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Der Nebel, der durch die Wälder zog die sie ihr momentanes Zuhause nannten, verhieß nichts gutes. Wieder einmal. Alrik wagte es gar nicht seine kindlichen Augen von dem Schauspiel abzuwenden, dass sich unterhalb ihrer Position in den Hügeln abspielte.. ein Schauspiel bar jeder spätzeitlicher Romantik oder verklärender Gefühlsduselei: Nebel bedeutete Tod.
Er nahm ihnen die Möglichkeit zum Jagen, denn wie wollte man sich möglichst leise an das wenige Wild heranpirschen, das sich hier noch herumtrieb, wenn man es bis auf armlänge kaum erkennen konnte? Er nahm ihnen auch die eigene Orientierung, denn egal wie und wo man sich befand, Nebel führte einen immer in die Irre und gefährliches Unterholz.. selbst gestandene Fährtenmeister wie Uodwin hockten sich im Nebel meist einfach nur hin und warteten bis er sich wieder verzogen hatte.. wenn sie überhaupt hinausgingen.
Und nicht zuletzt: wer auch immer im Nebel die Wildpfade heraufkam, er konnte sich sicher sein, dass seine Zahl bis zuletzt unbekannt sein würde.
Es waren Nebel gewesen, die den Ärger verschluckt und geschützt hatten, der drei ihrer Männer das Leben gekostet hatten. Alrik konnte die Wut über den Verlust der letzten noch immer im Blick seines Vaters erkennen, hatte sich dieser doch am vehementesten gegen den Ausfall von ihrem kleinen Hügel gewehrt. Gegangen waren sechs Männer, zurückgekommen waren vier.. einerseits ein herber Verlust in einer Zeit, in der speerfähige Arme nach dem Abzug der Römer nötiger waren denn je... andererseits eine Erleichterung, weil so drei hungrige Mäuler weniger zu stopfen waren. Alrik konnte sich nicht an eine Zeit erinnern in der er nicht dauernd Hunger litt, und sein Magen sich in müdem, aber stetem Protest in seiner Leere verkrampfte.. was auch daran liegen konnte, dass er überhaupt nicht genug Sommer angesammelt hatte um sich an allzu viel zu erinnern.
Was er wusste, war: die Alten erzählten oft davon, dass sie einmal satt gewesen waren, was wohl ein Zustand war in dem man mehr zu Essen als Hunger hatte. Sein Vater auf jeden Fall wich Fragen darüber aus, wie er dem meisten auswich, was Alrik an Fragen über sein altes Leben in den Kopf kamen. Bisher hatte sich Alrik also nicht auch nur annähernd eröffnet, wie sich derartige Sattheit anfühlen würde.. und seine Lust, sich an Baumrinde, Gerbwurzeln und Eicheln satt zu essen hielt sich auch in argen Grenzen.
Dabei wurden selbst die oft genug rationiert, damit die Mütter Milch genug bekamen um zumindest ein oder zwei der Kinder ihrer kleinen Gruppe durchzubringen. Sie waren dreissig Menschen, und Alrik war mit seinen sieben Lenzen (seine Mutter feierte jeden seiner Sommer, als wären sie kleine Wunder) das jüngste Kind.. in fast jedem Herbst neue geboren wurden. Auch seine Mutter war wieder schwanger, was seinen Vater mit stiller Hoffnung, Alrik mit Unverständnis und sie selbst mit nicht weniger als kaltem Schrecken erfüllt hatte. Man hatte ihm früh klargemacht, dass Kinder ein Geschenk der Götter waren, und der Verlust derselben eine Art Prüfung.. und er wollte partout nicht verstehen, warum jedes seiner Geschwisterchen, die ihm mit einer Mischung aus Teilnahmslosigkeit (Mutter) und unverbrüchlichem Stolz (Vater) angekündigt wurden, sich in eine Prüfung verwandeln musste. Die letzten zwei hatten nicht einmal die Geburt überstanden, und sein Vater hatte so große Sorge gehabt, dass Alriks Mutter es ihnen gleichtun würde, dass er sein Weib monatelang nicht angerührt hatte. Jetzt war wieder ein Geschwisterchen unterwegs, und Alrik hatte nach all den Enttäuschungen die Neuigkeit schon einfach abgenickt, so wie der alte Ratger es stets mit schlechten Nachrichten aus dem Westen tat. Was Alrik bei der ganzen Sache auch nicht verstand war, warum nur die Frauen geprüft wurden. Das ganze Geschrei und Gewimmer sowohl vor, bei und nach der Geburt war ja meilenweit zu hören.. einmal hätte die junge Lidwina sie beinahe alle ins Verderben gestürzt, als sie sich vor einer von Modoroks Schergen versteckt hatten und mittendrin ihre Wehen eingesetzt hatten. Die alte Nordtrug hätte die Frau in ihren Bemühungen, sie still zu halten beinahe erstickt.. und letztlich hatten die Götter sowohl Mutter als auch Kind zu Hel geschickt. Das war nun zwei Sommer her, so Alrik das richtig einschätzen konnte, und seit damals hatte sich wenig an seiner Verwirrung geändert.
http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer10.png "Vater.." , begann Alrik einen neuen Ansturm auf die Festung des Schweigens, die sein Vater war, und wandte sich schließlich doch von den nebelverhangenen und Waldbedeckten Tälern ab in denen sie sich seit Anbeginn seines Denkens versteckt hielten, "..warum werden nur Frauen von den Göttern geprüft?"
Leif, Sohn des Landogar, machte sich nicht einmal die Mühe den Blick zu heben, oder gar den Kopf zu wenden... er blieb an den Baum gekauert, unter den Lumpen zusammengesunken die sie alle trugen, und starrte mit einer Mischung aus Resignation und Feindseligkeit ins nebelverhangene Nichts. "Vater?" , hakte Alrik nach, auch wenn er sich kaum eine Hoffnung darauf machte, dass sein Vater ein Gespräch mit ihm beginnen würde, das ihm erklärte wie die Welt funktionierte in der sie hier zu überleben versuchten. Einzig und allein wenn es in dem heimischen Blätterwerk, dass sie ihr Dach nannten, um alte Geschichten aus einem längst vergangenen Leben ging, da wurde sein Vater redselig... erzählte von großen Städten, größeren Legionen und noch größeren Männern die er erlebt hatte.. und versank bei einer naiven Frage Alriks, warum er all das eingetauscht habe gegen ihr Dasein in der grünen Hölle des freien Germaniens, augenblicklich wieder in Stille. Alrik hatte sich angewöhnt solche Fragen zu meiden, damit er seinem Vater überhaupt etwas mehr entlocken konnte als Tagtägliches. "Vater?"
"Es wurden nicht nur die Frauen geprüft, Junge.", dröhnte schließlich die Stimme des alten Swidger, der vor einem Moment zu ihnen gestoßen war, weil ihn die Gemeinschaft des Lagers trübsinnig stimmte, "Frauen haben nur ihre eigene Art und Weise wie sie Prüfungen ausstehen müssen.. wir Männer leiden und bluten im Kampf, Frauen tun dies im Wochenbett. Die Götter haben es so bestimmt."
"Warum haben sie das, Swidger?" , hakte Alrik nach, mehr um die Enttäuschung über das beharrliche Schweigen seines Vaters zu überdecken, denn aus wirklichem Interesse. Dass andere ihm Dinge erklärten war er schon gewohnt... er wollte sie aber aus dem Munde seines Vaters hören.
"Ich bin kein Gode, Junge..", brummte der alte Mann missfällig, fuhr aber mit der Antwort fort, weil sie wohl Tage durch die Gegend würden wandern müssen um einen Goden zu finden, "..du findest es in der Natur. Tod und neues Leben geben sich gegenseitig die Hand, auch gerade in diesem einen Moment. Frauen schenken neues Leben, wir geben den Tod..."
Ein verächtliches Schnauben von seiten seines Vaters ließ Alrik herumfahren, so erschrocken war er von der Möglichkeit, dass Leif etwas zu der sehr einfachen Kriegerphilosophie desalten Mannes zu sagen hatte, doch er verharrte unter seinen Lumpen unverändert mit dem Blick ins Nichts.
"Aber wieso sterben dann die Kinder.. und auch die Frauen.., Swidger?" , klammerte Alrik sich an das Gespräch um nicht zurück in die Stille zu rutschen, die sein Vater um sich herum generierte wie ein Fluß den Nebel.
"Ahh... weil die Götter es so bestimmt haben. Auch sie finden sich so wieder... Frigg als Wodans Ehefrau ist die Göttin der Mutterschaft, aber wir opfern ihr auch bei großen Schmerzen... und sowohl Odin als auch Donar bringen den Tod...", fuhr der alte Mann fort, wobei man ihm ansehen konnte wie unwohl er sich in der Rolle als Ersatz-Gode fühlte.
"Mutter sagte, Donar wäre gar nicht so todbringend... und Wodan würde sich der Toten annehmen, wenn sie schon tot wären..." , plauderte Alrik von Zuhause, erntete dafür aber nur einen wütenden Blick des alten Mannes: "Ach, was weiß ich denn? Wenn deine Mutter das besser weiß, dann frag sie doch... und nicht mich. Jeder opfert den Göttern wegen einer anderen Sache... manchmal mehreren Göttern wegen derselben Sache, und manchmal einem einzigen Gott wegen gleich mehreren... fest steht, dass die Frauen in ihrem Leid ganz sicher nicht alleine sind..."
"Aber sie sind die einzigen, die leiden... euch Männer habe ich noch nicht leiden gesehen." , wandte Alrik trotzig ein.
"HAH!!! Was glaubst du wie Hlutwig und Thiodharti gestorben sind... oder Winimar? Die sind nicht einfach umgefallen und sind friedlich liegen geblieben...", blaffte der alte Mann ihn so barsch an, dass Alrik zwei Schritte zurückwich.
"Im Kampf... aber trotzdem habe ich euch nicht leiden gesehen..." , beharrte Alrik, bereits mit Tränen des Schrecks in den Augen, auf seinem Standpunkt, dass Frauen die einzigen in ihrer Gruppe waren, die litten.
"Das wirst du noch früh genug, Junge. Sobald du einen Speer halten kannst, wirst du das...", lachte der alte Mann bitter, und deutete hinunter ins Tal, "...und wenn dieser verdammte Nebel mit seinen Geistern sich nicht bald verzieht, wirst du noch viel früher lernen, dass kein Weib bei der Geburt so jämmerlich schreit wie ein Mann der stirbt."
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