Ein Schritt. Es fiel ein feiner Regen. Noch ein Schritt. Nacht lag über der Stadt, der Mond war hinter den Hügeln untergegangen. Meine Beine waren aus Blei. Die Tropfen legten sich sacht wie ein Schleier auf meine fiebrige Stirn... Das Pflaster der Straße glänzte, in den Fugen zwischen den Steinen krochen kleine Rinnsale entlang. Wo war ich...? Die Häuser lagen in Dunkelheit, die Fensterläden verrammelt. Von irgendwo Fackelschein. Ich hustete. Ich war auf dem Weg nach Hause...oder nicht? Ich ging durch ein Labyrinth. Der Palatin lag hinter mir... ich hätte meinen Weg hinaus nicht mehr beschreiben können... alles verschwamm... die ungeheuer unglaublichen Ereignisse der letzten Zeit, die das Fassbare sprengten..... der Dialog mit dem bizarren Automaton auf dem Thron... es war nur mehr wie ein wirrer Albtraum.
Schlieren lagen über den Dingen wie der Regen auf einer Scheibe... Mein Schädel dröhnte, meine Augen brannten. Ich rieb sie mit den Fäusten, um endich wieder klar sehen zu können, um die Schlieren vor den Dingen zu vertreiben... und strauchelte, knallte mit den Knien auf das Pflaster... aber selbst der Schmerz war irgendwie weit weg. Ich stützte die Hände auf das nasse Pflaster, versuchte mich aufzurappeln. Aber mein ausgezehrter Körper wollte einfach nicht mehr. Dann fiel mein Blick auf... etwas seltsames. Ich hielt inne, blinzelte, rieb mir wieder die Augen. Starrte benommen auf das kleine Ding, das da vor mir auf der Straße stand. Als hätte jemand gewußt, dass ich an dieser Stelle stolpern würde, und es für mich bereits gestellt... nein...? Der Druck in meinen Schläfen wurde stärker.
Ein zierliches Figürchen war es, kaum daumenhoch, ein heller Schimmer in der Dunkelheit. Ich nahm es mit zittriger Hand, achtsam das filigrane Gebilde nicht zu zerdrücken, führte es näher an meine Augen heran. Es war die Gestalt eines Tieres, aus Papyrus kunstvoll gefaltet... ein Pferd?... nein, ein Einhorn.
"Dideldum, dideldei..." drang die Stimme eines Mädchens an mein Ohr, und dann sah ich... und sah es doch nicht richtig, eher wie ein flüchtiger Eindruck aus den Augenwinkeln... das Kind, in einem fremdartigen blauen Kleid, auf mich zu hüpfen.
"Verzeihen Sie Sir, haben Sie vielleicht das Kaninchen gesehen?"
Sie trug eine Schleife im blonden Haar und sah mich ernsthaft an. Ich hätte nicht sagen können, in welcher Sprache sie zu mir redete. Ich räusperte mich.
"Ich... bedaure, nein... Lediglich dies..." Ich hob die Hand mit dem Figürchen um es ihr zu zeigen... und bemerkte, dass ich nun an Stelle des kleinen Einhorns ein Knäuel Faden in der Hand hielt. Ein Ariadnefaden dachte ich. Das Mädchen war nicht mehr da. Ein Strang verlief von dem Knäuel aus, von meiner Hand fort, die Straße entlang...
Ich folgte ihm mit dem Blick. Und mit einem Mal... war es wäre eine Blindheit von mir genommen... sah ich noch viel mehr Stränge, Stränge allenthalben, alles war von Strängen durchzogen, durchknüpft, und in das Gespinst von Strängen waren Buchstaben eingewebt, Buchstaben die sich zu Worten formten, und zu Sätzen, und zu Texten... und alles war nur nur noch Strang und Wort, die Straße vor mir, die Häuser um mich, die Hügel und der Himmel über ihnen...
"Nein." flüsterte ich entsetzt. Ich blickte auf meine Hand. Auch sie war nicht mehr länger ein Ding von Haut und Sehnen und Fleisch... auch hier sah ich nur mehr ein Gespinst feiner Lettern.
"Es... es ist alles nicht real."
Und da zerbrach der Himmel. Ein Riss ging durch die Welt, quer durch die Hügel und Tempel und Menschen von Strang und Wort, quer durch das SEIN klaffte ein riesiger Spalt. Dahinter war nur abgrundtiefe Schwärze.
"Nein..." schluchzte ich, "..das darf nicht sein..." Meine Tränen tropften als dramatisch geschwungene "L"s, "A"s, "C"s, "R"s, "I"s, "M"s, und "AE"s auf die Lettern der Straße.