• Nach nur wenigen Schritten Weges gelangten die Brüder am Rande des Marsfeldes entlang an’s Theatrum Marcelli, ein an sich sehr imposanter Komplex, der noch nicht die Gigantomanie jüngerer Bauwerke aufwies. Antias hatte trotzdem kaum Augen für die wohlproportionierten Arkaden. Ihm gingen ganz andere Dinge durch den Kopf. Das Gespräch mit Senator Sedulus hatte ihm wieder einmal vor Augen geführt, wie wenig sich für einen einfachen Miles in Roma erreichen ließ, ohne Beziehungen, ohne Kontakte, ohne Kungeleien. Kaum eine Stunde war vergangen, seit er Ferox die Vorzüge des Militärdienstes in der Urbs dargelegt hatte, jetzt begann er selbst daran zu zweifeln. Er war kein Römer. Römischer Bürger, das schon, aber dennoch kein Römer. Vielleicht gehörte er hier einfach nicht her. Aber wohin dann? Die Welt endete nicht an den Grenzbefestigungen, vielleicht war sie noch weit größer als er dachte? Vielleicht lag seine Bestimmung jenseits dieses wohlgeordneten, um sich selbst rotierenden Imperiums?


    Die schweren Schritte neben ihm brachten ihn etwas ab von diesen fressenden Zweifeln. Den Göttern sei's gedankt, hatte er ja noch seinen Bruder. Ferox machte einen ausgesprochen gelösten Eindruck, wie er da wachen Blickes neben Antias her marschierte. Natürlich, für Ferox war das alles hier völlig neu, schon die schiere Menge an strahlenden Prachtbauten wollte erst einmal verarbeitet sein. Lächelnd legte er seinem Bruder die Hand auf die Schulter. „Komm, da lang .. wir müssen rüber auf die Tiberinsel.“ Hellbraun und träge schob sich der Tiberis unter der Brücke hindurch, fahlgelb und träge hing die Wintersonne über dem Tempel des Aesculapius, meergrün und träge wurden seine Gedanken beim Anblick Trans Tiberims am jenseitigen Ufer. Mitten auf dem Pons Cestius blieb Antias stehen und beugte sich versonnen über den niederen Mauersims. „Ferox ..“ begann er etwas unsicher. „.. ist dir eigentlich klar, dass es den Mannschaftsgraden nicht erlaubt ist, zu heiraten?“

  • Staunend hatte Ferox die Wunder der Großstadt betrachtet. Jetzt, wo er sich nicht darauf konzentrieren musste, sich nicht zu verirren, weil Antias ihn führte, konnte er seine ganze Aufmerksamkeit den kunstvollen Bauwerken widmen. Wie man es schaffte, die riesigen Steinmonumente aufzutürmen, ohne dass sie wieder zusammenstürzten, war ihm, der nur Holzdächer gewohnt war, ein Rätsel. Und mitunter auch etwas unheimlich.


    Er genoss den Spaziergang durch die winterliche Stadt. Es war die erste Unternehmung, die er mit seinem Bruder gemeinsam machte und er würde sie sein Leben lang nicht vergessen, dessen war er sicher. Ein Funke der verpassten gemeinsamen Kindheit erwachte in ihm und plötzlich hatte den Drang, Antias einen Schneeball von hinten in die Tunika zu stopfen und sich an seinen Verrenkungen zu erfreuen und die zu erwartende Vergeltung in eine Schneeballschlacht gipfeln zu lassen. Nur leider lag hier kein Schnee.


    Mitten auf einer Brücke blieben sie stehen. Ferox stützte sich neben Antias auf die Mauer und beugte sich nach vorn, um mit ihm zusammen das Wasser zu betrachten, dass die Pfeiler umspülte. Ein Gefühl von Verbundenheit breitete sich in Ferox` Herzen aus - ein Gefühl, von dem er nie geglaubt hätte, dass es jemals ausgerechnet seinem Bruder gelten würde. Ihre Spiegelbilder schauten ihnen verzerrt entgegen.


    Zum Baden einladend sah die Farbe des Tiber nicht gerade aus. Ob das an den Abwässern der Bewohner lag? Ferox ertappte sich dabei, wie er nach im Fluss treibenden braunen Würstchen Ausschau hielt.


    Als sein Bruder ihn darauf hinwies, dass man in den Mannschaftsgraden nicht heiraten durfte, zuckte Ferox mit den Schultern. „Mich will doch sowieso keine haben. Ich habe keinerlei Ahnung vom Leben in Roma, weiß nicht, wie man sich angemessen benimmt – ich bin mit einem Maultier in die Casa getrampelt, weil der Sklave vergessen hat, es in den Stall zu führen und ich glaubte, dass hätte so seine Richtigkeit!“ Er schüttelte den Kopf und lachte über sein eigenes trampliges Verhalten. Jedoch verstummte er wieder, als er Antias` nachdenkliches Gesicht sah. „Bedrückt dich etwas, Brüderchen?“

  • Über die Selbsteinschätzung seines Bruders musste Antias dann doch leise lachen. „Was redest du denn für einen Quatsch, Ferox. Guck mal ..“ Tief über den Sims gebeugt begann Antias die groteskesten Grimassen zu schneiden. Der Fluss gab sie leicht verschwommen wieder, was sie noch skurriler wirken ließ. „Der Tiberis spiegelt die Wahrheit, du bist eindeutig der schönere von uns beiden. Außerdem ..“ Jetzt sprach er mit dem wogenden Spiegelbild seines Bruders, und damit er es da unten auch gut genug hören konnte, krähte Antias auf das Wasser hinab wie eine Harpyie. „Die gelangweilten Weiber von Roma dampfen geradezu nach brünstigen urigen Waldbären wie dir! Dass gerade ein paar dieser gelangweilten Römerinnen tratschend hinter ihnen vorbei flanierten, störte Antias nicht im geringsten. Die Wahrheit durfte gesagt werden, auch gekräht.


    Eine Weile sah er schweigend auf die beiden hellbraunen Köpfe hinab, dann spuckte er sich quasi selbst in’s Gesicht und wandte sich ernst zu Ferox um. Ob ihn etwas bedrückte? Vielerlei. Aber nicht mit allem davon wollte er Ferox belasten, schon gar nicht an ihrem ersten Tag als Bruder und Bruder. „Ach, weißt du ..“ Sein Blick schweifte zu den Dächern von Trans Tiberim hinüber. „.. Roma ist bis zum Bersten voll von Weibern, aber wer braucht die schon alle? Varus war Soldat. Er wusste ganz genau, dass er sowieso keine seiner Frauen heiraten durfte, also fühlte er sich auch keiner wirklich verpflichtet. Mir reicht eine einzige völlig aus, aber ich will nicht den gleichen Fehler machen wie er.“ Was faselte er da zusammen? Es ging heute nicht um ihn. Ferox hatte schon genug an all dem Neuen zu knabbern. Antias holte sich sich umständlich sein Lächeln zurück. „Ich .. ähm .. vergiss es. Ich wollte dich nur nochmal drauf hinweisen, ist ja nicht grade nebensächlich, nicht wahr?“

  • Hinter ihnen quiekte es leise, als Antias so unvermittelt losplärrte. Ferox fuhr herum, ein Grüppchen von Frauen, die wohl gerade einkaufen gewesen waren, wie man an den vollen Lebensmittelkörben sah, starrte die beiden Brüder mit einer Mischung aus Erschrockenheit und Belustigung an. Auf das Stichwort 'Waldbär' hob Ferox die Hände wie Bärentatzen und lief brüllend auf die Frauen zu. Kreischend rannten sie ein Stück davon, ehe sie wieder langsam wurden, kicherten (oder ihn kopfschüttelnd auslachten) und verschwanden.


    Ein Apfel, den sie verloren hatten, kullerte über das Pflaster. Ferox hob ihn auf und wischte ihn an seiner weißen Tunika sauber, die daraufhin nicht mehr ganz so weiß war. Er biss kräftig ab und schnurpste, während sein Bruder erzählte.


    „Das hört sich ein wenig so an, als ob du da eine im Auge hättest“, bohrte er nach. „Du eierst immer in irgendwelchen nebulösen Andeutungen rum.“ Er grinste und stieß Antias mit dem Ellebogen an. „Also entweder du erzählst jetzt, was dir auf dem Herzen liegt oder du hörst auf, mich neugierig zu machen, sonst platze ich.“


    Nebenbei überlegte er, ob die Sache mit den Damen, die auf 'Waldbären' standen, wohl stimmte oder ob das nur einen Scherz auf Kosten von Ferox` nicht gerade spärlicher Körperbehaarung war.

  • Respekt, wenn Ferox einmal Witterung aufgenommen hatte, gab er nicht so schnell auf. Fürwahr, sie konnten nur Brüder sein. Mit einem schrägen Lächeln schnappte Antias nach Feroxs frisch erbeuteter Baumfrucht, biss einmal kräftig ab und gab sie ihm kauend wieder zurück. „Ga ich ger Wurm grin ..“ schmatze er lautstark vor sich hin. „..gegch nich im Agchel .. hie Phrauen meim ich ... Momemp.“ Da hatte er sich wohl etwas zuviel abgebissen, das schien überhaupt eines seiner größten Talente zu sein, erst abbeißen und dann nicht runterkriegen. Tapfer mit den Kiefern mahlend bezwang er schließlich den klebrigen Brocken. „Es ist kompliziert.“ fasste er sein vollmundiges Gestammel schließlich knapp zusammen. Eine eisige Windbö attackierte die Brücke und brach sich mit einem schaurigen Schluchzen in den Nebenbögen. Tiberis Pater selbst schien Antias zu drohen. Sollte er. Mit den Flussgöttern hatte er ohnehin noch eine Rechnung offen, wenn sie ihn wollten, sollten sie ihn sich gefälligst holen. Mit kaltem Blick sah er noch einmal auf’s Wasser hinab und lächelte dann wieder Ferox zu.


    „Du bist hartnäckig, Parvus Frater. Tatsächlich gibt es da eine, die ich ... wie du es nennst ... im Auge habe.“ Wenn er Apolonia lediglich im Auge hätte, wäre die ganze Sache nur halb so verzwickt. „Aber sie ist nicht frei, und damit mein ich nicht, dass sie verheiratet ist, sie ist eine Serva.“ Verflucht, er wusste wirklich nicht, wie er Ferox gegenüber mit dieser Angelegenheit umgehen sollte. Einerseits hatte er seinem Bruder ein Vorbild an Korrektheit und standesgemäßem Verhalten zu sein, andererseits wollte – nein konnte – er Ferox nicht belügen.“Na komm, verschwinden wir hier, bevor uns in diesem arschkalten Wind die Ohren abfallen.“ Seufzend nahm Antias sein Bündel wieder auf und stiefelte voraus auf den Trastevere zu.


    Kaum hatten sie die erste größere Quergasse des Viertels erreicht, mussten sie hastig einer stampfenden Urbanerkolonne Platz machen, die in erhöhtem Marschtempo auf die Brücke zustrebte. Instinktiv ließ Antias sein Bündel fallen und nahm Haltung an, als der kommandierende Optio an ihnen vorbeimarschierte. Ein paar Gesichter kannte er vom Sehen. Das durften welche von der elften Kohorte sein, vermutlich eine heimkehrende Patrouille. „Schmuck, nicht wahr? So sieht das dann in der Praxis aus.“ raunte er Ferox grinsend zu. „Aber recht eilig haben’s die Kameraden.“ In der Tat, die hatten es sogar verdammt eilig. Etwas beunruhigt sah er den Milites hinterher. Ob es in der Urbs wohl irgendwelche Probleme gab? Ach was. Wahrscheinlich war der Optio einfach gereizt oder hungrig oder beides zusammen. Ach ja, Hunger. „Was soll’s, ist nicht unser Bier. Wir suchen uns jetzt erstmal eine gemütliche Taberna. Deine Nasenlöcher sind ja schon am Qualmen.“

  • Ferox hatte schweigend den Ausführungen seines Bruders gelauscht, während er den angebissenen Apfel verzehrte. Als Antias beichtete, dass es eine Serva war, die es sich in seinem Herz gemütlich machte, zog Ferox belustigt die Augenbrauen nach oben, aber sagte nichts. Es stand ihm nicht zu, irgendwelche Urteile zu fällen – oh nein, ihm bestimmt nicht! Er selbst war zum Glück bisher vor Armors tückischen Pfeilen verschont geblieben, aber er hatte schon so manch starken Mann vor Liebe weich werden sehen.


    Da Antias das Thema rasch wieder wechselte, urteilte Ferox, dass er die ganzen Andeutungen wohl nicht gemacht hatte, weil er mit ihm über die Serva reden wollte, sondern weil sie sich ganz ohne sein Zutun immer wieder in seine Gedanken schlich. Armer Antias! Mitfühlend betrachtete er seinen verliebten Bruder.


    In dem Moment trampelte ein Trupp von Gepanzerten an ihnen vorbei. Neugierig sah Ferox ihnen nach. Die Urbaner unterschieden sich in ihrer Ausrüstung nicht allzu sehr von den Soldaten, die er aus Mogontiacum kannte, nur dass sie gepflegter waren. Vielleicht würde auch er bald hier im Gleichschritt durch die Straßen trampeln.


    „Mir qualmen nicht nur die Nasenlöcher sondern der ganze Schädel“, erwiderte er. „Was für ein Tag! Mal schauen, wie wohl mir nach einer ordentlichen Mahlzeit ist, vielleicht starte ich der Castra Praetoria dann noch einen Besuch ab und melde mich bei den Urbanern, bevor ich zur Casa zurückkehre.“


    Von seinem Apfel war bloß noch der Stiel übrig. Er schnippte ihn davon.


    „Was ich dir noch sagen wollte … falls du mal irgendwann Hilfe brauchst – egal, worum es geht – du kannst auf mich zählen. Wenn ich dir helfen kann, dann helfe ich. Und wenn du dich mal ausheulen willst … meine Ohren sind geduldig und mein Mund schweigsam.“


    Niemand würde von Ferox auch nur ein Wörtchen erfahren, das ihm unter vier Augen anvertraut worden war.

  • Leicht zerstreut ging Antias weiter und lauschte dabei Ferox’ Plänen. Zur Castra? Sich melden? Heute noch? Sein Bruder brauchte eindeutig schnellstens etwas in den Magen, der quirlige Kerl war ja ganz überdreht. „Bei den Klöten des Mars, dich zieht’s ja gewaltig zu den Waffen, Bruder.“ lächelte er verständnisvoll und blieb stehen. „Die Sache ist nur die: Wenn du dich zur Truppe gemeldet hast, ist erstmal Schluss mit Stadtbummel. Zumindest für die ersten Monate.“ Nachdenklich betrachtete er Ferox’ liebenswert breites Gesicht. Wie ein verspielter junger Hund war sein Bruder, voll Tatendrang und Energie, arglos, offen und neugierig. Wann war er selbst zum letzten mal derart unbeschwert durch die Welt getapst? War er das jemals? Nein, er wollte Ferox’ bewundernswerten Enthusiasmus nicht mit kleinlichen Bedenken trüben, aber er würde ihn auch nicht allein durch die ihm noch völlig Fremde Urbs irren lassen. Auf keinen Fall!


    Sehnsuchtsvoll glitt sein Blick nach Südwesten. Fünf Gassen, mehr waren es nicht. Fast meinte er, sie bereits wahrzunehmen, ihren feinen Duft zu schnuppern. Sandelholz. Narde. Der ewige Ozean. Sie wusste nicht, dass er auf dem Weg zu ihr war. Sie konnte ja nicht einmal wissen, dass er endlich Ausgang erhalten hatte. Es war noch nicht spät. Ihre Überraschung würde in zwei Stunden nicht geringer sein. Eher würde ihm seine Vorfreude in der Zwischenzeit das Blut aus dem Hirn saugen. „Also gut, Ferox.“ wandte er sich wieder seufzend um. „Hier kommt mein Vorschlag: Du denkst beim Essen nochmal drüber nach. Wenn du dann immer noch so motiviert sein solltest, begleite ich dich zur Castra und komm dann eben etwas später wieder hierher zurück. Wie findest du das?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte er Ferox an der Schulter und stapfte mit ihm weiter. „Mir ist da grade ein Laden eingefallen, in den ich sowieso mal einen Blick werfen wollte, schon von Berufs wegen.“


    Die Gassen wurden enger, das Gedränge dichter. Antias rief sich die Wegbeschreibung dieses undurchsichtigen Burschen vom Stadtor noch einmal in Erinnerung. Etwa zwei Stadien südwestlich der Brücke. Nur welcher Brücke? Falls der schräge Knabe den Cestius gemeint hatte, würden sie sie demnächst vor dessen Caupona stehen. Wenn es die überhaupt gab. Antias hatte so seine Zweifel daran. Unvermittelt brachten ihn Ferox’ warme Worte zum Stehen. Es rührte ihn, dass Ferox aussprach, was Antias längst zu spüren begonnen hatte. Er vertraute seinem Bruder bereits. Überhaupt hatte er das Gefühl, ihn schon seit vielen Jahren zu kennen. „Das weiß ich, Ferox.“ einem albernen Drang folgend, packte er Feroxs kaltes Ohr und zog daran. „Und du weißt das im umgekehrten Fall sicher auch, oder nicht?“ Der Wind brannte irgendwie höllisch in den Augen. „Und nun komm, sonst fallen wir uns hier noch schluchzend in die Arme. Was sollen denn die Leute denken?“ >>>

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