Camera Ludi | Titus Flavius Gracchus

  • Ohne Anzuklopfen - es war dies schlussendlich das Gemach seines Sohnes, welcher ohnehin keine Geheimnisse gegenüber seinem Vater würde hegen - betrat Gracchus das Spielzimmer seines jüngsten Sohnes, welcher vor kurzem erst mit Sciurus aus dem Exil in Patavium war zurückgekehrt - und erstarrte im Anblick des Jungen, welcher inmitten des Raumes auf dem Boden eine hölzerne Figur dirigierte, mit ihr in phantastischen Ländereien noch phantastischere Abenteuer erlebte. Wie stets wenn er Titus wurde angesichtig, so sah Gracchus auch in diesem Augenblicke den Schatten um den Jungen herum, die Larve welche er am Tage seiner Geburt hatte hervor gebracht, das tote, dunkelhäutige Sklavenkind, welches seit diesem Tag an der Seite seines Sohnes aufwuchs, untrennbar mit dessen Schicksal verbunden. Doch es war nicht der Geist eines Toten, welcher in diesem Augenblicke ein wenig seine Contenance ihm raubte, es war der Anblick Titus' selbst, der Knabe im Spiel versunken. Weit mehr als sein Bruder Minor, welcher in seiner etwas fülligen Art wohl mehr nach einer Linie der Claudier - wenn auch zweifellos nicht nach Antonia selbst - mochte schlagen, glich Titus vielmehr seinem Vater in diesem Alter, ob seiner schmächtigen Art allfällig in etwas jüngerer Zeit noch, weshalb Gracchus mit einem Male glaubte, die Vergangenheit seiner selbst zu erblicken. Es schien ihm als könne er die Stimme seiner Mutter vernehmen, als husche der Schemen seiner Schwester im Hintergrund vorüber, wiewohl ihm seltsam schien, dass er sich selbst so deutlich vor Augen sah.
    "Quintus!"
    entfuhr es ihm schlussendlich erstaunt, denn nicht er war es, den er in seiner Erinnerung hatte vor Augen, sondern sein Bruder Quintus - Quintus Gracchus, welcher viele Jahre später sich Quintus Tullius hatte genannt - und ein feines Lächeln kräuselte Gracchus' Lippen.

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  • Die Flotte des glorreichen Octavius, späterer Augustus, segelte über die Wellen des Mittelmeeres. Die Segel gebläht, die Ruder tauchten in das Wasser hinein im Rhythmus der Trommeln, die für die Sklaven auf den Galeeren geschlagen wurden. Am Horizont waren die Ufer von Ägypten zu erkennen. Das Land jener verruchten Aufständischen. Die den Befehlen einer Frau, einer Barbarin namens... „Klepatata!“, flüsterte eine Jungenstimme. Kleine Kinderhände schoben Nussschalen über ein blaues Tuch, das er in einem der Frauengemächer gefunden hatte. Die Blumenranken, die in die feine Seide gewebt war, störte nicht im Mindesten. Auch, dass die gelben Körner aus Getreide kaum der Sand der ägyptischen Wüste darstellen konnte. Und auch nicht, dass die feindlichen Soldaten aus kleinen Stöckchen mit getrockneten Trauben als Köpfe bestanden. „Aber die Rebellen fürchteten das Nahen des einzig wahren Kaisers. Kaiser Augustus.“ Unbedeutend, die historischen Tatsachen. Unwichtig, was sich wahrlich zu getragen hatte. Manchesmal tauchten in Titus' Geschichten Persönlichkeiten von Jahrhunderten zuvor auf. Nur vor den Göttern fürchtete sich der Junge ungemein. Alle flüsterten ihre Namen voll des Respektes und sein Vater galt als ein großer Priester. Es erschien ihm darum nicht richtig, wenn er den Namen eines Gottes in sein Spiel brachte. Versunken in das Spiel ließ er die Nussschalen an die Ufer von dem Getreide anlanden, dem Kornspeicher Roms, also Ägypten. „Ihr Rebellen, fürchtet mein Gladius und den Zorn meiner Truppen.“ Der Kaiser sprang durch die Finger über eine beige-rosane gewebte Blume hinweg auf ein goldenes Getreidekorn.


    Quintus!
    Eine Stimme, die mit Wellen den, der dieser lauschte, überrollen konnte. Laute, die mal leise moduliert jegliches Gespräch dennoch zu unterbrechen wusste. Mir vornehmer Sicherheit die flavische Überlegenheit bezeugen würde. Einem Orkan gleichend und dennoch ruhig die Gunst der Götter beschwören könnte. Und doch in einem Wort schwangen mehr brüchige Sentiments mit als der noch eloquenteste Senator sonst hätte äußern können. Quintus. Ein Name. Ein Mann. Ein Verderben und Erinnerung, die der Knabe nicht kennen konnte. Dunkle, große Kulleraugen hoben sich an und sahen zu dem Mann hinauf, der sein eigener Vater war. Fremd war dieser Patrizier und doch einem Gott gleich: Iuppiter. Titus hatte ihn seit über einen Jahr nicht mehr gesehen. Aber er erkannte ihn sogleich. Er schwieg kurz und man sah dem Kinde an, dass die Gedanken in seinem Kopf hin und her bewegt wurden. Aufmerksam, aber auch scheu sah er zu seinem Vater. „Titus, Pater.“, sprach er schließlich aus. Erwachsene hatten die Angewohnheit, viele Dinge zu vergessen. Es würde den Jungen nicht wundern, wenn Gracchus seinen Namen nicht mehr gewahr war. Titus stand auf, in der Hand hielt noch die Nussschale mit dem Kaiser, sein Fuß stand halb auf Ägypten, das aus Getreidekörnern bestand. Zwischen seinen Beinen floss das Mittelmeer in Form von blauer Seide.

  • Noch immer das feine Lächeln um seine Lippen tragend, trat Gracchus auf seinen Sohn zu, sorgsam darauf bedacht, nicht im Mittelmeer zu versinken, noch Ägypten zu zerstören, wischte - ohne dessen sich gewahr zu sein - mit einer fahrigen Bewegung den Schatten über dem Kopf seines Sohnes hinfort, dass der verirrte Geist vorerst bleichem Rauch gleich kräuselnd in der Luft des Raumes sich zerstreute.
    "Selbstredend, Titus. Doch wurde einen Augenblick lang mir dein Onkel Quintus präsent, welchem du überaus ähnlich bist."
    Er ging ein wenig in die Hocke, nahm einen der kleine Stöcke, auf welchen eine trockene Traube gespießt war, und betrachtete diesen durchaus interessiert - indes konnte er nicht imaginieren, was Titus damit tat, denn dass der Junge derart war ausgehungert, sich an trockenen Trauben gütlich zu tun, war schlussendlich ausgeschlossen.
    "Ich hoffe, du befindest dich wohl, und die Reise nach Rom war nicht allzu uner..quicklich?"
    Der Vater wagte nicht, nach den Geschehnissen im Bürgerkrieg sich zu erkunden, nicht nach den Eindrücken des Knaben von der Flucht, der beschwerlichen Reise, dem kargen Ausharren in Patavium oder der Trennung von seiner Mutter - zu groß war seine Furcht vor dem, was Titus würde berichten können. Stattdessen hob er den Stock ein wenig empor.
    "Was ist das?"

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  • Große und dunkle Kinderaugen, die in dem kleinen Kindergesicht zu dem Mann hinauf sahen, der sein Vater war und doch fremder als so mancher flavischer Sklave im Haushalt. Er hatte mehr Stunden mit seinem makedonischen Hauslehrer und Sklaven verbracht, hatte öfters gebannt den Lippen dieses Griechen gelauscht als die Worte von Flavius Gracchus vernommen. Dennoch barg selbst eine noch so belanglose Äußerung von eben diesem Flavius Gracchus mehr Faszination als die Schilderung eines ganzen Eroberungszuges durch den Makedonier. Der jüngere Flavier sog kurz die Unterlippe in seinen Mund als er die leichte Berührung an seinem Kopf spürte. Aber doch erstaunter blinzelte er bei dem, was sein Vater von sich gab. Er kannte diesen Onkel Quintus nicht. Aber es klang viel versprechend. „Ist mein Onkel Quintus so alt wie ich, Pater?“, fragte Quintus darum. Wenn er ihm überaus ähnlich war, musste er klein sein, etwas blass und vor allem an Jahren ähnlich. Und abwegig, einen Onkel zu haben, der ein kindlicher und jugendlicher Spielgefährte sein könnte, war es auch bei den Flaviern nicht.


    Abermals schwand die Unterlippe und wurde von einem Eckzahn grübelnd untersucht. Sicher, ob er den Sinn und die Absicht verstanden hatte, und somit adäquat seinem Vater antworten konnte, war sich Titus nicht. Er wollte jedoch seinen Vater nicht enttäuschen. „Sie war lang. Ich habe mich aber schon sehr auf Rom gefreut.“ Denn das große Rom erschien dem Jungen sehr viel spannender als das Exil auf dem Lande. Löwen wurden hier in dem Circus gehalten. Gladiatoren kämpften gegen Giraffen. Zumindest hatte ihm das ein Sklave erzählt. Und vor allem lebte der Kaiser hier. Und Kaiser waren per Definition große Männer. Auch wenn er die Reden des letzten Jahres von den Erwachsenen diesbezüglich nie verstand. Sie redeten seltsam. Von Verrätern, von unfähigen Männern, von Putsch und Revolte. Unfug in den Augen des jungen Titus.


    Titus sah auf sein Schlachtfeld in spe hinab, auf die Truppen, die sich bereit gemacht hatten an den Ufern Ägyptens zu landen. Und auf die kleinen Stöckchen mit Rosinenköpfen. Titus kniete sich neben der Spur aus Getreide auf den Boden. Seine Finger griffen nach den Stöckchen und er hob zwei davon in die Höhe. „Das sind die bösen Truppen der Königin des Nils, Klepatata.“ Er konnte den Namen der Ägypterin und Ptolemäerin einfach nicht richtig über die Lippen bringen. Er setzte die Stöckchen wieder zwischen die Getreidekörner. Mit einer Hand deutete er auf die blaue Seide. „Das Meer ist wild und stürmt. Es ist das Mittelmeer. Ich habe das Mittelmeer gesehen, Pater...“ Er nickte ernst. „Und hier kommen die Truppen des großen Augustus. Sie wollen in das Nilland fahren... Ägypten...?“ Titus musste kurz bei dem Namen des Landes überlegen. „Auf den Booten steht Kaiser Augustus selber.“ Er hob eine Nussschale in die Höhe. „Und er fährt mit seinen Männern mit.“ Dann deutete er auf das Getreide. „.. um einen Verräter zu fangen. Und die böse Königin zu bestrafen“ Lebhaft war die Mimik des Jungen. Für ihn waren das nicht einfach Nussschalen, in denen eine kleine hölzerne Römerfigur stand oder aber ein Bauschen von blauen Stoff auf einem Steinboden. Auch das Getreide war in seinen Augen nun der Sand der ägyptischen Wüste und die kleinen Stöckchen frevelhafte Soldaten. „Warst du schon in Ägypten, Pater?“ Titus sah von den 'Feinden' auf und große Neugier und Wissbegierde stand in den Augen des Jungen, der aufgrund seiner Kränklichkeit zu gerne 'geschont' wurde.

  • "Nein"
    , schüttelte Gracchus bedauernd den Kopf, wurde er doch sich wieder einmal dessen sich bewusst, wie sehr er jenen Quintus in seinem Leben misste - denn zweifelsohne wäre dies der Gracchus geworden, welchen sein Vater stets hatte erhofft, zweifelsohne hätten sie gemeinsam viel einfacher all die Pflichten erfüllen können, zweifelsohne hätten sie alle Bedenken und Schrecken gemeinsam tragen, gleichwohl alle Freude und alles Glück - welches selten genug sich zutrug - gemeinsam teilen können. Stets hatte Gracchus nach diesem Bruder sich gesehnt, welchen er in seinem verbliebenen Bruder Lucullus nie hatte finden können, welchen er bisweilen mehr noch in Caius Aquilius und Marcus Aristides hatte gefunden.
    "Quintus ist leider schon vor langer Zeit von uns ge..gangen. Er war so alt wie ich, auf den Tag genau."
    Tatsächlich war er für Gracchus gar zweimalig verstorben, doch das Kapitel des Quinus Tullius in seinem Leben war eines, welches er ungern nur eröffnete - obgleich ein Freibeuter in seiner Familie den kleinen Titus zweifelsohne weniger verschreckt oder beschämt, denn mehr begeistert hätte.
    "Gut"
    , konstatierte er sodann auf die wenigen Worte seines Sohnes bezüglich seiner Reise, welche den Vater durchaus zufrieden stellten - nichts von Furcht war darin zu vernehmen, kein Gram und keine Traurigkeit -, glaubte er doch, dass Titus andernfalls mehr Inkonvenienz hätte geäußert - womit diese Thematik für ihn abgeschlossen war. Er begutachtete das Schlachtfeld, folgte überaus interessiert Titus' Ausführungen zu den vorherrschenden Gegebenheiten auf dem Fußboden.
    "Klepatata"
    , wiederholte er leise und ein Hauch von Sehnsucht schwang in diesem Namen mit, denn während 'Kleopatra' und damit der Atem der Geschichte ihm doch recht dröge und alltäglich erschien, so barg 'Klepatata, Königin des Nils' doch einen Anklang von fantastischem Abenteuer in sich, einen Traum nach fernen, märchenhaften Ländern und Begebenheiten, eine phantasievolle Imagination prächtigen, bunten Lebens - weshalb es dem Vater keinesfalls befremdlich schien, dass Titus seiner Königin einen solchen Namen gab.
    "Nein, ich war noch nie in Aegyptus, was dur'haus deplorabel ist, da es mir nun niemals mehr erlaubt sein wird. Das gesamte Land ist Eigentum des Imperators, weshalb es keinem Senatoren gestattet wird, es zu betreten."
    Da Gracchus ob der inkommoden Positur allmählich ein Ziehen in seinen Knien verspürte, ließ er sich schlussendlich gänzlich auf den Fußboden hinab, so dass er nun neben dem Mittelmeer saß. Er pickte ein Getreidekorn auf und betrachtete es nachdenklich.
    "Was hat die Königin getan, dass der Augustus sie be..strafen muss?"

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  • „Wohin ist er gegangen?“, fragte Titus. Die kryptischen Andeutungen der Erwachsenen waren dem Jungen noch zu rätselhaft. Wer gehen konnte, musste also ein Ziel gehabt haben. „Warum ist er so alt wie du, Pater? Wenn er dein Bruder ist? Ist er am selben Tag geboren worden?“ Titus sah seinen Vater mit einem Moment der Ratlosigkeit an. „Ist er weg gegangen, weil er zu den Soldaten wollte?“ In den Augen des Knaben leuchtete es einen Moment auf. Womöglich war dieser Quintus irgendwo als Feldherr unterwegs und führte die Truppen des Kaisers gegen Barbaren. Der flüchtige Moment, in dem Titus den Umstand bedauerte, somit keinen weiteren Spielgefährten zu erlangen, er währte nicht lange. Titus hatte bereits etwas neues gefunden, was seine Phantasieschwingen auf Reisen bringen konnte. Ein Onkel, der ein Feldherr war und mit seinen Truppen fremde Länder eroberte. Der Junge stupste mit seinen Sandalenspitzen gegen das Korn. Schon morgen würde er die Berge von Syrien mit Steinen und Grasbüscheln erbauen und dann die Eroberung Parthias nach spielen. Die sein Onkel im Namen des Kaisers voll führt hatte. Nur, wer war dort der Bösewicht? Dafür müsste sein Hauslehrer morgen in den frühen Stunden Auskunft geben.


    Welcher Gedankenwelt erwachsene Menschen um Titus herum besaßen, war für den Knaben oftmals reichlich schleierhaft. Was gut bedeuten sollte, genauso. War gemeint, dass er gut geantwortet hatte oder das eine andere Angelegenheit gut war? Aber der Junge erinnerte sich: Frage nur den Hauslehrer aus, deine Eltern lass in Frieden. Zumindest hatte ihm das seine Mutter in den raren Zeiten, die sie ihrem Sohn mal gegönnt hatte, vermittelt. Seine Fragen schienen die Claudierin auch oft zu irritieren. Titus, geh zu deinem Lehrer. Störe mich nicht länger. Das waren stets ihre Worte. Aber der Gedanke des Jungen war so flüchtig wie der Dunst über dem Kochtopf des dicken Sklaven in der Küche.
    „Was bedeutet 'deplorabel'?“ Der gute Vorsatz, den er eben noch hatte, war gänzlich zerstört. Drängend die Frage nach der Bedeutung. Ob es ein griechisches Wort war? „Ist das so, weil die Senatoren Caesar getötet haben?“, fragte der Junge unverfroren. Seine Augen waren ernst auf seinen Vater gerichtet. Ob darin Enttäuschung sich spiegelte, weil sein Vater das fremde und exotische Land Ägypten niemals besuchen dürfte? Wohl weniger. Es war für den Jungen mehr ein Haufen von Getreidekörner als ein inniger Wunsch, dort hin zu reisen. Reisen waren langweilig. Reisen waren anstrengend und Hitze mochte der Knabe auch im Grunde nicht. Er spielte viel lieber die Abenteuer nach. Darum war er auch nicht sonderlich unfroh, sein Abenteuer dem Senator und Vater erklären zu sollen.


    Viel eher schlich sich wieder der aufgeregte Glanz in die Augen des Jungen. Welche Abenteuer waren denn besser als die, die man selber mit den Händen formte? Er war der Augustus dieser Gemächer, was die kleinen Figuren mit den Rosinenköpfen betraf. Titus hob einen Stecken mit einer besonders großen Rosine an. „Klepatata ist die böse Königin. Sie herrscht über den Nil mit seinen Krokodilen und Nilpferden.“ Die Menschen dazu zu erwähnen, über die sie herrschte, erschien Titus beifällig. Sie herrschte über Nilpferde. Nilpferde hatte er nur auf Bildern gesehen und war schwer beeindruckt gewesen. Er wackelte einige Male bedeutungsvoll mit der Rosinenkopffigur herum. Dann griff er einen anderen Stecken, der jedoch eine trockene Olive als Haupt besaß. „Das ist der böse Marcus.... Aurelius.“ Titus lächelte strahlend. Er meinte zwar jemand gänzlich anderen, aber solche Nebensächlichkeiten waren für den Knaben eben... nebensächlich. Auch wenn er dem Philosophen sicherlich nichts andichten würde. „Die böse Klepatata hat ihn zum Manne gewählt und er sie zur Frau. So sagt mein Hauslehrer. Was heißt das eigentlich...?“, warf er zwischendurch fragend ein. Ade guter Vorsatz, Eltern nicht zu belästigen. „Und darum ist er nun auch böse. Und der große Augustus wird die Menschen vom Nil befreien. Und vor allem wird er die Nilpferde befreien.“ Titus nickte ernsthaft. „Sind Nilpferde alles Götter?“, fragte er und wieder sahen große Augen in einem schmalen blassen Gesicht zu dem Senator hinauf.

  • "Quintus ist ... gestorben, schon vor langer Zeit."
    Zumindest Quintus Gracchus - andererseits indes lag auch der Tod des Quintus Tullius bereits länger zurück als Titus an Jahren zählte, so dass für den Jungen beide Ereignisse augenscheinlich lange Zeit würden zurückliegen.
    "Er wurde am selben Tage ge..boren wie ich, nur wenige Augenblicke vor mir. Wir waren … Zwillinge - wie Remus und Romulus."
    Unbezweifelt wäre Quintus die Rolle des Romulus zugefallen, hätte er Flavius Gracchus werden sollen, wäre zweifelsohne ein besserer Flavius Gracchus geworden, hätte er nur die Chance dazu erhalten - dessen war Gracchus sich sicher.
    "Er wurde nicht alt genug, um ein Soldat zu werden. Irgendwann einmal werde ich dir diese Geschi'hte erzählen, aber … aber nicht heute."
    Er wollte an diesem Tage nicht über Verrat sprechen, über die Sklavin, welche den flavischen Sohn hatten geraubt, nicht über das Feuer, in welchem alle den Jungen tot hatten geglaubt, über den Patrizier, welcher ohne seine Herkunft zu erahnen als Peregriner herangewachsen war, über das eigentümliche Zusammentreffen der Zwillinge, die List des Quintus Tullius, den Raub der Leontia und das Ende dieser beiden - und doch gemahnte der Vater sich ehern, dies alles einmal Titus zu berichten. Gedankenverloren rückte Gracchus das maritime Tuch ein wenig zurecht, so dass die Amplitude der Wellen entlang der Küstenlinie ein wenig gleichförmiger sich darbot.
    "Wenn etwas deplorabel ist, so ist es sehr bedauerlich. Ich wäre zu gerne einmal nach Aegyptus gereist … nein"
    , er stockte kurz, um sich zu korrigieren.
    "Nein, die Reise an sich hätte ich beileibe nicht gerne unternommen, denn diese Reise dauert lange und um..fasst eine Fahrt über das Meer."
    Er wies unbestimmt auf den blaufarbenen Stoff.
    "Ich finde keinen Gefallen am Meer - wie du ganz recht erkannt hast, ist es wild und unbere'henbar."
    Über dieses tückische Wasser vergaß Gracchus gänzlich auf den Rest Ägyptens, welchen er gerne hätte gesehen - Alexandria, das Museion, der alte Palast, die fremden Tempelanlagen und all die anderen exotischen Orte, von welchen er nur gelesen oder gehört hatte. Er deutete auf die auf einen Stock gespickte Olive.
    "Dein Lehrer nannte ihn zweifelsohne Marcus Antonius, und zur Frau hatte er Cleopatra gewählt - sie hatten entschieden, miteinander zu leben, ähnlich wie deine Mutter und ich, auch wenn Antonius und Cleopatra nicht verheiratet waren."
    Letztlich war dieses Detail der Historie umstritten, wie auch der Vergleich nicht sonderlich treffend war, hatten sich Antonius und Cleopatra doch aus freien Stücken füreinander entschieden, während Antonia und Gracchus mit ihrer Ehe rein relationalen Überlegungen waren gefolgt.
    "Allerdings ist diese Geschichte Ver..gangenheit."
    Der ältere Gracchus mochte Historie gerne lesen - respektive verlesen lassen -, sich hinfort tragen lassen vom Klang der Worte, von der Ästhetik der geschilderten Bilder, von epischen Umschreibungen und detaillierten Berichten eines vergangenen, doch realen Geschehens, welche er parallel dazu in seinem Geiste imaginierte - doch befreit von den Strängen determinierter Sätze drängte es ihn in seiner Phantasie weitaus mehr danach, neue, unnachahmliche Abenteuer zu spintisieren, wenn auch bisweilen auf Basis eines Teil der Historie - etwa als Heroe dieser Geschichten selbst der Kleopatra zu verfallen, Octavian zu besiegen und das römische Reich zu beherrschen - obgleich dies sich nur in Tagträumereien äußerte und nicht in spielerischer, plastischer Realität.
    "Darob ist es zweifelsohne weitaus interessanter zu explorieren, was mit Klepatata und Aurelius und … den Nilpferden geschieht."
    Er äußerte dies vollkommen ernsthaft, blickte suchend über den Getreide-Sand hinweg, konnte indes noch keine Nilpferde entdecken - vermutlich da sie noch gefangen waren.
    "Wären Nilpferde Götter, so müssten sie kaum wohl befreit werden, nicht wahr? Es sind schli'htweg Tiere, ident zu anderen Pferden - allerdings sind sie weitaus dickleibiger, groß wie die größten Rinder, mit Stoßzähnen und flacher Nase, zumeist graufarben und mit einer sehr dicken Haut."
    Ein Hippopotamus zu Gesichte zu bekommen war in Rom durchaus nicht alltäglich, wiewohl Gracchus dazu tendierte, im Anblick des leibhaftigen Tieres dies ob seiner massigen Gestalt mit einem Nashorn zu verwechseln - welchem er ebenso selten war angesichtig geworden - und in Folge dessen nicht genau wusste, wie ein Nilpferd hatte auszusehen, sich darob halbwegs an die Beschreibung des Herodot hielt, welche ihm jedoch gleichfalls nicht mehr im Detail präsent war.
    "Sofern du dies wünschst, so können wir einmal die scholae bestiarum visitieren, denn ich meine mich zu ent..sinnen, dass sie dort auch Nilpferde halten."
    In Erinnerung an die Tiere des Ludus Matutinus wurde er sich dessen gewahr, dass er für Minors Löwe würde Sorge tragen müssen, denn mit dessen Mannwerdung stand ihm ein solcher im flavischen Familienrudel zu - und auch sein eigener Löwe musste ersetzt werden, war dieser doch während des Bürgerkrieges verendet - ein Umstand, welchen Gracchus nicht allzu sehr bedauerte, war es doch ein überaus klägliches Tier gewesen.

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  • Gelinde Enttäuschung zeichnete sich auf den Gesichtszügen des Knaben ab. Sein Onkel war also kein glorreicher Feldherr. Er hatte noch nicht mal als Soldat gedient. Womöglich war er ebenso Senator gewesen. Die kindlichen Augen starrten auf das fremde Land Ägypten, doch im Nu waren regen Gedanken des Jungen wieder angeregt. Er sah seinen Onkel auf den Stufen des Senates, ein Dolch in seiner Brust, das Blut auf dem hellen Marmorboden verteilt. 'Et tu...?', echote es in den Geisteshallen des Titus Gracchus. Die Lippen des Knaben wandelten sich zu einem ergötzten Lächeln. Nein. Es war keine Grausamkeit, die den kleinen Patrizier von gerade mal 6 Sommern dazu anregte. Viel mehr die Aufregung über Abenteuer, Verschwörungen und dramatischem Geschehen. Er sah zu seinem Vater, Manius Gracchus, nach oben. Ein Mann mit imposanter Gestalt und einer Aura des Undurchdringlichen. Hatte er seinen eigenen Bruder getötet? Sein Vater besaß gleichsam seiner Mutter, Claudia Antonia, den Status eines Gottes. Sie waren unantastbar und in seinen Augen allmächtig. Also war Manius Gracchus aus dem Geschlecht des Romulus. Ein weiteres feines Lächeln streifte sein Antlitz und er schwelgte kurz in diesen Vorstellungen. Sein Hauslehrer fand schon seit früher Zeit bei dem Knaben mehr Begeisterung für die Geschichten der Götter und der Sagen als für manche geschichtlichen Fakten. Darum verpackte es der Lehrer dem Jungen auch immerzu in spannenden Geschichten, wenn er von Zeiten der römischen Vergangenheit sprach. Ähnlich wie Heroensagen, die den Jungen zum Spiel animierten.
    „Dann führt Onkel Quintus im Olymp die Streitkräfte im Kampfe an.“, sprach der Knabe und sann gleich über göttlichen Schlachten und große Kriege, die womöglich dort oben ausgefochten wurden. Es konnte doch unmöglich sein, dass es im Jenseits der elysischen Feldern nur mit Milch und Honig, Musik und Tanze ständig einher ging. Wie ungemein langweilig. Sicherlich würden sich all die toten Kaiser und Feldherren dort nicht sonderlich mögen und weiter um ihre Macht kämpfen. Und dazwischen die göttlichen Kreaturen, die fantastischen Gestalten mit Hörnern, Flügeln und Tiergestalten. Hinfort war in seiner Gedankenwelt der Krieg gegen Parthia, morgen würde er den Kampf von Quintus Gracchus gegen die Heerscharen der Minotauren ausfechten, gegen Gorgonen und … und... „Wie heißen die Wesen mit den Schlangen als Haare?“, fragte Titus sinnierend als er sich das feindliche Heer ausmalte. „Quintus muss auch einige von ihnen morgen erschlagen.“, sann er leise murmelnd und sog dabei prüfend in Gedanken die Unterlippe zwischen seine Zähne. Ehe ihm ein Gedanke kam, den er vorher schon als Frage zu äußern gedachte und zu seinem Pater hoch blinzelte.
    „Romulus hat Remus erschlagen.“ Die Frage, ob Gracchus es Romulus gleich gemacht hatte, schwang bei diesen Worten mit. Aber in der Tat, Titus hatte die Ahnung, dass er eine derartige Frage nicht so ohne weiteres stellen durfte.


    Titus beugte sich zu dem blauen Stoff, auf das Gracchus eben noch gezeigt hatte und schüttelte es, so dass es aufgeregte Wogen und Muster bildete. „Es ist auch gefährlich. Skylla und Charybtis leben dort tief drin und immer wieder kommen sie und fressen ganze Schiffe auf.“ Titus mochte es selber nicht, zu reisen. Er hatte das Leben gehasst, dass sie führen mussten als er als Junge von gerade mal vier Jahren aus Rom fort musste. Das Holpern auf den Straßen, das Schaukeln der Sänften, immer in fremden Häusern. Das Meer hatte er nur wenige Wochen sehen dürfen jedoch und es hatte seine Faszination geweckt. Aber Skylla fürchtete er seit jenem Tag, als sein Hauslehrer ihm von diesem Ungeheuer berichtete. Ein Unterleib aus sechs Hunden. Der Knabe schauderte auch jetzt. Er hasste Hunde. Und sie mochten ihn nicht. Unwillkürlich fasste er sich an die Schulter. Dort, wo er vor einigen Monaten von einem der Hunde der claudischen Villa gebissen worden war. Der Sklave, der den Hund bewachen sollte, wurde ausgepeitscht und überlebte nicht. Der Hund war auf der Stelle erschlagen worden. „Ich hasse Hunde.“, murmelte Titus und sah kläglich auf das Wasser in Stoffform. „Haben wir Hunde in der Villa?“ Er war ein Kind und seine Gedanken darum sprunghaft, aber der Schmerz war ihm augenblicklich wieder in Erinnerung gekommen. Und die Angst, die er damals hatte, dass der Hund ihm die Kehle zerfetzen würde.


    Dignitas. Der Knabe riss sich schnell zusammen. Denn er wollte zu gern weiteres von seinem Vater hören, der so viel mit ihm sprach wie in seinem ganzen Leben nicht. Was auch keine große Kunst war. Mit vier Jahren war der Junge kaum in der Lage, einen Dialog mit Manius Gracchus zu führen und seitdem war er von seinem Vater getrennt gewesen. „Cleo-pa....ta-ta!“ Titus suchte danach, es richtig auszusprechen. Er wusste, dass er den Namen immer falsch auf der Zunge hatte.
    Gleichsam fasziniert lauschte er den Erläuterungen über die Nilpferde. Dickhäutige Tiere waren sie also. In der Tat, es klang glaubhaft. Dennoch lächelte Titus Gracchus nachsichtig bei den Erzählungen seines Vaters. Mit der Nachsicht eines Kindes, das meinte, die Erwachsenen würden mal wieder das Offensichtliche nicht erkennen können. „Dann sind nicht alle Nilpferde Götter. Aber eines muss es sein. Sonst wäre der Nil kein Gott. Und das Nilpferd sein göttliches Tier.“ Es war kein Widersprechen, sondern ein Weiterspinnen des Gedanken. „Und was ist mit Kronos? Er wurde von Zeus gefangen genommen und gefesselt. Er müsste auch befreit werden.“ Galten Titanen etwa nicht als Götter, wo sie doch die Eltern der Götter waren? Erneut biss sich Titus nachdenklich auf die Unterlippe.


    „Ja.“, sprudelte es prompt begeistert von ihm heraus. „Wann können wir dorthin gehen?“ Er würde zu gerne ein Nilpferd sehen. Aber auch Elefanten, Straußenvögel, Krokodile und all die Wunder, die es in den fremden Ländern gab. Suchend sah er sich nach etwas um, das ein Tier mit Stoßzähnen sein könnte: einem Nilpferd, wie er es von Gracchus beschrieben bekommen hatte.

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