• Nach Dienstschluss ging Ferox heute nicht zu seiner, sondern zur fünften Baracke. Er hatte die Paenula übergezogen, um sich gegen den hässlichen Schneeregen zu schützen. Es wurde schon dunkel. Die Härchen an seinen nackten Waden hatten sich aufgestellt. Er fragte sich immer wieder, warum sich südlich der Alpen noch keine Hosen durchgesetzt hatten. Die Legionäre im Norden waren nach einigen hundert abgestorbener Zehen inzwischen klüger, zumindest manche. Aber wenn hier in Italia jemand in Ferox` Gepäck die aus Germania Superior mitgebrachten Beinkleider fände, wäre das wohl genauso peinlich, als würde er heimlich Damenunterwäsche mit sich führen.


    Schlotternd klopfte er gegen die Tür, ehe er sie öffnete. Der Qualm der Feuerstelle schlug ihm entgegen und es roch bereits nach Abendessen. Irgendeiner hatte Fleisch mit in den Getreidebrei gegeben, der Geruch ließ Ferox würgen. Er sah blass aus, die Hinrichtung vor einigen Tagen hatte ihm ziemlich zu schaffen gemacht.


    Während des nächtlichen Umherwälzens in seinem Bett, als er schwer in den Schlaf fand, hatte er nachgedacht ... über viele Dinge.


    "Antias?", rief er quer durch den Raum.

  • Nachdem zum einen Fimbria wieder den Kochdienst übernommen- und zum anderen Hispo in den nächtlichen Latrinen einen passenden Ort gefunden hatte, seines Blutstaues zumindest notdürftig Herr zu werden, hatte sich die Stimmung im Contubernium wieder merklich verbessert. Marullus’ stummes Dahinvegetieren lag zwar noch immer dunkel auf den Gemütern, aber insgeheim hatten die Milites bereits Abschied vom zurückgebliebenen Zwilling genommen. Noch funktionierte Marullus, noch erfüllte er alle Anweisungen und Befehle mechanisch mit übertriebenem krankem Eifer, der Tag konnte jedoch nicht mehr all zu fern sein, an dem ihn seine Kräfte verlassen würden. Antias konnte nichts für ihn tun, keiner konnte das. Mit viel Glück mochte der todtraurige Schatten eines Soldaten bis zum ersten Ausgang durchhalten. Wohin er dann verschwinden würde, wusste nur Marullus selbst. Fort musste er, daran gab es keinen Zweifel.


    Versonnen starrte Antias in seine Patera. Ein weiterer Tag vor den versperrten Stadttoren lag hinter ihm, eine weitere Nacht voll Unwägbarkeiten lag vor den Kameraden draußen. Irgend etwas lag in der Luft. Nicht nur er, auch der Rest des Contuberniums verausgabte sich tagtäglich verbissener beim Kampftraining, freiwillig, instinktiv fast unwillkürlich. Sie bereiteten sich vor, machten sich bereit, für alles, was da noch kommen mochte.


    In allerlei Grübeleien vertieft, hatte Antias dem Klopfen keine Beachtung geschenkt. Erst die Stimme seines Bruders ließ ihn erfreut herumfahren. „Ferox! Kommst du mich endlich besuchen!“ Strahlend sprang er von seiner Pritsche auf, schob den brummenden Hispo beiseite und eilte auf Ferox zu. „Magst du mit uns essen? Es gibt – Überraschung – Puls. Aber mit Rindfleisch drin.“ In all seinem Überschwang nahm er doch die nachdenklichen Furchen auf seines Bruders breiter Stirn wahr. „Alles in Ordnung, Ferox? Bedrückt dich was?“

  • So missmutig er gerade auch gestimmt war, bei so einer freudigen Begrüßung brachte Ferox ein schiefes Grinsen zu Stande. Antias war wahrscheinlich sogar in der Lage, die steinernen, ewig ernsten Gesichter der Götterstatuen zum lächeln zu bringen, wenn er das wollte.


    "Bedrücken nicht, mir ist nur arschkalt."


    Es folgte die obligatorische Umarmung (er begrüßte seinen Bruder nie ohne ihn zu umarmen), dann mummelte er sich wieder in seinen Mantel, um den kalten Wind in seinem Rücken auszusperren. Unter normalen Umständen wäre es zu verlockend gewesen, die Einladung zum gemeinsamen Abendessen mit seinem Bruder anzunehmen. Das hätte Ferox zudem Gelegenheit gegeben, die anderen Männer aus Antias` Contubernium kennen zu lernen. Doch der Gestank des gekochten Fleisches machte es ihm leicht, seinen eigentlichen Vorsatz treu zu bleiben.


    "Danke für die Einladung, aber an Fleisch komme ich zur Zeit nicht ran. Allein der Geruch bringt mich fast zum Kotzen."


    Im hinteren Teil der Baracke klapperte jemand mit seinem Kochgeschirr. Doch was fehlte, waren die ungezwungenen Gespräche zwischen den Kameraden. Hier und da wurden zwar ein paar Worte gewechselt, aber die Stimmung war nicht sonderlich gut.


    "Hast du Lust, dir die Beine zu vertreten? Es ist ein herrlicher kalter, matschiger Winterabend, den verbringt man nicht in der warmen Stube."


    Die Schneeflocken auf seinem Mantel schmolzen zu glitzernden Tröpfchen. Ferox` Gesicht wurde Ernst. "Ich habe ... uhm ... über etwas nachgedacht."

  • Besorgt stellte Antias die Patera ab. Ferox schlotterte ja richtig. Er hatte sich doch wohl nichts eingefangen bei dem Mistwetter? Oder war seine Verfassung etwa auf die jüngsten Ereignisse auf dem Forum Boarium zurückzuführen? Der Cluvier hatte sich auf Wache schon großspurig darüber ausgelassen. Ein Mordsspektakel musste das gewesen sein, wenn man Sulca glaubte, ziemlich blutig und ereignisreich. Was auch immer der alte Kotzbrocken mit ereignisreich meinen mochte. Antias wusste nur, dass die Tirones – darunter sein Bruder – ihren ersten Außeneinsatz absolviert und nach Sulcas’ Andeutungen leicht erhitzt abgeschlossen hatten. Oder war sein Bruder von Heimweh geplagt? Immerhin hatte er noch eine Mutter irgendwo da oben in Germania.


    „Natürlich, Kleiner .. ich hab auch keinen besonderen Appetit.“ beeilte sich Antias zu entgegnen, schnappte sich seinen Mantel, warf ihn über und folgte Ferox in die nasskalte Nacht hinaus. Der gestampfte Lagerboden schmatzte fett und vollgesogen unter ihren Schritten. Ein paar Schneeflocken trudelten einsam im schwachen Westwind. Wortlos und nachdenklich tappten die Brüder eine Weile ohne besonderes Ziel nebeneinander her, bis Antias räuspernd das Schweigen brach. „Erzähl. Worüber hast du nachgedacht, Bruder?“

  • Sie schlenderten die dunkle Gasse hinter den letzten Gebäuden an der Mauer entlang, wo wenig Begängnis war. Das Moos an den großen Steinquadern glänzte feucht und tropfte. Ferox wartete mit seiner Antwort, bis er sich sicher war, dass sie unter sich waren. Antias wirkte besorgt, was nicht verwunderlich war bei so einer nebulösen Andeutung.


    "Es ist nicht Schlimmes", begann Ferox darum. Er sprach gedämpft, falls doch noch irgendjemand hier in diesem Teil der Castra herumgeisterte, auch wenn die Wahrscheinlichkeit bei diesem Wetter verschwindend gering war. "Genau genommen ist es sogar etwas Schönes, wenn auch etwas schwierig." Stundenlang hatte er überlegt, wie er dieses Thema ansprechen sollte. Er war kein guter Redner, wenngleich er gern und viel redete, manchmal wahrscheinlich zu viel. Aber dass es gesagt wurde, war ihm wichtig.


    "Von der Sache her geht es mich eigentlich nichts an", eierte er herum. "Ich meine, du bist alt genug, älter als ich und auch in den meisten Sachen erfahrener, diese Sache eingeschlossen. Und natürlich steht es mir überhaupt nicht zu, mich da irgendwie einzumischen und ich weiß ja auch gar nicht, wie gut ihr euch wirklich kennt, aber ..." Er rieb sich mit dem Mantel ein paar schmelzende Schneeflocken aus den Augenbrauen. "... aber immerhin wäre es dann mein Neffe oder meine Nichte. Also geht es mich irgendwie doch etwas an. Zumindest ein bisschen. Was ich damit sagen will ... du und die Serva, von der du erzählt hast, ihr passt doch auf - oder?"

  • Gespannt und voll Sorge stapfte Antias neben seinem um Worte ringenden Bruder die dunkle Lagergasse entlang. Dass es angeblich nichts Schlimmes sei, vermochte ihn nur mäßig zu beruhigen. Über Alltägliches hätte sich Ferox sicher nicht derart den Kopf zerbrochen. Oder doch? Und was sollte das heißen, es ginge seinen Bruder nichts an? Der gutmütige Waldbär musste doch wissen, wie sehr ihn Antias mittlerweile in’s Herz geschlossen hatte. Schon wollte Antias widersprechen, aber Ferox in’s Wort zu fallen, hätte es ihm gewiss noch schwerer gemacht, auf den Punkt zu kommen.


    Als es dann schließlich heraus war, prallte Antias zurück als wäre er im nächtlichen Dunst gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Mit vielem hätte er gerechnet, damit nicht. Etwas benommen blieb er stehen und blickte Ferox mit erhobenen Augenbrauen an. Erstaunlich, worüber sich dieser Gemütsmensch Gedanken machte. Erstaunlich vor allem, weil Antias sich diese Gedanken längst selbst hätte machen müssen. Hatte er nicht erst vor wenigen Tagen gesagt, er wolle nicht den gleichen Fehler machen wie einst sein Vater?
    „Ähm .. ja, Ferox .. schon .. das heißt ..“ Natürlich passten sie auf, ständig. Sie passten auf, dass Apolonia nicht entdeckt wurde, sie passten auf, dass sie sich nicht gegenseitig belasteten, aber das war eindeutig nicht, was Ferox meinte. „.. nicht wirklich .. ich meine .. bis jetzt wohl eher nicht so ..“ Seine Finger raspelten über die Bartstoppeln als wollten sie das Kinn vom Kiefer schaben. Richtig, er war der ältere Bruder, aber in machen Belangen ...


    „Guter Hinweis, Bruder ..“ Sinnvolleres fiel ihm stante pede nicht ein. „Brillanter Gedanke. Ich .. äh .. werd’ nächstes mal dran denken.“

  • Ferox war erleichtert. Antias hatte ihn weder ausgelacht noch hatte er losgewettert, was ihn das überhaupt anginge.
    "Also es ist ja nicht so, dass ich mich nicht freuen würde, vielleicht Onkel zu werden", schob er hinterher. "Eigentlich fände ich es ja sogar schön. Ich mag Kinder. Es ist nur ... nun ja, du weißt ja, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin. Und der Gedanke dass so ein kleiner Wurm da draußen ..." Er gestikulierte unbeholfen mit einer Hand, während er die Mauer anglotzte.


    "Ich meine, selbst wenn du ab jetzt aufpasst, wäre ein Plan für den, äh, ich nenne es mal Notfall nicht schlecht."


    Klang das blöd? Natürlich klang das blöd. Alles, was er gesagt hatte, klang so. Aber was sollte er machen? Er hatte nach der Hinrichtung nächtelang über den Sinn und Unsinn von Leben und Sterben nachgedacht, über Recht und Gerechtigkeit und mittendrin - war ihm plötzlich der Gedanke an seinen Bruder und die geheimnisvolle Serva gekommen und daran dass da, wo sich Menschen liebten, recht schnell ein drittes Menschlein in Erscheinung treten konnte.


    Er hatte sich den kleinen rosa Säugling vorgestellt, mit dunkelblondem Flaum wie das Haar seines Bruders, da draußen, während Antias hier drin war, sein Kind in den Armen einer Serva. Und plötzlich waren sie da gewesen - Onkelgefühle. Das Gefühl, irgendetwas für das kleine Wesen tun zu müssen. Und wenn es nur ein paar peinliche Worte waren, die vielleicht verhinderten, dass ihm das Selbe wiederfuhr wie damals Ferox.


    "Ja, jedenfalls, äh, falls es doch .... passiert sein sollte ... irgendwie kriegen wir das schon hin."


    Das war plump. Er war plump. Aber er hatte sich vorgenommen, wenn er tatsächlich Onkel werden würde, dann würde er ein guter Onkel sein!


    "Ääääh", machte er, weil er nicht wusste, was er nun sagen sollte.

  • Antias hörte seinem Bruder aufmerksam zu, nickte, fuhr sich mit den Fingern durch die nassen Haare, nickte erneut, atmete in tiefen gierigen Stößen und trat schließlich gerührt räuspernd auf Ferox zu, um ihn herzlich an die Brust zu drücken. „Patruus Ferox.“ lächelte er warm. Ferox’ Argumente hatten ebenso Hand und Fuß, wie der noch fiktive Gegenstand seiner Fürsorge. Antias hatte an einem dicken zähen Kloß zu schlucken, sein Bruder musste ihn für einen verantwortungslosen Hedonisten halten, der nicht weiter voraus dachte als bis zur pulsierenden Spitze seiner Hasta. Dem war aber nicht so. Zumindest nicht grundsätzlich. In diesem Fall jedoch musste er sich eine gewisse Gedankenlosigkeit eingestehen. Völlig richtig, er durfte einem Spross seiner Lenden nicht das gleiche antun wie Varus seinem Bruder angetan hatte, vor allem aber konnte er es Apolonia nicht antun! Nicht unter den gegebenen Umständen.


    Ein Plan für den Notfall, Ferox konnte gar nicht ahnen, wie richtig er damit lag. Apolonia und er lebten bereits nach einem Notfallplan, einem noch nicht besonders ausgereiften, um genau zu sein. So sehr es ihn auch danach drängte, er konnte Ferox nicht die ganze Geschichte erzählen. Noch nicht, später vielleicht. Stattdessen drückte er den Bruder noch einmal kurz an sich und starrte dann nachdenklich die Gasse hinauf. „Schon gut, Ferox, ich weiß genau, was du meinst.“


    Der Wind wisperte hämisch um die Steingiebel, die umher treibenden Schneeflocken waren so penetrant wie eisige Stechmücken. Ein Standlager, ein Soldat, eine Lupa. War das Schicksal wirklich so einfallslos? „Ein wirklich konsequenter Plan ..“ nahm Antias den Faden schließlich wieder auf, „.. könnte nur darin bestehen, die CU zu verlassen, und mich meiner Verantwortung zu stellen. Alles andere wäre auch nur eine eher schäbige Notlösung."

  • Ferox starrte noch immer die Mauer an, auf der die Schneeflocken schmolzen. Die Feuchtigkeit ließ sie glänzen, als sei sie lackiert. Ein ganzer Pfeilhagel von Fragen zischte durch seinen Kopf.


    Angefangen von 'Aber wovon willst du dann leben, wenn du keinen Sold mehr bekommst?' über 'Aber wenn sie eine Serva ist und du ein Civis, wie wollt ihr beide ...' bis hin zu 'Aber ist das Kind dann etwa auch unfrei?' und zehntausend weiteren Abers. Keines davon sprach er aus. Antias würde sie sich früher oder später selber diese Fragen stellen, wenn er das nicht schon längst tat. Und um das Nachdenken über derlei Dinge anzustupsen, hatte Ferox mit ihm reden wollen, nicht mehr. Alles andere lag bei Antias und seiner Geliebten.


    Ferox nickte stumm. Seine Unterstützung hatte er ja schon zugesichert. Was blieb war das Gefühl, noch irgendetwas sagen zu müssen. Er wollte etwas sagen, aber er wusste nicht, was. Irgend etwas Aufmunterndes wäre nicht schlecht. "Scheiß Wetter", murrte er, um das Schweigen überhaupt zu überbrücken. Dann fiel ihm etwas ein.


    "Ach so, ich hab hier noch was. Was anderes, das hätte ich fast vergessen."


    Er zog ein faustgroßes Stoffsäckchen unter der Paenula hervor und reichte es Antias.


    "Baldrian, Melisse und Hopfen. Im Herbst auf der Reise gesammelt und bis hier her mitgeschleppt. Ist gut gegen Schlafprobleme, wenn man einen Tee draus macht. Ich habe den Beutel rausgekramt, weil ich wegen der dummen Hinrichtung immer ewig wachliege, aber ich glaube, dein einer Freund kann das besser gebrauchen, der sieht nicht gut aus. In Milch aufgekocht wirkt es noch besser."


    Ferox nickte in Richtung der Baracken.


    "Nun ja, ich will dich nicht länger von deinem Abendbrot trennen. Lass dich nicht zu sehr von dem runterziehen, was ich gesagt habe. Irgendwie wird das schon." Er lächelte aufmunternd.


    Dann platzte ein grässlich lautes Niesen aus seiner Nase zusammen mit einem Sprühregen. "Ach, verdammt." Er wischte sich die Nase mit seinem Mantel sauber. "Ich dachte, ich kann mich vor der vollgepissten Brühe in den Lagerthermen drücken. Aber ich starte denen doch lieber mal einen Besuch ab, sonst fang ich mir noch was ein bei diesem Sauwetter."

  • In einem Anflug infantiler Selbsvergessenheit legte Antias den Kopf in den Nacken, ließ seinen Blick ziellos durch das flimmernde Dunkel streifen und streckte die Zunge heraus, um die tänzelnden Flocken zu fangen. In der knisternden Abendstille konnte er fast hören, wie die Gedanken durch den Geist seines Bruders tobten. Wie gerne hätte er Ferox beruhigt, seine Bedenken zerstreut, ihm einen minutiös durchdachten Zukunftsplan präsentiert. Stattdessen hatten seine knappen Kommentare bei Ferox wohl nur unzählige weitere Fragen aufgeworfen.


    Kein Sorge, mein Bester, hätte er liebend gerne verkündet, es ist alles ganz simpel. Ich werde Apolonia mit meinen Paarhundert gesparten Kröten von Senator Menecrates freikaufen, der natürlich den Göttern sei Dank als verständnisvoller Philanthrop großzügig über ihre Flucht hinwegsehen wird. Dann werde ich ihr Leben als Libertina zunächst aus meinem verschwenderisch üppigen Sold finanzieren, mich binnen kürzester Zeit vom protektionslosen Nichts zum Centurio hochdienen und als solcher um die Erlaubnis zur Eheschließung ansuchen. Diese wird mir fraglos umgehend gewährt, weil ich ja mittlerweile über so unfassbar gute Beziehungen und ein ganzes Heer von Fürsprechern verfüge. Danach heirate ich meine Libertina kurzerhand, mach sie so zur Bürgerin, anerkenne selbstverständlich die derweil zur Manipelstärke angewachsene Kinderschar und führe die glückliche Großfamilie inklusive des geliebten Onkels heim nach Mogontiacum. Unnötig zu betonen, dass wir alle so alt wie der Rhenus werden und unser Leben fürderhin in gottgleichem Frieden und ungetrübtester Harmonie fristen werden. Kein Problem, Bruder, alles bestens.


    Seine Zunge wurde kalt, also fuhr er sie seufzend wieder ein und ließ sie noch eine Weile schweigen im Mund vor sich hin prickeln. Ferox hatte inzwischen weise das Thema gewechselt. Schlafprobleme? Oh ja, dieses Leiden hatte unter den Urbanern in jüngster Zeit epidemische Ausmaße angenommen. Schmunzelnd nahm Antias das Säckchen entgegen. Mit dem hilfsbedürftigen Freund konnte Ferox nur Hispo gemeint haben. „Danke, Ferox. ich werd’s ihm unterjubeln.“


    Benetzt vom Tropfennebel eines gewaltigen Niesers nickte Antias seinem Bruder dankbar zu. „Mach das, Bruder. Wenn Hispo da erstmal drin war, ist die Pisse das kleinere Übel, glaub mir.“ Noch einmal zog er Ferox an sich, klopfte ihm brüderlich auf den Rücken und wandte sich dann zum Gehen. Nach ein paar Schritten hielt er noch einmal inne. „Ferox .. pass bloß auf dich auf! Ja?“

  • Während der Umarmung zum Abschied grinste Ferox breit. Seine Augenringe wurden dadurch noch tiefer. Er war müde, aber so zufrieden wie seit Tagen nicht mehr. Alles, was er zum Thema Nichte oder Neffe hatte sagen wollen, war ausgesprochen. Wenn es ihm auch nach wie vor unsagbar peinlich war, sich in dieser Sache eingemischt zu haben, so fühlte sich sein Onkel-Gewissen erleichtert. Ferox würde fortan wieder besser in den Schlaf finden, da war er zuversichtlich.


    "Klar passe ich auf mich auf, Brüderchen! Wenn die Hinrichtung ein was Gutes in mir bewirkt hat, dann, dass sie das Bewusstsein geweckt hat, wie schön es ist, hier und jetzt lebendig zu sein. Von der Sache her macht man sich immer viel zu viel Stress wegen irgendwelchen Belanglosigkeiten. Man regt sich auf über den blöden Nachbarn, über zänkische alte Weiber, über das nervige Krähen des Hahns, wenn man schlafen will ... aber dass schneller als man denkt eine Zeit kommen könnte, in der man sich danach sehnt, sich um nichts weiter als derlei Lappalien sorgen zu müssen, vergisst man allzu schnell.


    Von der Sache her geht es den meisten von uns blendend und wir merken es nicht einmal, weil es alltägliche Gewohnheit geworden ist, ein Dach über dem Kopf zu haben und jeden Tag zu essen. Für uns ist es nicht weiter bemerkenswert, mit einem gesunden Körper gesegnet zu sein, eine Familie zu haben. Andere würden alles dafür geben. Wir regen uns auf über Dinge, die von der Sache her völlig egal sind. Die Folter und die Hinrichtung der beiden Verurteilten hat mich daran erinnert, was im Leben wirklich wichtig ist. Eigentlich bin ich trotz meiner Sorgen ein glücklicher Mensch, ich habe alles, was ich brauche. Ich lebe und ich lebe gut - mag der Sold auch noch so mager sein und mein Bettnachbar mich die ganze Nacht vollfurzen. Soll er es doch tun und meinetwegen tagsüber auch noch! Ich liebe mein Leben, wie es ist - und will es noch möglichst lange genießen. Also mach dir um mich keine Sorgen!"


    Was für ein Redeschwall! Aber jetzt war auch der letzte Rest seiner Sorgen raus. Ferox hob zum letzten Abschied die Hand.


    "Also dann, ich werde mich mal zum gemeinschaftlichen Einweichen begeben. Man sieht sich!"


    Er grinste noch einmal, dann drehte er sich um und stapfte durch den Schneeregen zu den Thermen.


    Sim-Off:

    Eigentlich war der Tee für Marullus gedacht, aber vielleicht geht es dem standhaften Hispo davon auch besser xD Es ist genügend darin für beide. *nick*

  • Mit dem Säckchen in der Hand und einem versonnenen Lächeln im Gesicht sah Antias Ferox hinterher. Sein Bruder. So dünn das Fell, so groß das Herz. Was mochte wohl aus ihm werden in den Reihen der CU? Was konnte aus ihm werden? Wie konnte Antias auf ihn acht geben, ohne ihn zu sehr zu bemuttern? Sein Fell würde dicker werden, das war noch bei jedem Soldaten so gekommen. Aber was würde im Lauf der Jahre mit seinem großen mitfühlenden Herz geschehen? Würde es Schwielen bekommen und Hornhaut ansetzen wie seine Hände? Würden aus ihnen allen eines Tages hartherzige zynische Eisenfresser werden wie der Cluvier einer war? Welch Verschwendung.


    Auch als die breitbeinige Gestalt des Bruders längst in der nächsten Quergasse verschwunden. war, stand Antias noch sinnierend im Flockenwirbel, schnupperte ab und zu am Kräutersäckchen, ließ alles Gesagte noch einmal an sich vorbei ziehen und versuchte, ein kleines Stück in die Zukunft zu blicken. In die seines Bruders, in die seiner Geliebten, in die seiner Freunde und in seine eigene. Verantwortung. Immer wieder stieß dieser mächtige Begriff aus dem dunklem Himmel auf ihn nieder wie ein monströser schwarzer Nachtvogel. Verantwortung. Er fühlte sich zurückversetzt in die ersten Wochen seiner Grundausbildung. Wie widerwillig hatte er sich allmorgendlich in die Lorica gezwängt. Wie starr und unnatürlich hatte sie sich angefühlt. Wie hatte er sie gehasst. Als ihm aber endlich klar geworden war, dass weder Trotz noch Widerstand den Panzer auch nur um ein Granum leichter machen würden, hatte er begonnen, in ihn hinein zu wachsen. Heute trug er ihn mit Stolz, und wusste sich darin zu bewegen. Noch immer spürte er das Gewicht, empfand es aber längst nicht mehr als Last. So lange er ihn trug war er Teil seiner selbst, was die Wohltat, ihn am Abend abzulegen dennoch nicht schmälerte. So in etwa verhielt es sich wohl auch mit der Verantwortung. Er hatte sie noch nicht eingetragen. Sie drückte, zwickte ,scheuerte, lag schwer und ungewohnt auf ihm, und würde doch zu einem Teil seiner selbst werden, wenn er sich nicht trotzig dagegen aufbäumte.


    Schniefend zog er sich den Mantel enger und machte sich auf den Rückweg. Ferox dufte seine Gaben nicht im Stumpfsinn des Wachdienstes verschleißen. Er würde einen hervorragenden Miles Medicus abgeben und eines Tages vielleicht einen nicht minder hervorragenden Optio Valetudinarii. Sollten seinem Bruder immer noch die Praetorianerflausen im Kopf umgehen, lag es in Antias` Verantwortung, Ferox zumindest ein paar Alternativen an’s Herz zu legen. Aber immer eines nach dem anderen. Zunächst wollte erst einmal die Grundausbildung hinter sich gebracht werden, und so lange konnte Antias seine Verantwortung auf die Kameraden ausdehnen. Zu dumm, dass er Ferox nicht gefragt hatte, in welcher Dosierung er den Sud verabreichen sollte. Egal. Vermutlich war es bei den Kräutern wie beim Wein: Viel half viel.

  • Misstrauisch schnüffelte Antias an den dünnen Dampfwolken, die aus dem kleinen Kupferkessel aufstiegen. Roch säuerlich und etwas bitter. Wie erwartet, das absehbare Ergebnis, wenn man ein Säckchen voll Kräuter in Wein aufkochte. Ferox hatte ihm zwar zu einer anderen Zubereitungsform geraten, jedoch waren Hispo und Fimbria für heißes Wasser ebenso wenig zu begeistern gewesen wie für heiße Milch. Marullus, dem der Aufwand in erster Linie galt, war sowieso alles einerlei. Also hatte Antias eben einen halben Schlauch Rotwein genommen. Eine milde Gabe aus Fimbrias’ wachsendem Naturalienkonto für handwerkliche Nebentätigkeiten. Dass der edle Spender sich dafür einen großen Becher des dunklen Gebräus erwartete, verstand sich von selbst, wenngleich Fimbria nun wirklich der einzige Miles in der ganzen Centurie sein durfte, dem Phänomene wie innere Angespanntheit und Schlaflosigkeit völlig unbekannt waren. Hispo hatte mit dem Schlaf an sich auch keine größeren Probleme, bei ihm galt es eher gewissen Erregungszuständen entgegenzuwirken, die Antias – wenn auch indirekt – ebenfalls zusehends um die Nachtruhe brachten. Einzig Marullus hatte die kräftigende Wirkung einer entspannten Nacht in Somnus’ Schoß bitterlich nötig. So war der Zwilling denn auch der erste, dem Antias den Becher füllte.


    Vorsichtig, um nichts vom heißen Sud zu verschütten tappte er nach hinten zu Tutors Pritsche. Marullus lag da wie gewohnt, mit aufgerissenen Augen und verschlossenem Blick. Wie immer. Wie tot. Für ihn gab es nur noch bewusstlose Pflichterfüllung und ohnmächtiges Dahindämmern, nichts dazwischen. Keine Gespräche, kein noch so kleiner privater Moment unter Kameraden, kein Gang in die Thermen, nichts dergleichen. Nach Ende des Dienstes fiel er auf das Lager seines toten Gefährten, manchmal ohne sich auch nur die Caligae auszuziehen. Antias reinigte, schliff und pflegte seine Waffen, Hispo rieb ihm den Schmutz aus der inzwischen unangenehm speckig riechenden Tunika und säuberte Mantel und Lederteile, Fimbria kümmerte sich um Lorica, Cassis und Orcae. Das alles war umständlich und mühsam aber durchaus machbar, eine Lösung war es nicht.


    „Trink das, Marullus .. ist von meinem Bruder.“ Marullus sah nicht auf, starrte weiter in’s Nirgendwo. „Trink Tadius!“ befahl Antias barsch, und Marullus trank, soff, drückte sich den heißen Kräuterwein in langen verbissenen Schlucken den Schlund hinab. Ein ersticktes Gurgeln entrang sich seiner Kehle, von seine Mundwinkeln rannen dunkelrote Bäche, feine hellrote Schlieren überzogen seine ohnehin schon verschleierten Augen. Antias kannte das bereits, trotzdem schockierte es ihn jedes mal auf’s Neue. Morgen würde er etwas unternehmen müssen. Eine Nacht noch sollte Marullus die Möglichkeit haben, sich im Kreis der Kameraden zu erholen, vielleicht würde Ferox’ Kräutermischung ihm ja dabei helfen, aber einen weiteren Tag konnten sie ihn nicht mehr hier behalten, nicht in diesem Zustand. „Versuch, zu schlafen.“ sprach Antias in ein leeres Gesicht, nahm Marullus den tropfenden Becher aus der Hand und ging wieder nach vorn an die Craticula, wo Hispo und Fimbria schweigend in den Kupferkessel stierten.


    Drei Becher tauchten in den Kessel, drei Nasen schnupperten, ein Bass begann zu brummen. „Nimm’s mir nicht übel .. aber irgendwie ist mir der Durst vergangen.“ Seufzend stellte Fimbria den Becher ab und warf sich auf seine Pritsche. „Wenn ich Marullus so angucke, wird mir erst klar, wie gut ’s mir geht. Ich brauch keine Medizin.“ Auch Hispo betrachtete das Getränk nun eher mit Argwohn. Als Fimbria jedoch eine seiner wehmütigen Weisen anstimmte, schüttete sich der Rotschopf den Becher in einem Zug hinunter. „Da sauf ich mich doch lieber besinnungslos als mir das Gejaule schon wieder anzutun! Gib mir seinen Becher!“ Antias kostete selbst. Bitter. Sogar extrem bitter. Hustend nahm er Fimbrias’ Becher und schüttete den Inhalt in den Kessel zurück. „Einer muss reichen, Hispo. Ich bin zwar kein Kräuterkundiger, aber das Zeug scheint mir schon stark genug zu sein. Wir müssen morgen alle früh raus.“ Mürrisch kratzte sich Hispo am Gemächt. „Also, wenn das entspannend sein soll .. ich merk noch nix. Da geh ich lieber nochmal auf die Latrine .. sicherheitshalber.“ Antias trank aus und zuckte die Achseln. „Wie du meinst. Viel Erfolg.“ Hispo verschwand, Antias spülte noch die Becher aus und ließ sich dann seufzend auf sein Lager fallen. Verantwortung, flüsterte ihm eine tonlose Stimme immer und immer wieder zu, Verantwortung. Fimbrias’ tiefer Gesang tat schroffe Brüche in ihm auf, in die das Flüstern hineinsickerte wie Regenwasser in den Karst.



    Er war eine dunkle Insel unter blauschwarzem Firmament, eine gewaltige Landmasse, von Schluchten zerfurcht, von Seen durchlöchert, bedeckt mit endlosen Wäldern voll von wispernden Wesen. An allen Ufern leckte die gierige Brandung seiner Atemstöße, überspülte langsam seine Küsten, weichte ihn auf, nagte an ihm, riss ganze Landschaften aus seinem schweren Körper, trug sie auf das offene Meer hinaus. Er begann, unterzugehen. Der lichtlose Himmel war erfüllt vom Flattern tausender Flügel und gesprenkelt von gelben kleine Augen voller Hohn. Irgendwo weit draußen an den fernen Gestaden seines Bewusstseins hörte er die Barackentür, registrierte unbeteiligt Hispos Rückkehr und sank immer noch tiefer in das wirbelnde Meergrün hinab. Die Nachtvögel tauchten mit ihm unter, umkreisten ihn in dichten Schwärmen, fraßen die Wälder von seinem Leib, zerbissen den Fels und verschlangen die Erde. Antias wollte sich wehren, die schwimmenden Vögel packen, sie töten, vernichten, aber er war nur noch ein nackter Klumpen Ton, der sich zersetzte und von einer übermächtigen Flutwelle die Flüsse hinauf geschwemmt wurde. Das Dröhnen seines Atems wurde allmählich leiser und verlor sich in unzähligen Wasserstimmen, von denen er einige sogar kannte. Das dumpfe Gluckern des Tiberis unter dem Pons Cestius, das träge Murmeln des Padus bei Placentia, wo die Claudia Augusta auf die Aemilia traf, das helle Glucksen namenloser Gebirgsbäche und schließlich das sanfte Knistern der Wolken, die sich an den Steilhängen stauten. Gänzlich entkörpert schwebte er über verschneiten Felsen, sah im Süden die kultivierte Welt seines Vaters zwischen den Meeren liegen, lieblich, fruchtbar und strahlend wie Apolonia, und erblickte gleichzeitig im Norden die raue Welt seiner Mutter unter den Baumkronen, düster, schattig und geheimnisvoll wie Aanet. Unter ihm entfernten sich die Gipfel, über ihm kreisten die Nachtvögel, und er erkannte plötzlich, wohin sie ihn bringen würden.

  • Jetzt fiel er, und während er fiel, begann er zu begreifen, dass dies alles nur ein Traum war. Sein aufgefressener und aufgelöster Körper, der Nachtvogelschwarm, der ihn über Felsen und Schlünde hinweg nach Nordwesten getragen und dann losgelassen hatte, der schimmernde Schlangenleib des Rhenus, der tief unter ihm dem nördlichen Meer zustrebte: Nur Traumgespinste. Das Fallen nahm ihm den Atem, trotzdem war er sich nun sicher, dass er nicht aufschlagen würde. Es war ein Traum. Keuchend öffnete er die Augen und erblickte entsetzt die Innenseite seiner geschlossenen Lider. Nur ein Traum! Wieder mühte er sich, die Augen auf zu bekommen, sah Fluss und Wälder auf sich zu jagen. Er schrie, wollte ein weiters Paar Lider aufzwingen, aber da war nichts mehr zwischen seinem wachen Geist und seinem scheinbar endlosen Sturz. Die Vögel stießen ein hämisches Kreischen aus, stoben auseinander und verschwanden lärmend in den dunklen Baumwipfeln. Er schrie. Seine Arme ruderten, seine Hände krallten sich in leeren Raum, die kalte Luft brüllte in seine Ohren, er schrie. Dann war plötzlich alles still und weich und dunkel. Sein Schrei erstickte in erdig schmeckendem Wasser, sein Blick verlor sich in grünlichem Zwielicht. Noch bevor er Aanet am westlichen Flussufer erkennen konnte, wusste er bereits, wo er war und was geschehen würde. Nicht nur den Ort erkannte er wieder, auch den Tag und die Stunde.


    Lang war der Winter gewesen, besonders trüb und sogar für germanische Verhältnisse ungewöhnlich schneereich. Bis in die Kalenden des Maius hinein hatten sich einzelne Altschneeflächen in schattigen Senken und auf dunklen Lichtungen gehalten. Erst an den Ludi Martiales war das Wetter schließlich umgeschlagen und hatte einen lauen Westwind die letzen Winterspuren aus den Flussauen lecken lassen. Der Himmel war weit, der Boden weich und der der Rhenus war breiter und mächtiger geworden als es Antias je zuvor erlebt hatte.


    Ohne lange zu überlegen hatte er sich an diesem luftigen Frühlingsmorgen in den Fluss gestürzt, um zur Krone der überspülten Weide hinaus zu schwimmen, in deren Schatten er mit Aanet die süßesten Tage des vergangenen Sommers verbracht hatten. Das Wasser war noch immer empfindlich kalt und vor der untergegangenen Landzunge, auf der die Weide stand, tobte der braune Strom in wütenden Strudeln vorbei. Aanet hatte ihn zurückhalten wollen, ihn gebeten, bei ihr am Ufer zu bleiben und vor dem augenscheinlichen Zorn des gehörnten Flussgottes gewarnt. Ihn aber hatte ihre Furcht nur noch mehr aufgestachelt. Mit einem überheblichen Grinsen war er in’s Wasser gesprungen, ein bisschen aus Trotz, ein wenig aus schierem Übermut, vor allem aber, um ihr zu beweisen, dass er aus anderem Holz geschnitzt war als dieser verliebte Zimmermannssohn Caepio und seine albernen Holzfigürchen, mit denen er bei Aanet Eindruck schinden wollte. Dieser Narr. Weder lesen noch schreiben konnte der, schwimmen schon gar nicht. Caepio verbrachte seine Tage in der wohlbeheizten Werkstatt seines Vaters, während Antias sich auch bei Schnee und Frost draußen herumtrieb. Caepio schnitzte Kühe, Schweine und Rehe für Aanet, Antias erzählte ihr von Achilleus, Hektor und Aeneas. Caepio hatte ihr neue Ruder für den Nachen ihres Vaters geschenkt, Antias hatte ihr das Schwimmen beigebracht. Caepio verehrte Aanet voll Sehnsucht, Antias liebte sie leidenschaftlich. Caepio war der ängstliche Sohn eines ängstlichen Vaters, ohne Feuer, vorsichtig und beherrscht. Antias hingegen war der stolze Sohn eines römischen Kriegers, impulsiv, mutig und verwegen. Selbst Rhenus Pater bot er die Stirn, wenn er dafür nur Aanet’s Bewunderung ernten konnte.



    Als er die Weidenkrone erreicht hatte, donnerte sein Herz gewaltig gegen die Brust. Eisig war das Wasser hier draußen und tückisch die Unterströmung, allein Antias machte sich weiter keine Gedanken darüber, er war ein hervorragender Schwimmer und er kannte den Fluss. Es war seiner. Die Sorge in Aanet’s blauen Augen wärmte ihn, das Wissen um seinen durchtrainierten sehnigen Körper schenkte ihm Kraft und Ruhe. Prustend hievte er sich in das schaukelnde grüne Astgewirr, blinzelte in die schrägen Strahlen der Morgensonne, lachte ihr zu. „Der alte Stier will mir nur Angst einjagen! In Wirklichkeit ist er zahm wie ein Ziegenkitz!“ Auch sie lachte. Hell wie ihre Haut, strahlend wie ihr goldenes Haar. Antias blickte glücklich auf den Fluss hinaus. Kaum ein Dutzend Schwimmzüge entfernt von der schmalen versunkenen Landzunge ragte die Nasenspitze des Flussgottes aus dem trüben Wasser. Rhenuszinken nannten sie dieses Steinriff etwas despektierlich. Im Sommer erhob sich der bemooste Fels weit über den Wasserspiegel und zeigte tatsächlich die unverkennbare Form einer gewaltigen leicht gekrümmten Nase. Der perfekte Platz, um sich auf warmem Stein von der Sonne trocknen zu lassen, stumm nebeneinander zu liegen, sich vom monotonen Gluckern des Stroms einschläfern zu lassen. Jetzt war von der Nase nur ein grauer Buckel zu sehen, träge umkreist von einem Kranz angetriebener Zweige. Jenseits des Rhenuszinkens wurde der Fluss tief und gefährlich. Nur Antias war es erlaubt, weiter hinaus zu schwimmen, Aanet war noch nicht so weit, vielleicht in diesem Sommer. Die Vorfreude stieg ihm prickelnd in die Glieder.


    „Schau Aanet, ich bring den Alten zum Niesen!“ Fröstelnd ließ er sich wieder ins Wasser sinken, strebte mit kräftigen Stößen der Felsspitze zu, geriet am Ende der Landzunge in einen kalten Sog, der ihn etwas nach Norden abtrieb, kämpfte sich frei, wechselte gelassen in Rückenlage und wurde plötzlich von einem dicken schwimmenden Ast gerammt. Rhenus hatte ganz offensichtlich die Absicht, es ihm schwer zu machen. Na schön! Schnaufend warf er sich den Wassermassen entgegen. „Ist das alles?“ schrie er trotzig gen Süden und schwamm unbeirrt weiter. Die Antwort erfolgte prompt. Keinen Passus mehr vom dunklen Steinriff entfernt, wurde er von einer wütenden Trift umspült und unter Wasser gezerrt. Der Wirbel packte ihn, zog ihn im Kreis herum. Antias ließ es geschehen, wartete mit angehaltenem Atem, bis der Strudel ihn wieder flussaufwärts gedreht hatte. Den Schwung ausnutzend tauchte von der saugenden Strömung weg auf die verschwommenen Felsschemen zu, bis er den breiten Nasenrücken des Rhenuszinkens unter seine Füßen spüren konnte. Sein Kopf schnellte aus dem Wasser. Schwer atmend und doch siegestrunken klammerte sich Antias an den rauen Stein, zog sich daran hoch und verharrte für einige tiefe Atemstöße in angespannter Umarmung. Das sollte ihm dieser blutleere Caepio erst mal nachmachen! „Aanet!“ brüllte er schließlich triumphierend über das Wasser, „Alles in Ordnung! Hier bin ich!“ Das Ufer jedoch war menschenleer, Aanet war nicht mehr zu sehen.

  • Die giftige Blüte der Panik begann in ihm aufzugehen. Er versuchte sie zu ignorieren, warf sich zurück ins Wasser, ließ sich etwas flussabwärts treiben, um den Strudel zu umrunden, zwang sich dann zu langen kraftvollen Schwimmzügen, erreichte die Landzunge, kämpfte sich durch die Strömung, ließ die Weidenkrone links liegen und schrie sich im Geiste Dinge zu, an die er selbst nicht recht glauben konnte. Aanet war einfach nur gegangen! Seine Prahlereien hatten sie gelangweilt! Sie war sicher schon auf dem Weg nach Norden, zurück in die Stadt! Außer Atem zog er sich ans aufgeweichte Ufer, kroch auf Händen und Knien über zerbröckelndes Wurzelwerk und niedergedrückten matschigen Schilf. Auf einem umgestürzten Baumstamm, nur zwei Schritte neben seinen achtlos hingeworfenen Kleidern sah er ihre weiche grüne Wolltunika liegen. Nicht akkurat gefaltet wie sie es sonst immer machte, aber ordentlich zusammengelegt. Noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, fand er sich im Wasser wieder, keuchend zur Weide hinaus schwimmend. Er tauchte unter, zog sich am Stamm hinab bis auf das im Wasser wirbelnde Gestrüpp, tastete, wühlte, schlug um sich. Nichts. Nur Lehmbrocken, Grassoden und schlüpfriges Gesträuch. Die Panik wucherte sengend durch seine Eingeweide. Er suchte am falschen Ort. Er vertat wertvolle Zeit.


    Japsend tauchte er auf, starrte flussabwärts, hustete ihren Namen über das braune Wasser. Vergebens. Nur der Rhenus war vernehmbar. Mit brennenden Lungen pflügte er durch die schwappende Brühe zurück an Land, schleppte sich durch Dornbüsche und nieder hängendes Geäst das Flussufer entlang. Den Blick starr auf die Wasserfläche geheftet stürzte er, riss sich die Haut auf, taumelte blutend weiter, stürzte erneut, krabbelte, wühlte sich vorwärts und zwang sich schreiend wieder auf die Beine. In der Flussmitte trieben die abgerissenen Äste von Laubbäumen zwischen dunklen Wolken aus Moosen und Flechten. Antias wusste, dass es Äste waren, sah aber von jedem Stück Treibgut einen nassen blonden Haarschopf ins Wasser hängen. An Land kam er nicht voran. Der Fluss war schneller, der Fluss war stärker, und er wollte ihn, nicht sie.


    Außer sich vor Zorn brüllte Antias Rhenus Pater wilde Verwünschungen entgegen und stürzte sich wieder in den Strom. Der alte Bock wollte ihn haben? Er würde ihn bekommen. Antias achtete nicht mehr darauf, sich seine Kräfte einzuteilen, schräg in die Strömung hinein kraulte er auf die Flussmitte zu. Dort schwammen wirklich nur Äste, belaubte Äste, kahle Äste, nichts als Äste. Er musste zurück, in die Nähe des Ufers. Aber er schaffte es nicht. Mit jedem Zug wurden seine Arme unbeweglicher, seine eiskalten Beinmuskeln krampften. Sich mühsam über Wasser haltend trieb er den Fluss hinunter, vorbei am schweigenden Spalier von Schwarzerlen, Ulmen und Buchen, auf die sanfte Flussbiegung vor den ersten Siedlungen zu. Noch einmal keimte ein bittersüßes Gefühl von Hoffnung in ihm auf, ein letztes mal versuchte er, seine widerborstigen Glieder unter Kontrolle zu bringen. Mit der Oberströmung im Rücken ruderte er ungelenk der felsigen Landspitze entgegen, schluckte Wasser, hustete es aus, zappelte und quälte sich weiter in Richtung der gezackten Barrieren aus angeschwemmtem Astwerk. Als er das ruhigere Uferwasser schon fast erreicht hatte, sah er sie schließlich.


    Ihr blasser Rücken schimmerte silbern über den trüben Wasserspiegel, die Schultern umspielt vom wogenden Vlies ihres Haares. Ihr linker Arm hatte sich im Gewirr eines tropfenden Reisighaufens verfangen, der rechte hob und senkte sich leblos in den Wellen. Antias trieb brüllend an ihr vorbei. Rhenus Pater zog ihn unaufhaltsam von ihr fort, erstickte seine Schreie, drang ihm gurgelnd in Mund und Nase. Ein Reigen grellbunter Lichter begann Antias zu umkreisen. Je tiefer er sank, desto trockener fühlte sich das Wasser an. Unter Wasser fühlte er keine Nässe, Kälte schon, aber auch die war hier anderes als an der Oberfläche. Sie biss nicht, stach nicht, legte sich nur wie ein wallender Mantel um ihn und pflanzte Stille in sein Herz.

  • Als er zwischen aufgestapelten Korbreusen, Trockengestellen und Salzfässern die Augen aufschlug, wünschte er sich sofort wieder in das gnädige Dunkel zurück, das ihn, wie es ihm vorgekommen war, wochenlang gefangen gehalten hatte. Kein gemächliches Erwachen milderte den Schrecken, kein langsames Begreifen dämpfte den eiskalten Schwerthieb der Realität. Vom ersten Lichtflimmer an, der in seine Augen stach, war ihm schrecklich klar, was geschehen war. Eingehüllt in dickes Fell lag er zitternd auf dem gestampften Boden der Fischerhütte des Arvid und starrte in das bleiche Gesicht Osruns, deren Kind er auf dem Gewissen hatte. Völlig entkräftet versuchte er sich hochzustemmen, fuchtelte mit taubem Arm nach Süden, röchelte Aanet’s Namen, immer und immer wieder. Osrun griff nach seinem Arm und steckte ihn unter die Felldecke zurück. „Ist ja gut, Junge. Die Männer sind schon fort.“ redete sie monoton auf ihn ein. „Du hast geschrien, als sie dich aus dem Fluss gezogen haben, weißt du das nicht mehr? Sie sind sofort aufgebrochen.“ Zu spät! Viel zu spät! wollte er ihr entgegen brüllen, aber sie wusste es bereits. Er sah es ihr an. In Osrun’s Augen glomm kein Funke Hoffnung. Unendlich müde und erschöpft erhob sie sich, ging zur Feuerstelle hinüber, stocherte mit einem verrußten Fanghaken einen flachen Stein aus der Glut und schlug ihn in ein dickes Wolltuch ein.


    Antias begann zu heulen, schämte sich zu Tode dafür, konnte es aber nicht zurückhalten. Von unkontrollierbarem Schluchzen geschüttelt musste er entsetzt mit ansehen, wie sie behutsam das Fell anhob und ihm den umwickelten heißen Stein auf die Brust legte. „Lass mich!“ presste er krächzend heraus. „Geh weg!“ Ein Hustenkrampf durchzuckte seine schmerzenden Lungen, Tränen, Schleim und Rotz troffen von seinem Gesicht. „Ich bin schuld!“ schrie er würgend. „Ich bin schuld!“
    Osrun ließ ihn schreien, schwieg, sah ihn nur ausdruckslos an. Antias wollte, dass sie ihn schlug, dass sie ihm den glühenden Fanghaken ins Fleisch bohrte, ihn zurück in den Fluss warf. Er flehte, bettelte sie an, ihren Schmerz und ihren Zorn an ihm auszulassen. „Ich bin schuld! Ich!“ Osrun tat nichts dergleichen. Sie wurde nur alt, vor seinen Augen. „Du bist nicht schuld daran.“ sagte sie schließlich mit zitternder Greisenstimme. „Aber du bist dafür verantwortlich.“

  • Irgendwann zur fünften Stunde, als die Frühlingssonne ihren höchsten Punkt noch nicht erreicht hatte, kehrte Arvid zurück. Vom Ufer her wurde das raue Knirschen des auflaufenden Nachens vernehmbar, das gedämpfte Murmeln der Fischer und schließlich das jähe Aufheulen von Aanets jüngeren Schwestern. Osrun schloss die Augen. Dann richtete sie sich ruhig auf, strich die Kleidung zurecht und verließ mit unsicheren Schritten die Hütte. Antias hatte das Gefühl, unter dem Gewicht von Stein und Fell keine Luft mehr zu bekommen. Nicht, dass es ihm viel ausgemacht hätte, zu ersticken, aber noch irrlichterte ihm ein winziges Flämmlein Hoffnung durch die Brust, wider jede Vernunft, entgegen dessen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Hustend wühlte er sich unter dem Fell hervor, zwang sich mühsam auf die Beine und wankte Osrun hinterher.
    In völlig durchnässter Tunika, bedeckt mit Schlamm und Blättern und ohne jeden Ausdruck im kantigen Gesicht stapfte Arvid die aufgeweichte Uferböschung herauf. Aanet lag still in seinen Armen. Die Lider halb geöffnet, die fahlen Lippen in kindlichem Trotz zusammengepresst, das ehedem goldene Haar in dünnen grauen Strähnen über der glatten Stirn. Osrun hatte ihre beiden verbliebenen Töchter an sich gedrückt, blickte stumm auf ihren Mann und alterte noch immer. Arvid sah nirgendwohin, nicht auf seine Frau, nicht auf seine Töchter, nicht auf Antias, der nackt und erstarrt an Worten würgte, die es nicht gab. Schweigend trug der Fischer Aanet an den Hütten vorbei zum Wohnhaus hinauf. Die anderen Männer folgen ihm in einigem Abstand. Auch sie sahen Antias nicht an, keiner von ihnen. Der auf Grund gesetzte Nachen löste sich in der Strömung, trudelte ein paar mal im Kreis, blieb noch einmal kurz an der Brüstung des überspülten Bootssteges hängen und trieb dann schaukelnd davon, flussabwärts, der Stadt entgegen. „Geh jetzt, Junge. Geh nachhause. Hier ist kein Platz für dich.“ hörte er plötzlich Osruns’ brüchige Stimme. Er fuhr herum. Auch sie sah ihn nicht an, nicht mehr. Nur die beiden Mädchen starrten wimmernd zu ihm auf. Osrun strich ihnen sanft über die kleinen blonden Köpfe und schob sie dann behutsam vor sich her in Richtung Wohnhaus. „Hol dir das Fell aus der Hütte ..“ hörte er sie müde sagen. „.. du kannst es behalten. Und dann geh endlich, Römer.“


    Antias wollte das Fell nicht, ihm war heiß, nicht kalt. Sengend heiß. Er hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen. Der Rhenus strömte kühl und verheißungsvoll unter ihm dahin. Geheimnisvoll schillernd in der hellen Mittagssonne, geschmückt mit farbigen Lichtbögen, murmelnd, glucksend, flüsternd. Antias torkelte ergeben die Böschung hinunter. Die Hitze begann ihn zu verzehren. Ein weicher Westwind fachte die Glut in seinen Eingeweiden zusätzlich an. Keuchend zog er sich am nassen Gebälk der Stegbrüstung hoch, sog noch ein letztes mal die würzige Frühlingsluft in sich auf und ließ sich dann lächelnd nach vorn kippen. Aber Rhenus Pater stieß ihn erneut zurück, er wollte ihn nicht bei sich haben, noch nicht. Der alte Stier war schon gesättigt. Breite kräftige Hände packten Antias an den heißen Schultern, zerrten ihn vom Wasser weg. „Komm hoch!“ brüllte eine tiefe dröhnende Stimme auf ihn ein. „Komm zu dir, verdammt nochmal!“ Antias wartete auf die Nachtvögel, die ihn heimbringen würden. Er wurde durchgeschüttelt, angeschrien, aber die Vögel ließen sich nicht blicken. Stattdessen wurde es finstere Nacht, mitten am Tage. Er war unendlich müde und musste nun schlafen. Somnus aber wies ihn ebenso brüsk zurück wie zuvor der Flussgott, packte Antias wütend an den Haaren, schlug ihm zweimal schallend ins Gesicht und übergoss ihn schließlich mit einer kalten nach Spülwasser stinkenden Brühe.




    Spuckend riss Antias die Augen auf. Über ihm flackerte Fimbrias bärtiges Gesicht im Feuerschein der Kochstelle. „Na endlich! Mach dass du auf die Beine kommst! Hast du das Wecksignal nicht gehört?“ Wecksignal? Nein, hatte er nicht. Mit einem dumpfen Hämmern im Schädel stemmte Antias sich benommen hoch. Einige der Kameraden waren bereits dabei, sich die Loricae anzulegen. So spät schon? Kein Ientaculum? „Ist noch was von dem Käse da?“ räusperte sich Antias kraftlos. „Guck selber nach!“ maulte Fimbria entnervt. „Ich hab hier noch ne Leiche zu erwecken!“ Gähnend schwang Antias die Beine von der Pritsche. Nebenan hing Hispo kopfüber von seinem Lager, schnarchend wie ein vollgefressenes Wildschwein. Fimbria trampelte fluchend zum Wasserfass und füllte den nunmehr leeren Spülbottich wieder auf. Das würde jetzt heftig werden. Immer noch etwas unsicher auf den Beinen, brachte sich Antias schleunigst aus der Gefahrenzone.


    Verdammt, verdammt, entweder hatte er sich in der Dosierung des Kräuterweinsudes meilenweit vertan oder Ferox waren doch noch ein paar andere Pflänzlein als nur Baldrian, Melisse und Hopfen in sein Säckchen geraten. Wie das Gebräu wohl bei dem Patienten gewirkt haben mochte, für den es eigentlich gedacht gewesen war? Auf alles gefasst tapste Antias nach hinten und fand sowohl Marullus’ als auch Tutors Pritsche leer. Ein rostiger Geschmack legte sich auf seine Zunge. Marullus war weg, verschwunden! Antias war der Stubenälteste, er hatte die Verantwortung! „Wo ist Marullus?“ schrie er alarmiert durch die Baracke. Fimbria, gerade im Begriff, Hispo den Wassereimer überzustülpen, hielt grinsend inne. „Der ist kurz rüber zu den Thermen.“ Antias verstand so etwas wie, er sei kurz rüber zu den Thermen. „Er ist was?“ „Sich waschen.“ strahlte Fimbria. „Hat er zumindest gesagt.“ Damit machte man keine Späße! Schlagartig wach und ziemlich wütend verlangte Antias Aufklärung. „Gesagt? Marullus soll was gesagt haben? Ich will jetzt augenblicklich wissen, was hier passiert ..“ Der Rest seiner Frage jedoch ging unter im infernalischen Gekreische des übergossenen Hispo. „WAAAAHHH! Ich bring dich um, du Mistzwerg! Ich bring euch alle um!“

  • Antias tat sich schwer, in den Morgen hinein zu finden. Noch immer nicht gänzlich von den kalten Krallen seines Traumes befreit, sah er teilnahmslos auf die Kameraden. Hispo warf fluchend eine Caliga nach Fimbria, der wiederum maulte Antias an, endlich voran zu machen. Ein zwar traurig aber sichtlich lebendiger Marullus, der mit einem unverständlichen Gruß auf den Lippen in die Baracke schlurfte setzte der Groteske die Krone auf. Sehr verwunderlich war das alles. Einerseits fühlte Antias sich erquickt und entspannt wie seit langem nicht mehr, andererseits spielte sich alles um ihn herum ab wie ein Theaterstück, das er schon Hunderte von Malen gesehen aber dennoch nicht verstanden hatte. Mit dem seltsamen Gefühl noch immer zu träumen suchte er seine Ausrüstung zusammen. Nahezu unmöglich, dass er nur ein paar Stunden geschlafen hatte. Der Besuch bei Sedulus, das Auftauchen seines Bruders, der Tag mit Apolonia, der Tod des Princeps, die geschlossenen und wieder geöffneten Stadttore, Marullus’ Agonie, gehörte das noch zu seinem Traum oder war es wirklich passiert? Und was hatte das alles mit ihm zu tun? Warum war plötzlich alles so anders? Welche dunklen Pforten hatte dieser quälende Traum in ihm aufgetan?


    Umständlich begann er sich die Stiefel zu schnüren. Was machte er hier eigentlich? Schön, er war hier zuhause, diese albernen jungen Soldaten, die sich murrend oder scherzend in ihre Loricae zwängten, bildeten seine Familie, soviel war ihm mittlerweile klar, aber wie ging er mit dieser Familie um? Wie vielen Familien konnte ein einzelner Mann angehören? Da gab es den Senator und die Gens, da gab es Apolonia, da gab es die Chimären der Vergangenheit, die ihn jagten, Varus, Gisali, Aanet, schon vor Jahren verschwunden, gestorben, ertrunken. Was erwarteten die alle von ihm? Wollte er Senator Sedulus gerecht werden, musste er Apolonia vergessen, das konnte er nicht. Wollte er Apolonia wirklich gerecht werden, musste er den Dienst quittieren und sich mit ihr ein Leben fern der Castra aufbauen. Ein kurzer Blick auf sein Contubernium sagte ihm, dass er auch das nicht konnte. Die einzige Familie, der er wirklich gerecht werden konnte, waren die Kameraden. Die hatte er jede Stunde um sich. Sie hörten auf ihn, verließen sich auf ihn, sie rieten ihm und erzogen ihn, wenn es sein musste. Sie würden ihn gewiss auch irgendwie durch diesen sehr sehr merkwürdigenTag bringen.


    Nur unter Aufwendung aller Reserven an Selbstdisziplin konnte sich Antias aus dem lähmenden Gedankenstrudel befreien und fand sich mit hängendem Kopf auf seiner Pritsche sitzend wieder, den Blick trübe auf die schlampig geschnürten Caligae gesenkt. „Was treibst du denn da?“ hörte er Fimbria maulen. „Du weißt schon noch, wie man sich anzieht, oder?“ Doch, ja, das wusste er. Hatte er schon ein paarmal gemacht. Da war er ganz gut drin. Eigentlich. Gähnend schnürte er sich die Stiefel noch einmal und griff zu seinem Gürtel. Rituale hatten so etwas ungemein tröstliches. Sie vermochten selbst den ansonsten hoffnungslosesten Vollidioten das schöne Gefühl zu geben, auch mal etwas richtig zu machen. Der Gürtel. Die Ocreae. Das Focale. Die Lorica. Zwei Hände packten seine Rüstung, halfen ihm hinein. Alles so wunderbar vertraut, über nichts musste man sich ernsthafte Gedanken machen. Ganz automatisch drehte sich Antias zu Hispo um, zerrte ihm die Lorica über die Schultern wie jeden Morgen, und fuhr dann wieder andächtig fort, sich in einen Urbaner zu verwandeln. Lorica schnüren, den Schulterriemen mit dem Gladius anlegen, dann das Cingulum gürten, den Pugio darin einhängen, die Paenula überwerfen, den Cassis aufsetzen. Wer sich mit derlei Verrichtungen zufrieden gab, konnte sicher ein anständiges und erfülltes Leben führen. „Seltsamer Morgen.“ brummte Antias müde vor sich hin. „Seltsame Nacht.“ brummte Hispo nicht minder müde zurück. Allerdings. Seltsamer Morgen, seltsame Nacht. Wirklich sehr verwunderlich das alles.

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