in den nächsten Wochen würde er es vornehmlich mit den Kindern zu tun bekommen, die ihn nur allzu freigiebig in ihre Runde aufnahmen.
    Die nächsten Wochen waren... himmlisch, im Vergleich zu dem was Alrik in den Monaten in der Wildnis zuvor erlebt hatte und wohl auch zu allem, was er in den Jahren davor als sein Leben betrachtet hatte.
    Natürlich wurde ein Junge seines Alters wie alle Kinder, die mehr als zwölf Sommer gesehen hatten, in die Arbeit am Hofe eingesetzt, doch sie bekamen seinen Maßstäben entsprechend unendlich viel Zeit für etwas, das er in seiner Vergangenheit viel zu selten kennengelernt hatte: sie wurden spielen.
    So tollte Alrik in den nächsten Wochen mit der Bande an Kindern durch die Gegend, prügelte sich mit ihnen, führte Schlachten durch und durchlebte die wildesten Abenteuer im Eis... eine großartige Abwechslung, ohne dass jemand sie zurückrief weil ja jeden Moment ein Angriff der Mordorokianer erfolgen könnte. Nein, das einzige wovor man hier offensichtlich Angst hatte waren die wilden Tiere, die man aber durch die großen struppigen Hunde der Gemeinschaft auf erkennbarer Distanz hielt.
    Kurzum: es. war. himmlisch. Vala konnte nicht beziffern, ob er in seinem ganzen Leben soviel gelacht hatte wie in den Stunden mit den Kindern draußen im winterlichen Nichts oder in den Langhäusern als alle zusammensaßen und sich Geschichten erzählten, die nicht ständig vom Krieg und von verlorener Hoffnung handelten.
    Als Alrik wieder einmal mit Hulda, seiner Lebensretterin und liebsten Spielpartnerin (die trotz ihres für seine Augen fortgeschrittenen Alters keine Skrupel hatte derbe zuzupacken), durch den Schnee tollte, stolperten sie übereinander und rutschten im Paket eine kleine Anhöhe herunter.. als beide lachend zu Ruhen kamen, fiel Alrik auf, dass er seiner Lebensretterin noch nie so nahe gekommen war... und dass es ihm gefiel. Gleichzeitig fiel ihm am Geruch ihrer Haare auf, dass sie es gewesen war, die ihn vor Wochen in der Nacht seiner Verzweiflung in den Schlaf gewogen hatte... was in seinem inneren ein warmes Gefühl entstehen ließ, das er so rein garnicht zuordnen konnte.
    "Alrik, schau nur!", rief sie schließlich aus, löste sich aus ihrer unfreiwilligen Umklammerung und stapfte durch den Schnee hin zu einer Senke, die wohl ein Bachlauf war, "Es taut! Sieh nur! Es taut! Der Winter ist bald vorbei!"
    In all den Jahren zuvor hatte Alrik wie alle anderen den Winter gefürchtet und sein Ende herbeigesehnt, doch dieses Mal war es genau dessen Ende, das ihn mit Schrecken erfüllte, weshalb er nur stocksteif neben Hulda stand und mit bleichem Gesicht die Erde und das zaghafte Grün betrachtete, das neben dem leise plätschernden Bach zu sehen war. Hulda, sich selbstverständlich über diese Neuigkeit über alle Maßen freuend, machte auf dem Punkt kehrt und wandte sich so schnell wie möglich zurück zum Dorf zu rennen.. so der Schnee es zuließ, hieß das.
    Alrik folgte ihr mit sichtbarer Beklommenheit, sich eigentlich nichts ferner wünschend als das Ende des Winters, so wirr das auch ihm erschien. Dies vor allem aus einem einfachen Grund: er wollte hier nicht weg. Er hatte das Gefühl nie glücklicher gewesen zu sein. Natürlich behandelten ihn die Leute Huldas nicht als einen der ihren, aber sie grenzten ihn auch nicht aus und teilten ihre geringe Habe mit ihm, was ihm wie göttergleiche Barmherzigkeit erschien. Und dann war da eben auch noch Hulda selbst...


    Als Alrik mit Hulda zum Dorf zurückkehrte fiel die Entscheidung freilich nicht an diesem Tag. Auch nicht am nächsten... und auch nicht in den Tagen darauf. Sie ließ schließlich noch zwei Wochen auf sich warten bis die Schneeschmelze nahezu überall um sich gegriffen hatte und der Bach zu einem kleinen Strom angeschwollen war, als sich die Erwachsenen der Sippe zusammentaten. Alrik blieb nichts anderes übrig, als draußen mit den anderen Kindern und jugendlichen zu warten, die seine Sorge nur halbwegs nachvollziehen konnten.
    "Dann kannst du zurück zu deiner Sippe, das ist doch etwas!", sagte Gerfridu, der so alt war wie Alrik selbst, aber Hulda selbst war es, die die Lage durchblickte und mit wutschwerer Stimme und mit den Fäusten in die Hüften gestemmt konstatierte: "Alrik hat niemanden! Wohin sollte er schon gehen? Sie haben ihn verstoßen! Er ist ein Niemand!"
    Das tat natürlich weh zu hören, aber sie hatte Recht: wohin sollte er gehen? So sehr er sich allerdings kraftlos in sein Trübsal hinabsinken ließ, hatte er doch keine Möglichkeit irgendetwas an der Entscheidung der Sippe zu ändern (wie immer diese auch ausfallen mochte), so sehr schien Hulda sich in ihre Wut hineinzusteigern. Ihre blonden Locken wehten jedes Mal, wenn sie ihre Kreise um die Gruppe Kinder zog und plötzlich die Richtung wechselte, durch die Luft und ihre Sommersprossen verschwanden im Rot ihrer zornesroten Gesichtsfarbe... bis sie es offensichtlich nicht mehr auszuhalten schien und mit festen Schritten in das Langhaus stapfte.
    Fast wollte Alrik sie aufhalten, wurde aber von ihrem Bruder Kunniwolf selbst aufgehalten um seine Gesundheit zu schonen: "Die macht kurzen Prozess mit dir, wenn du dich in ihren Weg stellst."
    Nun blickten alle Kinder und Jugendlichen angestrengt neugierig zum Langhaus, nicht wissend was da nun vor sich ging, bis plötzlich ein kreischendes Geschrei und Gekeife losging dass selbst bei ihnen noch ohrenbetäubend laut war. "DAS ist Hulda.", stellte Kunniwolf fest, nur um später beim Ertönen eines ebenso lauten aber viel dunkleren Gebrülls hinzuzufügen: "Und das ist Vater."
    Hätte Alrik noch Fingernägel gehabt, er hätte sie jetzt wohl weggekaut, denn das Geschrei ging noch eine geschlagene halbe Stunde so weiter, immer wieder unterbrochen von lauten und hilflosen Rufen der anderen Erwachsenen... bis auf einmal schlagartige Ruhe einkehrte. Als die Tür des Langhauses aufschlug zuckte die ganze Kinderbagage erschrocken zusammen, doch es war nicht Wighart, der sich ihnen zeigte, sondern eine mit stolz vorgestreckter Brust hervorstolzierende Hulda, die auf elfenleichten Füßen zu ihnen tänzelte um mit äußerst zufriedener Miene bekannt zu geben: "Alrik, du darfst bleiben."
    Der Jubel der Kinder füllte den Platz vor dem Langhaus und Alrik fiel beinahe alles aus dem Gesicht, als die Erleichterung ihn wie ein Erdrutsch erwischte und chancenlos mit sich riss: "Wie... was... danke! Hulda, danke! Wie... wie hast du das geschafft?", stammelte der Junge, der sein Glück immernoch nicht fassen konnte.
    "Nichts leichter als das!", trällerte seine sichtlich von sich selbst angetane Retterin in zweierlei Sinne, "Du bist verstoßen, also vogelfrei... man kann mit dir machen was man will. Also habe ich durchgesetzt, dass wir dich als Unfreien in meine Munt aufnehmen!"
    "Wie jetzt...", verstand Alrik einen Moment lang nicht, bevor es ihm dann doch dämmerte, ohne dass er glaubte begreifen zu können was sie ihm hier gerade reinwürgte: "DEINE Munt?"
    "Ja. Meine. Vater wollte dich nicht, die anderen durften nicht... aber ich bin immerhin seine älteste, also darf ich. Und ich will.", konstatierte Hulda sichtlich mit Selbstzufriedenheit und Stolz über diesen Geniestreich erfüllt, "Ab jetzt, Alrik, gehörst du mir ganz allein."


    Bildquelle

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!