Das triste Grau der Wintermonate war nach und nach den bunten Farben des Frühlings gewichen und alles erwachte wieder zu neuem Leben. So wie jedes Jahr. Nur in diesem Jahr wirkte irgendwie alles viel schöner und intensiver angesichts der Tatsache, dass dieses Jahr nicht nur die Natur ihre alljährlich auferlegten Fesseln abstreifen würde, sondern darüber hinaus der verhasste Diktator in Rom bald Geschichte sein würde. Jeden Tag konnte es soweit sein und durfte man auf die freudige Nachricht aus der Hauptstadt rechnen. Wie lange würde es wohl noch dauern bis die Rebellen siegreich in Rom einziehen würden, oder ... würden sie am Ende, so kurz vor dem Ziel, doch noch aufgehalten werden?
Zumindest der Frühling war nicht mehr aufzuhalten, als er mit kräftiger Brise über das Land strich und die Gräser auf den sanften Hügeln in wilden Reigen zum tanzen brachte. Ein wundervoller Anblick im Glanz der wärmenden Sonne, welche die Szene in ein imposantes Farbenspiel tauchte. Ein Kontrast aus tiefem Blau und sattem Grün, durchsetzt mit unzähligen Farbtupfern die dem Auge schmeichelten, wohin man auch blickte. Was für ein herrlicher Morgen, dachte Prisca bei dem Anblick und sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen so schönen Tagesanfang wie diesen so bewusst erlebt zu haben. Recht genießen konnte die Aurelia diesen wunderschönen Morgen jedoch nicht wenn sie daran dachte, was ihr und ihrer Familie in den vergangenen Wochen und Monaten widerfahren war. Verglichen damit schien ihr jüngst schändliches Handeln noch harmlos, gleichwohl das Besäufnis mit dem Soldaten wie das Tüpfelchen Farbe auf einem riesigen schwarzen Loch wirkte, welches Prisca als unsichtbaren Makel über sich schweben sah. Eine Patrizierin allein unter Soldaten, dazu noch so betrunken, sodass sie sich an nichts mehr erinnern konnte. Da hätte ja (wissen die Götter was) alles passieren können und je länger Prisca so für sich allein darüber nachgrübelte, umso schlimmer wurde es. Allein! Ja das war genau der entscheidende Punkt. Prisca fühlte sich unglaublich einsam und allein und das nicht nur seit vorgestern. Dieser Zustand dauerte nun schon gut zwei Jahre an, seit sie nach dem Tode ihres geliebten Mannes sich zur Trauer zurück gezogen hatte und nach ihrer Rückkehr nach Rom (dank des Vescularier) das Familiendomizil verwaist vorgefunden hatte. Lediglich die Prätorianer leisteten ihr von da an regemäßig unliebsame Gesellschaft und nun, da alles soweit überstanden war, war sie immer noch allein. Wo war nur ihre ganze Familie abgeblieben? Und wo waren all ihre Freundinnen? Es fehlte einfach jemand, an dessen Schulter sie sich endlich hätte anlehnen und ausweinen können und dem sie alles hätte beichten können, ohne dabei vor Scham im Boden zu versinken?
Nun gut. Ihr Cousin Lupus war noch am Leben und er hatte sich fürsorglich um sie gekümmert, doch im Grunde wusste die Aurelia nur zu gut, wie er über sie und ihr Verhalten dachte, auch wenn er es ihr offen gegenüber so niemals gesagt hatte (und so wie er dachten viele von den konservativen Aureliern). In Lupus Augen hatte Prisca sich verhalten wie eine billige lupa und damit Schande über sich und die Familie gebracht und nur der Umstand, dass dies alles an einem abgelegenen Ort geschehen war und die Zahl der Zeugen nicht ins Gewicht fiel hatte sie davor bewahrt, ihrem Leben wenigstens auf ehrenvolle Weise ein Ende setzen zu müssen. Aber was nicht muss kann ja immer noch sein, oder war das Leben so noch lebenswert?
Eine Böe erfasste Prisca in dem Augenblick da ihre Gedanken um dieses unschöne Thema kreisten und wirbelte ihr langes offenes Haar wild durcheinander, so wie die Gräser auf den Hügeln. Was für eine seltsam melancholische Stimmung dieser Wind mit einem Mal heran trug, gerade an solch einem schönen Tag … Der Wind verweht und mach vergessen, trägt fort was alt und welk ist, er reinigt und macht Platz für Neues … Man müsste sich einfach von ihm mit nehmen lassen und alles wäre gut, dachte Prisca mit einem traurigen Seufzer, die Arme vergeblich ausgebreitet in der Hoffnung, der Wind möge auch sie für immer davon tragen. Wäre das nicht die einfachste und beste Lösung? So viele unerfüllte Liebschaften, ein verlorenes Kind, ein dahin geschiedener Ehemann, Selbst ihr Lieblingscousin Ursus dem Tode nahe und der Rest der Familie zerstreut in alle Winde, so wie ihr guter Ruf … All das verloren, für immer, so schien es …
… die Augen geschlossen und nur den intensiven Duft der Natur in ihrer Nase schmeckend, den weichen Boden unter den nackten Füßen ertastend und den Geräuschen des Windes und dem Gesang der Vögel lauschend. … berauschend … wäre jetzt nicht der Augenblick um mit allem für immer und ewig abzuschließen? Prisca öffnete die Augen wieder und erblickte einen kleinen Fluss, der sich vor ihr durch die wunderschöne Landschaftsidylle schlängelte. Das Glitzern des Wassers hatte eine magische Anziehungskraft auf die Aurelia und Sekunden später fand sie sich bis zu den Knöcheln tief im Wasser des Flusses wieder. Wieviel mächtiger als der Wind mochten diese Fluten sein, die alles mit sich davon trugen. Und wohin? … Ins Elysium, wohin sonst …
Die Aurelia blickte über die Schulter zurück, den Hügel hinauf zu ihrem Reisewagen, aus dem sie sich vorhin heimlich davon geschlichen hatte, während ihre Begleiter damit beschäftigt gewesen waren ein zerbrochenes Rad an einem der Lastenkarren auszutauschen. Dort oben würde das Leben weiter gehen, als wäre nichts geschehen und wenn ihr Verschwinden bemerkt werden würde, dann hätte der Fluss sie längst ins Jenseits getragen. So einfach wäre es …! "Beatus ille, qui procul flagitiis [SIZE=7](glücklich ist der, der fern aller Schande ist)[/SIZE]", sprach Prisca die Worte laut zu sich in der Hoffnung, sie würde wirklich glücklich werden, sobald sie den letzten und entscheidenden Schritt gewagt hätte. Nur noch ein einziger kleiner Schritt und da(nn) …
…ertönte plötzlich ein lautes *KNACKEN* aus dem Gebüsch neben ihr. Erschrocken zuckte Prisca zusammen und wirbelte zu dem Geräusch herum. Der Wunsch aus dem Leben zu scheiden war verflogen, stattdessen wünschte sie sich ein tiefes Loch herbei, in das sie augenblicklich vor Scham hätte versinken wollen: "Was? Du meine Güte!!! Du??? ...Aber, ...was machst du denn hier. Bist du mir etwa nach geschlichen???", keuchte Prisca völlig verwirrt und machte reflexartig einen Schritt rückwärts. Dummerweise trat die Aurelia dabei ausgerechnet auf einen glitschigen Stein, der sie ins taumeln brachte. "Uuuuaaaahhh ...Hiiiilfe!!", suchend nach Halt, ruderte Prisca nunmehr verzweifelt mit den Armen um eben jenen Fluten zu entgehen, in die sie sich Sekunden zuvor noch freiwillig stürzen wollte …
*RESERVIERT*